L. Gilhaus (Hrsg.): Die Alexanderhistoriker

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Titel
Fragmente der Historiker: Die Alexanderhistoriker (FGrHist 117-153). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert


Herausgeber
Gilhaus, Lennart
Reihe
Bibliothek der griechischen Literatur 83
Erschienen
Stuttgart 2017: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
VIII, 515 S.
Preis
€ 218,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Müller, Seminar für Alte Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Dieser Band aus einer Reihe zu Historiographenfragmenten in der „Bibliothek der griechischen Literatur“ mit der deutschen Übersetzung der Fragmente der verlorenen griechischen Alexanderhistoriker hat die grundsätzliche Problematik – neben der einsprachig deutschen Anlage –, dass es mit Brill’s New Jacoby (BNJ) bereits das maßgebliche Projekt zu den Fragmenten griechischer Historiographen gibt, das ausführliche Kommentare auf aktuellem Forschungstand, teilweise Neuzuschreibungen, Überarbeitungen der griechischen Texte und englische Übersetzungen beinhaltet.1 Von daher könnte die Frage nach der zwingenden Notwendigkeit des vorliegenden Bands aufkommen. Lennart Gilhaus ist sich dieser Problemlage, die nicht in seiner Verantwortung liegt, wohl bewusst und er geht damit vorbildlich, instruktiv und souverän um, indem er immer wieder auf die BNJ-Artikel zu den Alexanderhistoriographen verweist und auch deren Neubearbeitungen berücksichtigt. Sein Ziel ist es, erstmals eine deutsche Übersetzung aller in einem Band vereinten Fragmente von Alexanderhistoriographen als Komplement zu BNJ vorzulegen (S. VII).

Die knapp gehaltene, kritische Einführung (S. 1–6) zu den Autoren und ihrem sozio-politischen Hintergrund ist differenziert, informativ und fundiert. Gilhaus benennt die prägnanten Brennpunkte der Debatten, enthält sich aber in neutraler Sachlichkeit jeglicher Spekulation und verweist auf die Notwendigkeit einer kritischen Analyse der Fragmente der Primärautoren, die jeweils ihr eigenes Alexanderbild formten (S. 6). Im Fall von Kleitarchos (BNJ 137) befürwortet er die neuere Spätdatierung in die Zeit von Ptolemaios IV. (S. 4).

Es folgen die Übersetzungen der Fragmente der Alexanderhistoriographen (S. 7–356), denen jeweils eine kurze Erläuterung zu Person und Werk vorangestellt ist. Diese Informationen sind ebenfalls fundiert, pointiert und von ausgewogener Sachlichkeit. Nur im Fall von Ephippos (BNJ 126) und Nikoboule (BNJ 127) mit ihrer massiven Negativtopik bezüglich Alexanders Symposien und den angeblichen makedonischen Trink(un)sitten stellt sich die Frage, ob Gilhaus’ These (im Anschluss an Prandi und Sheridan), es sei keine kritische Einstellung gegenüber Alexander zu erkennen, aufrecht erhalten werden kann (S. 92 und 96).2 Dies betrifft auch Polykleitos von Larisa (BNJ 128), dessen F 1 eine ähnlich deutliche Topik hinsichtlich Trunksucht und Depravationsverhalten an Alexanders Hof zeigt. Seine Tendenz hätte noch etwas stärker überdacht werden können; Waldemar Heckel hält ihn etwa durchaus für eine feindselige Stimme.3 Grundsätzlich hätte man auch überlegen können, ob man noch Anaximenes von Lampsakos (BNJ 72) in die Reihen der Alexanderhistoriographen aufnimmt.

