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Titel
Vergangenheitsverhältnisse. Ein Korrektiv zum Paradigma des »kollektiven Gedächtnisses« mittels Walter Benjamins Erfahrungstheorie


Autor(en)
Denschlag, Felix
Reihe
Edition Moderne Postmoderne
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Jureit, Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

In einem Brief an Walter Benjamin vom 29. Februar 1940 verwies Theodor W. Adorno darauf, dass eine dialektische Theorie des Vergessens von einem Konzept ausgehen müsse, das Vergessen nicht als Negation begreife. Nur ein solches Verständnis entspreche den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsgewinn in der Moderne. Das Vergessen, so schrieb Adorno nach Paris, sei sowohl Grundlage für die Sphäre der Erfahrung als auch für den „reflektorischen Charakter“, dessen Erinnerung selber das Vergessen voraussetze: „Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergißt.“1

In keinem anderen Zitat spiegeln sich die Ausgangsüberlegungen, die grundlegende These wie auch die argumentative Struktur der vom Philosophen Johann Kreuzer an der Universität Oldenburg betreuten Dissertation von Felix Denschlag derart pointiert wider. Im Zentrum der Studie steht die in der Forschung bereits seit Längerem kontrovers diskutierte Frage nach der Interdependenz von Gedächtnis und Identität. Konsequent geht Denschlag im ersten Schritt auf die vor allem mit dem Namen Maurice Halbwachs verbundene Theorie des „kollektiven Gedächtnisses“ ein, unterzieht anschließend die von Jan und Aleida Assmann seit den 1980er-Jahren entwickelte und an Halbwachs anknüpfende Konzeption des „kulturellen Gedächtnisses“ einer dezidierten Kritik und wendet sich in einem zweiten, längeren Hauptteil Walter Benjamins Erfahrungstheorie zu, um mithilfe seines am Paradigma der „kontinuierlichen Diskontinuität“ geschärften Modells von Erfahrung und Identität zu einem dynamischen Ansatz identitätsstiftender Vergangenheitsverhältnisse zu gelangen.

Im Ergebnis führt diese auf fachlich hohem Niveau gehaltene, wenn auch zuweilen langatmige Argumentation zu der Erkenntnis, dass mit der konsequenten Historisierung der Verhältnisse von Gedächtnis, Erinnern und Vergessen im Sinne Benjamins die immer wieder beanspruchte identitätsstiftende und -bewahrende Funktion des kollektiven Gedächtnisses zumindest in ihrer derzeit gängigen Interpretation in Frage zu stellen ist. Die Vorstellung des Gedächtnisses als Speicher, aus dem Erinnerungen über die Zeit hinweg abgerufen werden können, entspreche dem Wunsch nach einer fixierten und folglich ahistorischen Identität, die nahezu zwangsläufig in eine statische und zunehmend normativ aufgeladene Bewahrung erinnerter Inhalte münde. Eine derart konstruierte Identität verliere den Bezug zum lebendigen Erfahrungswissen, verdingliche zu einer Art „zweiten Natur“ und steigere sich zu einem objektiv wirksamen Fetisch, „bei dem vergessen wird, dass er – wie auch immer bedingt – selbst hergestellt wurde“ (S. 256). Das vor allem in Abgrenzung zu den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann entworfene Gedächtniskonzept zielt auf eine mit Benjamin als „schöpferische Unordnung“ verstandene Erfahrungstheorie, die eine Balance zwischen aneignender Vergegenwärtigung des Vergangenen, historisch dynamischen Vergangenheitsverhältnissen und einem dem erinnernden Subjekt nicht vollständig zugänglichen Erinnerungsreservoir herstellt. Denschlags auch auf Paul Ricœur verweisende Argumentation überzeugt dabei in erster Linie durch ihre strukturelle Historizität.

Die Studie wird von einer ebenso lesenswerten wie voraussetzungsvollen Einleitung und von einem theoretisch ambitionierten Schlusskapitel gerahmt. Im ersten Teil rekapituliert der Autor die von Halbwachs seit den 1920er-Jahren erarbeitete Gedächtnistheorie, erläutert anschließend die darauf aufbauenden Umarbeitungen durch die Assmanns und formuliert mit Rückgriff auf bereits existierende Forschungsliteratur die zentralen Kritikpunkte an ihrem auf Identitätsstiftung fixierten Verständnis kollektiver Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse. Dabei legt Denschlag zu Recht besonderen Wert darauf zu zeigen, wie sich die bei Halbwachs noch wenig ausgearbeitete und diffuse Beziehung zwischen Erinnern und Identität allmählich vereindeutigt. Erst in den Studien von Jan und Aleida Assmann wird das von Halbwachs noch als gruppenbezogen entworfene Gedächtniskonzept zu einer Gesellschafts- beziehungsweise Kulturtheorie abgewandelt. Das kollektive Gedächtnis fungiert in ihrem Konzept als identitätsstiftender Mechanismus und wird „als Selbstbild-bezogenes Wissensreservoir“ verstanden, durch dessen Pflege und Weitergabe sich Gesellschaften „im Sinne kultureller Arterhaltung“2 reproduzieren.

