M. Melone: Zwischen Bilderlast und Bilderschatz

Cover
Titel
Zwischen Bilderlast und Bilderschatz. Pressefotografie und Bildarchive im Zeitalter der Digitalisierung


Autor(en)
Melone, Mirco
Reihe
eikones
Erschienen
Paderborn 2018: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
291 S., 55 Abb.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harriet Scharnberg, MAGmove GmbH, Hamburg

Die Geschichte der Pressefotografie – also die „Verfertigung massenmedialer Sichtbarkeit“1 – kann als arbeitsteiliger Auswahlprozess verstanden und untersucht werden. Dabei interessieren besonders die je situativ getroffenen Entscheidungen von Fotografen, Grafikern und Fotoredakteuren über die Produktion und Präsentation sowie die Konsequenzen dieser Entscheidungen für die Existenz und Bedeutung der Bilder. Mirco Melone ist in seiner 2017 mit dem Jahrespreis der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ausgezeichneten Dissertation einen Schritt weiter gegangen. Er fragt, was Pressefotografien widerfährt, nachdem sie ihrem ursprünglichen Zweck gedient haben und ins Bildarchiv übernommen wurden – in ein Archiv kommerzieller Bildanbieter oder in eines öffentlicher Institutionen, in die die früher kommerziell genutzten und verwalteten Bestände seit den 2000er-Jahren häufiger überführt wurden. Damit rückt Melone den im Untertitel als „Zeitalter der Digitalisierung“ bezeichneten Abschnitt zwischen den 1970er-Jahren und der Gegenwart ins Zentrum seiner Betrachtung.

Das Buch hat den Charakter einer Pionierstudie, zumal Melone genau über die Auswirkungen nachdenken möchte, die der Digitalisierungsprozess auf die Wahrnehmung der Archivbestände hat. Seine These lautet, dass die Digitalisierung entscheidend zur „Geschichtswerdung“ von Pressebildern beigetragen hat. Melones Fragenkatalog richtet sich auf den Prozess der Digitalisierung, seine Akteure und historischen Hintergründe (S. 16). Den Gegenstand seiner Untersuchung bildet das Fotoarchiv des Schweizer Ringier-Verlags, bei dem der Beginn der digitalen Bildverwaltung auf 1979 datiert und das 2009 an das Staatsarchiv Aargau abgegeben wurde. Dem Autor ist dieser Bestand wohlvertraut – er bearbeitete ihn zwischen 2009 und 2011 im Rahmen eines Sicherungs- und Evaluationsprojekts (S. 21). Eine gute Wahl scheint dieses Bildarchiv nicht nur wegen der (durchaus kritisch reflektierten) Nähe Melones zu sein, sondern vor allem wegen der außergewöhnlich guten Quellenlage. Diskussions- und Entscheidungsprozesse rund um die Digitalisierung ließen sich ex post in Interviews erfragen, aber auch aus zeitgenössischen Aufzeichnungen rekonstruieren.

Nach einer Einleitung, in der die Haupt- und Nebenwege abgesteckt werden, die aus unterschiedlichen Forschungsdisziplinen zu dem untersuchten Gegenstand führen, und in der die anschließende Argumentation vorgezeichnet wird, folgen zwei je chronologisch strukturierte Teile unter den Überschriften „Vom veralteten zum historischen Pressefotoarchiv“ und „Fotografische Geschichte ‚machen‘“. Der erste Teil fokussiert auf den Wahrnehmungswandel der Archivare gegenüber den alten Pressebildern in ihrem Bestand, der zweite auf die archivarischen Aufbereitungspraktiken, die mit diesem Wandel verbunden waren.

Eine erste Digitalisierungswelle erfolgte bei Ringier früh, nämlich bereits Ende der 1970er-Jahre, als sich die Verlagsleitung entschied, eine relationale Datenbank zur Metadatenverwaltung der Fotografien aufzusetzen. Damit war zwar noch keine Digitalisierung der Bilder selbst verbunden. Aber die Datenbank trennte die physische Archivablage von der digitalen Archivverwaltung. Sie gestattete verschiedenste Filterungen des Bestandes; damit war sie der vormaligen und ausschließlichen Organisation nach Pertinenzprinzip (und innerhalb dessen vielleicht zusätzlich chronologisch) hinsichtlich Geschwindigkeit und Flexibilität deutlich überlegen. Im neuen Leitbild dieser „archivhistorischen Wende“ (S. 48) sollte das Fotoarchiv zur „Bilddokumentation“ werden. Allerdings erforderte die digitale Erfassung der Metadaten Zeit und machte es damit erforderlich, die elektronisch zu verzeichnenden Bestände zu priorisieren. Naheliegenderweise folgte dies ökonomischen und arbeitsökonomischen Kriterien – digital erschlossen wurden die neueintreffenden Bilder. Die anderen gerieten zu – häufig auch räumlich getrennt aufbewahrten – „alten Bildern“. Ein in den 1980er-Jahren neuerwachendes publizistisches und kulturgeschichtliches Interesse gerade an diesen Bildern wurde verlagsseitig früh erkannt und befördert, indem sie zu dem neuen Bildtyp „historische Pressefotografien“ deklariert wurden. Sie konnten auch als historische Symbolfotografien verwendet werden, was sie für die aufkommende „Stock Photography“ verwertbar machte. Dem bei Ringier vertretenen Anspruch, in der Dokumentation sei „alles [zu finden], was mit diesem [gesuchten] Thema zu tun hat“ (zit. nach S. 42), war damit die historische Dimension hinzugefügt.