Sehr nützlich ist die beigegebene Übersicht zu den antiken, in den Fragmenten erwähnten Maß- und Gewichtseinheiten sowie Längen und Trockenhohlmaßen (S. 461f.). Man kann damit etwa die Topik entschlüsseln, wenn Ephippos behauptet, Proteas habe zweimal, anscheinend auf Ex, ein Trinkgefäß mit dem Füllgehalt von 1 Choe (= 3,24 Liter) Wein geleert, oder der Sieger eines makedonischen Trinkwettbewerbs in Indien habe 4 Choen Wein (= 12,96 Liter) getrunken. Bei den Makedonen gingen die Griechen zudem immer von ungemischtem Wein aus.4

Teile des Glossars zu den „Titeln im Alexanderreich“ im Anhang sind nicht auf dem aktuellen Forschungsstand. So gibt es zum Amt des Chiliarchen, das durch Alexander in die makedonischen Strukturen eingeführt und erstmals an Hephaistion verliehen wurde, aktuell eine rege Debatte mit unterschiedlichen Vorschlägen zu den – de facto unbekannten – Kompetenzen, die nicht berücksichtigt wird.5 Die Erklärung, ein Chiliarch sei „Befehlshaber über 1000 Mann“ (S. 462) greift daher für das makedonische Reich unter Alexander zu kurz. Unzutreffend ist auch die Definition, die Hetairen seien selbst vom argeadischen Herrscher ausgewählt worden. Dies mag die Wunschvorstellung jedes Argeaden gewesen sein, die aber an der Realität meist vorbeiging. Es handelte sich um die einflussreichsten Mitglieder der Führungsschicht, die oftmals schon unter dem Vorgänger aufgestiegen waren oder den traditionell wichtigsten Familien angehörten und nicht per se seine Vertrauten waren, die er in nächster Umgebung haben wollte. Das Beispiel des Alexander Lynkestes, der dank der Protektion durch seinen Schwiegervater Antipatros in eine einflussreiche Position kam, obgleich er sogar der Beteiligung an der Ermordung Philipps verdächtigt worden war, kann diese Problematik verdeutlichen.6 Zuletzt ist der Begriff „Pagen“ für die (basilikoi) paides, die Söhne aus den hochrangigen makedonischen Familien, die am Hof als künftige Funktionäre erzogen wurden, aufgrund der anachronistischen Konnotation in Kritik geraten und sollte besser nicht mehr gebraucht werden7, ebenso wenig wie der überkommene Terminus „Reichsverweser“ für Perdikkas nach Alexanders Tod (S. 507).

Die Anmerkungen zu den Fragmenten (S. 357–459) sind auf pointierte Art informativ. Bei zwei Hauptstreitfragen fällt indes auf, dass nicht der aktuelle Forschungsstand reflektiert ist. So entspricht die Darlegung, Alexander habe mit der Einführung des persischen Begrüßungszeremoniells der Proskynese für alle Kulturen an seinem Hof gleichermaßen den Herrscherkult angestrebt (S. 363), weder aktueller communis opinio (wonach es um eine protokollarische Vereinheitlichung der Begrüßung ging) noch den Intentionen des persischen Ritus. Der achaimenidische Großkönig wurde nicht als lebender Gott von seiner Reichsbevölkerung verehrt, sondern galt als der Auserwählte des höchsten Gottes Ahuramazda, wie in den persischen königlichen Inschriften belegt ist. Für die These, Alexander habe die Proskynese dennoch eigenmächtig als Vergöttlichungsritus für sich interpretiert, liefern die widersprüchlichen Quellenaussagen keine ausreichenden Belege, zumal unklar ist, welchen späteren Überarbeitungen die primären Berichte wie von Chares (BNJ 125) unterlagen. Gerade die Erwähnung einer nicht näher konkretisierten Feuerstelle (hestia), vor der getrunken wurde, bevor man vor Alexander die Proskynese vollzog (Plut. Alex. 54,3–4), beweist keine Kulthandlung geschweige denn, dass es sich bei dieser Feuerstelle um das persische Königsfeuer gehandelt habe.8 Ebenso kritisch ist die überkommene Vermutung zu sehen, dass sich Alexander in der Oase Siwa seine „Ammonssohnschaft“ bestätigen lassen wollte (S. 370). Erstens war Siwa einer der Knotenpunkte in dem Netz der Handelsrouten in der libyschen Wüste, über die der Handel mit Luxuswaren aus Nubien und Produkten aus der Kyrenaika lief. Diesen handelspolitischen Raum wollten die Makedonen kontrollieren und sich dafür mit den Oasenherrschern, in Personalunion Oberpriestern des Amun/Ammon, gut stellen. Dies war der Zweck des Zugs.9 Siwa war eine Wegstation bei dieser Kontrolletablierung des Handelsraums, zu dem etwa auch die Oase Bahrija gehörte, in der ebenfalls Stiftungstätigkeit unter Alexanders Namen belegt ist. Kallisthenes fokussierte aus literarischen Gründen auf Siwa und Ammon (bekannt durch Herodot und Pindar). Zudem machte er die formale Begrüßung Alexanders durch die Priester als neuer ägyptischer Pharao, zu dessen traditioneller fünfstelliger Titulatur auch „Sohn des Amun-Re“ gehörte, zum eigentlichen Orakelspruch.10 Danach ist von einer großen Bedeutung Ammons bei Alexander nichts mehr zu sehen, bis er für die Bewilligung des Heroenkults des verstorbenen Hephaistion 324 eine kooperative Priesterschaft benötigte.