Denschlag konkretisiert mit seiner zwar sachlich nicht neuen, aber gleichwohl präzisen Analyse dieser gedächtnistheoretischen Umarbeitung die entscheidenden Anforderungen an die als Korrektiv verstandene Erfahrungstheorie Walter Benjamins. Sie dient im Rahmen seiner Untersuchung erstens dazu, die Historizität des Verhältnisses von Gedächtnis und Identität zu berücksichtigen. Zweitens ermöglicht sie die notwendige Differenzierung zwischen Gedächtnis, Erinnern und Vergessen; drittens verweist sie auf die in erinnerungskulturellen Diskursen zumeist übersehenen „Grenzen der Konstruierbarkeit“ (S. 81) kollektiver Identitäten.

Der zweite Hauptteil der Studie widmet sich ausführlich der Erfahrungstheorie Benjamins, die dieser in kritischer Auseinandersetzung mit Henri Bergsons These vom modernen Erfahrungsverfall entwickelte. Denschlag identifiziert unter anderem in Benjamins Essay „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939) wie auch in seiner Rezeption des von Marcel Proust vertretenen Konzeptes einer „unwillkürlichen Erinnerung“ die entscheidenden Impulse für einen Erfahrungsbegriff, den Benjamin als kognitiven Aneignungsvorgang des kontemplativen Gedächtnisses entwarf und darüber hinaus mit der Maßgabe versah, dass sich Erinnerungen, die mit identitätsrelevanten Erfahrungen verknüpft sind, nicht intentional herstellen lassen. Es sei – so Benjamin 1939 – „nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann“.3 Zwar folgte Benjamin der Position Prousts nicht in jeder Hinsicht, übernahm von ihm aber das Motiv der Unverfügbarkeit. Das Vergangene war für ihn kein abgeschlossener Gegenstand, den man historistisch konservieren könne, sondern es verändere sich im Akt des Erinnerns. Aus dem Mythos einer historischen Kontinuität galt es nach Benjamin vor allem deswegen auszubrechen, um wieder zu einer die Gegenwart verändernden Erfahrung mit dem Vergangenen zu gelangen.

Denschlag rekonstruiert ebenso detailliert wie erschöpfend einen theoretischen Diskurs über die Idee einer diskontinuierlichen Geschichtsschreibung, in der dem Erinnern die Aufgabe zukommt, die nicht verwirklichten Möglichkeiten des Vergangenen, die folglich auch (noch) nicht in die historische Überlieferung eingegangen sind, als Erfahrungspotentiale verfügbar zu machen. Erinnern/Vergessen steht somit in einem Spannungsverhältnis zwischen aktiver Konstitution und historischer Vorgängigkeit. Dass das, was für die identitätsrelevante Erinnerung notwendig ist, weit über den Bereich des willentlich Abrufbaren hinausgeht, gehört zu den zentralen Elementen eines reflexiven Identitätsverständnisses, für das Denschlag nachdrücklich votiert. Nicht immer behält der Autor sein argumentatives Ziel dabei konsequent im Auge, doch wer sich als Leser/in erfolgreich durch Freuds Modell des psychischen Apparates, Lukács’ Verdinglichungskonzeption und die diversen Varianten zur Figur des Sammlers gearbeitet hat, kann nicht umhin festzustellen, dass ein so weit gespannter Bogen am Ende vor allem deswegen lohnt, weil sich damit explizit eine theoretisch fundierte Kritik an gegenwärtigen Erinnerungs- und Gedächtnisdiskursen verbindet.

Felix Denschlag liefert mit seiner Studie wichtige Impulse für eine seit einigen Jahren geführte Kontroverse über die Interdependenz von historischem Erinnern, kollektiver Identität und politischer Legitimation, in der mittlerweile die begrifflichen wie theoretischen Widersprüche der derzeitig gängigen Gedächtniskonzeptionen offen zutage treten. Ein Verständnis, das die Vergegenwärtigung von Vergangenem als „dauerhafte Memoralisierung“, als konservierende „Vergangenheitsbewahrung“ sehen will und die „Selbstverpflichtung zum Erinnern“ einem „zivil-religiösen Bekenntnis“4 gleichsetzt, entspricht genau den Entfremdungstendenzen, die Denschlag in seiner Studie anhand der Benjamin’schen Geschichtstheorie beleuchtet. Was geschieht, wenn durch stereotypes Erinnern und permanentes Wiederkäuen „das Lebendige zu Schaden kommt“5, wie Friedrich Nietzsche es 1874 formulierte, ist gegenwärtig ebenso augenscheinlich wie verhängnisvoll: Die Flucht in eine „normative Rhetorik des Erinnerns“ (Volkhard Knigge) steht dann für den Versuch zu retten, was nicht mehr zu retten ist.

Anmerkungen:
1 Theodor W. Adorno / Walter Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt am Main 1994, S. 417.
2 Aleida und Jan Assmann, Schrift, Tradition und Kultur, in: Wolfgang Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“, Tübingen 1988, S. 25–48, Zitat S. 28.
3 Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire [1939], in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 605–653, Zitat S. 610.
4 Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 201f. Siehe dazu auch die Rezension von Nina Leonhard, in: H-Soz-Kult, 03.02.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20982 (14.01.2018).
5 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2., durchges. Aufl. München 1988, S. 250.