M. Schramm: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas

Titel
Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit 1945.


Autor(en)
Schramm, Manuel
Erschienen
Wien Köln Weimar 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg ist in den letzten 15 Jahren erstaunlich selten in Synthesen dargestellt worden nach einer Reihe von Überblicken in den 1980er- und 1990er-Jahren. Mit Ivan Berend, Barry Eichengreen, Göran Therborn und Bela Tomka sind schon die wichtigsten Namen genannt.1 Manuel Schramm von der Universität Chemnitz legt nun eine neue Synthese vor. Auf nur rund 160 Seiten gibt er einen kurzen Überblick zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Westeuropas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er teilt diese rund 70 Jahre, wie das oft getan wird, in drei ungleich lange Epochen ein: in die wenigen Jahre der unmittelbaren Nachkriegszeit, die "Hungerjahre", in die 20 Jahre des Wirtschaftsbooms von 1950 bis 1970, das "Zeitalter des Massenkonsums", und in die 30 Jahre von 1970 bis 2000, das "Zeitalter der Globalisierung", welches in manchen Abschnitten auch bis zur Gegenwart geht.

Manuel Schramm behandelt im breiten Sinn Westeuropa, zu dem er auch Südeuropa, Skandinavien und Deutschland rechnet. Er zieht bestimmte Grundthemen durch alle drei Epochen hindurch: Wirtschaftswachstum, Konsum, Migration, Sozialreformen, soziale Bewegungen, Parteien und Außenpolitik sowie Kultur. Er akzentuiert jedoch diese Themen je nach Epoche unterschiedlich. Für die unmittelbare Nachkriegszeit, die „Hungerjahre“, behandelt er den fehlenden Konsum, die Rationierung der Lebensmittel und den Schwarzmarkt, die politischen Säuberungen, weiter die erzwungene Migration, displaced persons und Flüchtlinge, und schließlich den politischen Konsens zwischen den Parteien jenseits der extremen Rechten, die Sozialreformen und die Anfänge des Kalten Krieges. Für das „Zeitalter des Massenkonsums“ befasst er sich mit Erklärungen für das außergewöhnliche Wirtschaftswachstum, mit dem Massenkonsum, Sozial- und Bildungspolitik, sozialer Schichtung, Frauenbild, Jugend und Studenten, der Entstehung der Volksparteien, Kaltem Krieg, Wertewandel und Umwelt. Beim „Zeitalter der Globalisierung“ geht es ihm um das Konzept der Globalisierung, um die neuen Gründe für das schwächere Wirtschaftswachstum und für die wirtschaftlichen Krisen, um Veränderung des Konsums und des Lebensstils, um wachsende Arbeitslosigkeit und die Krise des Sozialstaat, um Streiks und neuer sozialer Bewegung, um politischen Terrorismus, um Bildung, um Umweltbewegung und Umweltschutz, um den Niedergang der Volksparteien, um internationale Entspannung und europäische Integration, um Einwanderung und um Globalisierung der Kultur.

Diese kurze Synthese hat Vorzüge. Die sehr knappe Darstellung, knapper als alle anderen Synthesen, ist rasch zu lesen. Der Leser findet sich gut zurecht, trifft die gewohnte Epocheneinteilung und auch viele erwartete Themen an. Eine ganze Reihe von Themen sind origineller dargestellt als in vergleichbaren Synthesen: die Geschichte des Konsum, das Spezialgebiet des Autors, die Ursachen von Wirtschaftswachstum, die sozialen Bewegungen, der Aufstieg und Niedergang der Volksparteien, Migration, die Internationalisierung der Kultur. Eine interessante Auswahl von Literaturangaben zu jedem dieser Themen regt zu einer breiten, interdisziplinären Lektüre an.

Gleichzeitig sind einige kritische Punkte zu vermerken. Man fragt sich, warum sich das Buch auf das Westeuropa nach der Definition des Kalten Krieges beschränkt, nachdem diese vorübergehende innere Grenze Europas und auch Deutschlands seit fast 30 Jahren verschwunden ist und auch nur 40 Jahre bestand. Es ist auch nicht immer klar, ob es sich bei diesem Buch wirklich um eine Wirtschafts- und Sozialgeschichte handelt. Die Wirtschaftsgeschichte kommt jedenfalls nur kurz vor. Wirtschaftswachstum wird behandelt, aber auf andere Themen der Wirtschaftsgeschichte wird verzichtet. Gleichzeitig werden originäre Themen der politischen Geschichte wie das Parteiensystem und die Außenpolitik für jede der drei Epochen breit behandelt. Das Buch ist also eher eine Sozial- und Politikgeschichte. Man hätte auch gerne ein paar Worte dazu gelesen, warum der Umbruch von 1989/90 für Westeuropa nicht in die Epocheneinteilung eingeht. Auf die klugen sozialhistorischen Synthesen von Bela Tomka und Göran Therborn hätte verwiesen werden sollen. Vor allem hätte man gerne mehr darüber gewusst, was der Autor mit dieser Synthese erreichen will und was er bewusst anders machen möchte als die anderen Synthesen. Insgesamt legt Manuel Schramm eine sehr nützliche, interdisziplinär gut informierte, knappe, konzise Synthese mit einem eigenen thematischen Profil vor.

Anmerkung:
1 Ivan T. Berend, An Economic History of 20th Century Europe. Economic Regimes from the Laissez-Faire to Globalization, Cambridge 2006; Barry J. Eichengreen, The European economy since 1945. Coordinated capitalism and beyond, Princeton 2008; Göran Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt 2000; Bela Tomka, A social history of the 20th century Europe, London 2013; Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007.

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