Es folgt eine kurze Liste mit häufig verwendeter Literatur (S. 464) und ein ausführlicheres Literaturverzeichnis (S. 465–481). Angesichts der Überfülle an Publikationen zu Alexander erscheint es vermessen, an der Auswahl etwas kritisieren zu wollen, die zwangsläufig begrenzt und fokussiert sein muss und grundsätzlich einen recht guten Überblick bietet. Man stellt sich aber teilweise doch die Frage nach den Auswahlkriterien, wenn etwa Fritz Schachermeyr zitiert wird, nicht aber Miltiades Hatzopoulos oder Elias Koulakiotis. Wünschenswert wäre zudem die Berücksichtigung folgender wichtiger Publikationen gewesen: von Waldemar Heckel zu Marsyas von Pella, von Frances Pownall zu griechischen Topoi bezüglich der makedonischen Symposia und zu Kallisthenes, von Moritz Böhme zur Darstellung der Perser bei den primären Alexanderhistoriographen sowie von Marek Jan Olbrycht zu Persien unter Alexander.11 Abgerundet wird der Band durch einen Index der Orts- und Personennamen (S. 483–515).

Gilhaus legt das Werk so an, dass es komplementär zu den Artikeln zu den Alexanderhistoriographen in BNJ benutzt werden kann, was eine gewinnbringende Lösung ist. Es handelt sich um eine nützliche, informative und hilfreiche Publikation. In diesem Sinne sei das ausgewogene Buch allen an der Alexandergeschichte und ihrer spezifischen Quellenproblematik Interessierten ans Herz gelegt.