Eine zweite Digitalisierungswelle setzte ab Mitte der 1990er-Jahre ein und umfasste dann neben der digitalen Verwaltung der Metadaten auch die Digitalisierung der Bilder selbst. Dafür, dass die Misserfolge mit der eigens entworfenen, aber technisch anfangs instabilen IT-Infrastruktur bei Ringier nicht zu einer Absage an die Digitalisierung führten, macht Melone die Altbestände verantwortlich. Mit der Sicherung angesichts materieller Zersetzungserscheinungen erhielt die Digitalisierung einen Mehrwert, der über die beschleunigte Bereitstellung der Bilder hinausging. Die alten Bilder wurden nun auch als Kulturgüter betrachtet, was „den Nährboden für die Übernahmen der Fotoarchive durch Kulturinstitutionen [bereitete], die einige Jahre später erfolgte“ (S. 111), als der Unterhaltsaufwand in keinem Verhältnis mehr zu dem Ertrag stand, der sich mit den Bildern erwirtschaften ließ.

Im zweiten Teil der Studie beschreibt Melone exemplarisch verschiedene archivarische Reorganisationspraktiken im Ringier-Archiv, die im Untersuchungszeitraum während der Digitalisierung bzw. bei der Neuausrichtung als Dokumentation vollzogen wurden. Insbesondere identifiziert er drei Praktiken, mit denen im Archiv „Geschichte gemacht“ worden sei: Zusammenstellungen thematisch orientierter Dossiers, Korrekturen der Bildbeschriftungen und Ordnungsklassifikationen sowie verschiedene Auswahlprozeduren. Melone zeigt, dass diese Praktiken als Bedeutungsaktualisierungen verstanden werden können, die letztlich jeweils im Hinblick auf die Bildvermarktung erfolgten. Ganz ähnliche Mechanismen identifiziert er bei den öffentlichen Gedächtnisinstitutionen, die überlegen, solche historischen Pressefotografien zu übernehmen. Hier sei das Staatsarchiv Aargau etwa auf Drittmittel durch Geldgeber angewiesen, die projektbezogen zur Verfügung gestellt würden oder nicht – womit die Erhaltung konkreter Bildbestände und deren zukünftige Sichtbarkeit auch von den Interessen dieser Geldgeber abhingen. Bei der Überlieferungsbildung im öffentlichen Archiv kommen hingegen andere Kriterien zum Einsatz, die Melone abschließend diskutiert. Seine implizite Frage lautet dabei, wie sich ein wenn auch quantitativ verringerter, so doch repräsentativer Zustand erreichen lasse und was es eigentlich zu repräsentieren gelte – einen bestimmten motivisch-thematischen Zuschnitt etwa oder ein kommerzielles Pressefotoarchiv einschließlich seiner unterschiedlichen Materialitäten.

Mirco Melone hat ein gut lesbares Buch verfasst, das einen überaus interessanten Einblick in die sonst nur selten detailliert rekonstruierbaren Prozesse der Bildwirtschaft verschafft. Seine Studie informiert darüber, welche Entscheidungen nach der Produktion (und Publikation) von Pressefotografien darüber befanden, ob, wie und als was solche Fotos betrachtet und bewahrt wurden. Die zahlreichen, qualitativ hervorragenden Abbildungen von Archivbildern und ihren Rückseiten aus der archivarischen Selbstdarstellung sowie von Verlagsbroschüren und Monitor-Screenshots sind ein weiteres großes Plus des Bandes. Manchmal irritieren allerdings die als Zitat gesetzten Bildunterschriften – nämlich dort, wo es sich ausweislich der abgebildeten Rückseiten nicht um wörtliche Zitate handelt (zum Beispiel Abb. 35/36, 37/38, 40/41, 48). Daher weiß die Leserschaft mitunter nicht zu beurteilen, ob die Unterschrift aus dem Archiv oder vom Autor selbst stammt – wie im Fall der von Melone unkommentierten „Mitgliederinnen“ (Abb. 39, S. 159). Problematisch wird das, wenn – in einem Kapitel über archivarische Korrekturen „originaler“ Bildbeschriftungen – die als Zitat gesetzte und damit „original“ erscheinende, aber auf der abgebildeten Bildrückseite gar nicht vorhandene Betitelung nicht nur anderen, „späteren“ gegenübersteht, sondern auch noch als ursprüngliche Darstellungsabsicht des Fotografen ausgeben wird (Abb. 40/41, S. 161).

Eine Pionierstudie muss als Aufriss Schneisen schlagen und kann dabei nicht jede Perspektive berücksichtigen. Es bleibt weiteren Studien vorbehalten, einen vergleichenden Blick auf die Bewirtschaftung von Verlagsarchiven vor und nach der Digitalisierung zu werfen. So ließe sich der spezifische Anteil der Digitalisierung bei den von Melone beschriebenen Auswahl- und Umdeutungsprozessen noch präziser fassen. Schließlich scheint sich die Deutung der Bilder in der Branche doch immer vorrangig aus ihrer Verkäuflichkeit abzuleiten – auch darauf weist Melone hin (S. 102).

Anmerkung:
1 Malte Zierenberg, Die Ordnung der Agenturen. Zur Verfertigung massenmedialer Sichtbarkeit im Pressewesen 1900–1940, in: Annelie Ramsbrock / Annette Vowinckel / Malte Zierenberg (Hrsg.), Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen 2013, S. 44–65, hier S. 49.