P. Deutschmann: Allegorien des Politischen

Cover
Titel
Allegorien des Politischen. Zeitgeschichtliche Implikationen des tschechischen historischen Dramas (1810–1935)


Autor(en)
Deutschmann, Peter
Reihe
Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge. Reihe A: Slavistische Forschungen 83
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vlasta Reittererova, Wien

Der Autor schreibt in seiner „Vorbemerkung“: „Das historische Drama als Genre ist stärker als alle anderen theatralen Gattungen mit den Prozessen der Nationswerdung verbunden, stellt es doch Momente der Geschichte vor Augen, die als bedeutsam für die Geschicke der jeweiligen Nation angesehen werden.“ (S. 7f.) Er bekennt sich dazu, dass er seine Arbeit ursprünglich aufgrund von zwei unterschiedlichen politischen Kontexten konzipiert hatte, „im Fall der tschechischen Kultur [in] deren Eingebundenheit in die supranationale Habsburgermonarchie, im Fall der russischen Kultur deren Eigenstaatlichkeit“. Diese beiden Themen sollten „den Hintergrund für den Vergleich historischer Dramen tschechischer und russischer Provenienz liefern“. Der Autor hat dann jedoch erkannt, dass ein solches Doppel-Thema zu breit – und meiner Meinung nach auch zu heterogen – ist und sich daher auf das tschechische (ernste) Drama beschränkt.

Allerdings werden dabei zwei Momente in der Entwicklung der tschechischen Kultur (als Nationalkultur) beiseitegelassen: die Oper, die besonders für die Jahre um 1860–1880 eine sehr wichtige Rolle spielte, und das unterhaltende Genre, das nur einige Male erwähnt, doch nicht näher betrachtet wird, obwohl seine Auswirkung auf das Publikum viel größer war als die des ernsten Dramas.

Ich erlaube mir im Folgenden einige kritische Anmerkungen: In der „Einleitung: Themenstellung – Relevanz – Ergebnisse“ (S. 15) führt der Autor in Kursivschrift das tschechische Wort „obrození“ ohne dessen deutsches Äquivalent (Wiedergeburt) an, das erst viel später im Text erscheint. Auch danach werden manchmal tschechische Worte wie selbstverständlich verwendet; das Buch ist jedoch sicher nicht nur für Bohemisten (Slavisten) bestimmt. Ein weiteres Problem stellt der Unterschied zwischen den Begriffen „böhmisch – tschechisch“ dar. Das Tschechische hat kein eigenes Wort für „böhmisch“ entwickelt, im Allgemeinen ist das „Böhmische“ als landesbezogener (für die zweisprachigen Gebiete) Begriff zu verstehen. Und so kann ein mit der böhmischen bzw. tschechischen Geschichte und Kulturentwicklung nicht vertrauter Leser über Stellen wie: Čestmír steigt „zum berühmten böhmischen Kämpfer“ auf (S. 186), doch er „betont immer explizit die Einheit des tschechischen Gebiets“ (S. 189) verwirrt werden. Zur Thematik des (österreichischen) Landespatriotismus und des (tschechischen) Nationalpatriotismus würde es gehören, dass auch die deutschsprachigen Böhmen ab den 1840er-Jahren nach einem eigenen, „nationalen“ Theater strebten. Der pauschalisierenden Meinung des Autors, dass „die tschechische Theaterwissenschaft – wohl aufgrund ihrer sozialhistorischen bzw. marxistischen Basis, die bis in die 1920er Jahre zurückreicht – immer wieder auf die Bezüge zur Entstehungszeit von historischen Dramen hingewiesen“ habe (S. 29) ist entgegen zuhalten, dass von einer „marxistischen Basis“ in der Zwischenkriegszeit keine Rede sein kann; die daraus abgeleitete Behauptung, dass „der Rückgriff auf die Hussitenthematik […] umgehend mit der aktuellen Situation der Tschechen assoziiert [wurde]“ steht da in einem falschen Zusammenhang.

Der erste, allgemeine Teil der Arbeit, ist theoretischer Natur und bezieht sich nicht unbedingt nur auf das tschechische Drama. Der zweite umfasst ein Korpus von ausgewählten Dramen und ihre Analysen. Der Autor hat eine sehr große Menge von Literatur – einschließlich der neuesten – herangezogen und verarbeitet. Er hat nur im Druck erschienene Werke aufgenommen (ob sie aufgeführt worden waren oder nicht) und beschäftigt sich bei seinen Analysen lediglich mit ihrer Eigenschaft als fixiert vorliegende Texte, deren Inhalt er wiedergibt und hinsichtlich ihrer politischen (ideologischen) Relevanz bewertet. Der Zensurpraxis ist lediglich ein Exkurs gewidmet, obwohl gerade sie für die politischen Implikationen der Werke wichtig wäre. Ein weiterer gilt den Wettbewerben für historische Dramen aus der slavischen Geschichte, einem Versuch, die Dichter zu neuen Werken zu animieren. Einen wertvolles Teil des Buches stellen die Abschnitte „Der kulturgeschichtliche Kontext des tschechischen Dramas“ (S. 124–130) und „Tschechisches Theater vor 1848“ (S. 130–142) dar, eine Zusammenfassung des Prozesses der Emanzipierung der tschechischen Sprache und Literatur und der daraus resultierenden Bestrebungen nach eigenen, tschechischen dramatischen Werken.