Anmerkungen:
1 siehe: http://referenceworks.brillonline.com/browse/brill-s-new-jacoby (22.04.2018).
2 Luisa Prandi, Ephippos of Olynthos (126), in: BNJ, http://brill-s-new-jacoby/ephoros-of-olynthus-126-a126 (16.04.2018); Brian Sheridan, Nikoboule (127), in: BNJ, http://brill-s-new-jacoby/nikoboule-127-a127 (16.04.2018).
3 Waldemar Heckel, Who’s Who in the Empire of Alexander the Great, Oxford 2006, S. 225.
4 BNJ 126 F 3; BNJ 125 F 19a–b.
5 Sabine Müller, In Abhängigkeit von Alexander? Hephaistion bei den Alexanderhistoriographen, in: Gymnasium 118 (2011), S. 429–456, hier 440–441; Alexander Meeus, Some Institutional Problems Concerning the Succession to Alexander the Great, in: Historia 58 (2009), S. 287–310, hier 302–303, 308 und 310; Marek Jan Olbrycht, Macedonia and Persia, in: Joseph Roisman / Ian Worthington (Hrsg.), A Companion to Ancient Macedonia, Oxford 2010, S. 342–369, besonders 360; Pierre Briant, Alexander the Great and his Empire, Princeton 2010, S. 74.
6 Arr. an. 1,25,1–2; Plut. mor. 327 C; Iust. 11,2,2–3. 7,1–2; Curt. 7,1,6–7. Vgl. Waldemar Heckel, Alexander’s Marshals. A Study of the Makedonian Aristocracy and the Politics of Military Leadership, London 2016, S. 22–24.
7 Elizabeth D. Carney, The Conspiracy of Hermolaus, in: Classical Journal 76 (1980), S. 223–231. Vgl. Elizabeth D. Carney, The Role of the basilikoi paides at the Argead Court, in: Tim Howe / Jeanne Reames (Hrsg.), Macedonian Legacies, Claremont 2009, S. 145–164.
8 Federicomaria Muccioli, Classical Sources and Proskynesis. History of a Misunderstanding, in: Cinzia Bearzot / Franca Landucci (Hrsg.), Diodoro e l’altra Grecia: Macedonia, Occidente e Hellenismo, Milano 2016, S. 41–60; Sabine Müller, Alexander, Makedonien und Persien, Berlin 2014, S. 76–77; Hugh Bowden, On Kissing and Making Up: Court Protocol and Historiography in Alexander the Great’s „Experiment with Proskynesis“, in: Bulletin of the Institute of Classical Studies of the University of London 56 (2013), S. 55–77; Robert Rollinger, Herrscherkult und Königsvergöttlichung bei Teispiden und Achaimeniden. Realität oder Fiktion?, in: Linda-Marie Günther / Sonja Plischke (Hrsg.), Studien zum vorhellenistischen und hellenistischen Herrscherkult, Berlin 2011, S. 11–54, besonders 48.
9 Sabine Müller, Kambyses II., Alexander und Siwa: Die ökonomisch-geopolitische Dimension, in: Carsten Binder u.a. (Hrsg.), Diwan. Untersuchungen zu Geschichte und Kultur des Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeerraums im Altertum. FS Josef Wiesehöfer, Duisburg 2016, S. 223–245, besonders S. 224–233; Klaus P. Kuhlmann, Das Ammoneion, Mainz 1988, S. 33–34 und 93–96 (der letztere Titel wird indes im Literaturverzeichnis aufgeführt).
10 Hugh Bowden, Alexander in Egypt: Considering Egyptian Evidence, in: Philip Bosman (Hrsg.), Alexander in Africa, Pretoria 2014, S. 28–55, besonders S. 47–48; Francisco Bosch-Puche, The Egyptian Royal Titulatury of Alexander the Great I: Horus, Two Ladies, Golden Horus, and Throne Names, in: Journal of Egyptian Archaeology 99 (2013), S. 131–154, hier S. 140–141; Andrew Collins, The Divinity of Alexander in Egypt: A Reassessment, in: Pat Wheatley / Robert Hannah (Hrsg.), Alexander and His Successors. Essays from the Antipodes, Claremont 2009, S. 179–205.
11 Waldemar Heckel, Marsyas of Pella, Historian of Macedon, in: Hermes 108 (1980), S. 444–462; Frances Pownall, The Symposia of Philip II and Alexander III of Macedon: The View from Greece, in: Elizabeth D. Carney / Daniel Ogden (Hrsg.), Philip II and Alexander the Great. Father and Son, Lives and Afterlives, Oxford 2010, S. 55–65; Frances Pownall, Callisthenes in Africa: The Historian’s Role at Siwa and in the Proskynesis Controversy, in: Philip Bosman (Hrsg.), Alexander in Africa, Pretoria 2014, S. 56–71; Moritz Böhme, Das Perserbild in den Fragmenten der Alexanderhistoriker, in: Michael Rathmann (Hrsg.), Studien zur antiken Geschichtsschreibung, Bonn 2009, S. 161–186; Marek Jan Olbrycht, Curtius Rufus, the Macedonian Mutiny at Opis and Alexander’s Iranian Policy, in: Jakub Pigon (Hrsg.), The Children of Herodotus. Greek and Roman Historiography and Related Genres, Newcastle 2008, S. 231–252; Marek Jan Olbrycht, „An Admirer of Persian Ways“: Alexander the Great’s Reforms in Parthia-Hyrcania and the Iranian Heritage, in: Touraj Daryaee u.a. (Hrsg.), Excavating an Empire. Achaemenid Persia in Longue Durée, Costa Mesa 2014, S. 37–61.