Auf Fragen wie die der Wirksamkeit auf der Bühne, der Probleme für die Schauspieler (meist Dilettanten; in den tschechischen Stücken sind auch deutschsprachige Schauspieler aufgetreten) ist der Autor nicht eingegangen, ebenso auch nicht auf die literarischen Qualitäten der Texte. Leider hat er auch auf die Rezeption der Theaterstücke durch das Publikum und die Kritik und damit auf eine für die Aufhellung von deren zeitgebundenen Aspekten unentbehrliche Komponente verzichtet. Der Autor hat z.B mit der Ausgabe des „Soběslav“ von J. J. Kolár aus dem Jahre 1862 gearbeitet; der Erstdruck des Stückes stammt aus 1826, es wurde jedoch erst 1839 uraufgeführt, und zwar in der Bearbeitung J. K. Tyls; ein Vergleich hätte sich hier sicher gelohnt. Die zeitgenössische Kritik war ja an der Gestaltung der Dramen gewissermaßen mitbeteiligt, wie jene Texte bezeugen, die erst nach der Uraufführung (oder später) vom Autor bearbeitet und als definitive Fassung dem Druck übergeben worden waren.

Das tschechische Theater hat sich nicht isoliert und unabhängig vom deutschsprachigen Theater entwickelt. Deren Zusammenhängen hat sich die tschechische Theaterwissenschaft erst in den letzten ca. 30 Jahren zu widmen begonnen, ohne dass der Autor auf diese Thematik eingeht, was z.B. in einigen Fällen bedauerlich ist, etwa für „Břetislav První“ von J. N. Štěpánek und für das gleichnamige Stück von C. E. Ebert, oder noch mehr für den „Čestmír“ von Ebert bzw. J. K. Tyl (beide 1835), wegen der verschiedenen Handelsmotive des Titelhelden: Für Čestmír bei Tyl ist es das weibliche Objekt seines Begehrens, bei Ebert seine Beziehung zu seinem Sohn. Auch die Rolle der Wahrsagerin (bei Ebert sind es sogar deren zwei) in beiden Dramen wäre interessant zu analysieren, ebenso wie etwa die Funktion der sprechenden Namen der Figuren (Čestmír – Ehrenfried, Neklan – Nichtkämpfer). Obwohl der Autor schreibt, dass er die Fabel der einzelnen Stücke möglichst genau nacherzähle, weil „die Bekanntschaft mit den Dramentexten keineswegs vorausgesetzt werden“ könne (S. 47), wäre eine Übersicht der Personenbesetzung, Angabe von Ort und Zeit der Handlung sowie die jeweilige Aufteilung in Akte (Szenen, Bilder) sehr hilfreich gewesen. Die graphischen Darstellungen (Konstellationen der handelnden Personen; Aufbau des dramatischen Konflikts und seine Lösung) nehmen nicht immer alle Personen auf, auch ihre Funktionen/Personalien bleiben aus, und die Fabel erscheint dann nicht ganz verständlich; so taucht in jener von „Záviš z Falkenštejna“ V. Háleks unvermittelt ein Beneš (= ein Bruder von Milota z Dědic) auf. Einige Figuren kommen in den Inhaltsangaben überhaupt nicht vor, z.B. der Sänger Radovan in Tyls „Čestmír“, dessen Gesang das Stück umrahmt (am Ende mit einem Chor), und der als Prolog und Epilog als historischer „Barde“ seine Funktion hat. Auch die böhmisch-tschechische Geschichte muss dem deutschen Leser nicht von vornherein geläufig sein; eine Vorstellung der historischen/mythischen Figuren hätte der Arbeit daher zum Vorteil gereicht. Ein Register der in den Dramen auftretenden Personen (und deren Querverbindungen) wäre nicht unangebracht gewesen.

Große Anerkennung verdient die sorgfältige Wiedergabe der tschechischen Titel, Namen und Zitate. Kleine Abweichungen in den deutschen Übersetzungen sind unerheblich, aber z.B. ist „Zvíkovský rarášek“ nicht „Der Bengel von Zvíkov“, sondern „Der Kobold von Zvíkov“, die Personen in Stanislav Loms „Svatý Václav“ heißen Homole und Stuna (nicht Homola und Struna), das Stück von Julius Zeyer heißt „Doňa Sanča“ (nicht „Doňa Šanca“). Und Leoš Janáček war nicht Schüler von Antonín Dvořák (S. 316, Anm. 321).

Trotz aller dieser Einwände ist die vorliegende Publikation eine eindrucksvolle Leistung und bietet ein umfassendes Material für die weitere Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte des tschechischen Dramas im Wandel der Zeiten.

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