M.H. Geyer: Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit

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Titel
Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit. Oder: Wer war Julius Barmat?


Autor(en)
Geyer, Martin H.
Erschienen
Anzahl Seiten
589 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Zimmermann, Neuere und Neueste Geschichte, Technische Universität Darmstadt

„Wer war Julius Barmat?“ Auf diese Frage im Titel der Monographie erhält der/die Leser/in nach etwa 450 Seiten die Antwort, dass er „ein bekannter Unbekannter [bleibt]“ (S. 451). Doch es ist gar nicht das Ziel Martin H. Geyers, eine lückenlose Biografie des aus der Ukraine stammenden jüdischen Unternehmers, der im Zentrum eines der großen Korruptionsskandale der Weimarer Republik stand, zu schreiben. Dies wäre aufgrund der nur in geringer Zahl überlieferten Ego-Dokumente auch nahezu unmöglich. Geyer untersucht vielmehr anhand der Person Barmats verschiedene „Leitthemen, die in zentrale Felder der politischen, sozialen und kulturellen Konfliktgeschichte der Zwischenkriegszeit führen“ (S. 18). Wie unter einem Brennglas führt der Fall Barmat in zeitgenössische Debatten über Demokratie, Kapitalismus, Korruption, moralisches und wirtschaftliches Handeln sowie Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Den bereits im Titel treffend benannten Zusammenhang von Kapitalismus und politischer Moral untersucht Geyer nicht nur anhand von Diskursen, sondern auch an „konkrete[n] Handlungspraxen“ (S. 19). Barmat wird dabei immer wieder als „Grenzgänger“ betrachtet (S. 20), der in seinem Leben nicht nur geographische Grenzen überschritten hat, sondern auch diejenigen moralischen Handelns sowie wirtschaftliche und rechtliche Grenzen.

Damit reiht sich Geyers Buch in Forschungen zur politischen und ökonomischen Kulturgeschichte ein und schließt an die Forschungstrends zu Skandalen und Skandalisierung sowie zu Demokratiekritik und der Geschichte des Kapitalismus an. Anders als die meisten jüngeren Arbeiten zu Barmat konzentriert Geyer sich nicht allein auf den Skandal 1925, die damit verbundenen Korruptionsdebatten oder die politische Nutzung des Skandals durch rechte Parteien.1 Vielmehr verfolgt er die Geschichte ihres Protagonisten über den gesamten Zeitraum der Zwischenkriegszeit und setzt sie in einen transnationalen Kontext.

Im ersten Kapitel werden die Ankunft Julius Barmats in Deutschland sowie die Zeit davor näher betrachtet. Bereits während des Ersten Weltkrieges schaffte es der Unternehmer, insbesondere durch Lebensmittelgeschäfte zu Wohlstand zu gelangen, und sah sich dadurch dem Vorwurf ausgesetzt, ein Kriegsgewinnler zu sein. Zudem wurde seine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, mit Deutschland und dem revolutionären Russland während des Krieges öffentlich problematisiert. Bereits die Visumsvergabe an Barmat und seine Familie 1919 zog erste Skandalisierungsversuche nach sich. Diese verstärkten sich 1920, als Barmat mit dem Sklarz-Skandal – einem anderen Korruptionsskandal, der einem sogenannten „Ostjuden“ zugeschrieben wurde – in Verbindung gebracht wurde. Dieses Kapitel widmet sich neben „politischen und ideologischen Fragen“ (S. 25) insbesondere der problematischen Versorgungslage während und nach dem Krieg als zentralem Faktor dieser frühen Skandalisierungsversuche.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Zeit der Hyperinflation und der Währungsstabilisierung 1923/24. In dieser Extremsituation waren die Grenzen zwischen legalem und illegalem Handeln für Unternehmer häufig nicht mehr klar zu erkennen, was Barmat zu nutzen wusste und ihn zum „Grenzgänger des Kapitalismus“ machte (S. 88). Dieses Kapitel gibt besondere Einblicke in den zeitgenössischen Diskurs über Korruption, Wucher und Spekulation. Die zu dieser Zeit etablierten Verbindungen zu Banken und Kreditgebern bildeten die Grundlage des Skandals von 1925. Dessen Verlauf und Einordnung ist Gegenstand des anschließenden Kapitels. Geyer betont, dass sich der Fall zwar an einer einzelnen Person aufhing, sich die Skandalisierungsversuche aber vielmehr gegen die Republik richteten und im Kontext des politischen Kampfes zu sehen seien, der insbesondere durch die Parteien an den politischen Rändern auf verschiedenen Ebenen (Presse, Politik, Justiz) gegen die Republik geführt würde.

Den Gegenmaßnahmen der Anhänger der Republik widmet sich Geyer im folgenden Kapitel. Als Reaktion versuchten sie die Skandalisierer zu skandalisieren, um zu zeigen, dass Parteien wie die DNVP ihrerseits in Korruptionsaffären verwickelt waren. Juristen, Wirtschaftsexperten sowie Politiker und Presse des sozialdemokratischen und liberaldemokratischen Lagers waren sich darin einig, dass die transgressiven Qualitäten des Falls Barmat mit den Unwägbarkeiten der nachrevolutionären Jahre und den Folgen der massiven Geldentwertung zu erklären seien – dies alles sei nun aber überwunden. Geyer wertet den Barmat-Prozess und das 1928 gefällte Urteil denn auch als Versuch, „einen Schlußstrich unter eine scheinbar vergangene, ‚verkehrte Welt‘ von Revolution und Hyperinflation mit ihren Exzessen und ihrer Verkehrung der Werte zu ziehen“ (S. 228). Kommunisten und radikale Mitglieder der Deutschnationalen sahen in dem Urteil hingegen nur einen Versöhnungsversuch der politischen Lager.

Fiktionalen Auseinandersetzungen mit den Themen Korruption und Kapitalismus vor der Folie des Barmat-Skandals widmet sich das folgende Kapitel anhand der Theaterstücke „Der Kaufmann von Berlin“ von Walter Mehring und „Mahagonny“ von Bertolt Brecht. Vor allem Mehring nahm mit seinem Stück, in dessen Zentrum der ostjüdische Kaufmann Kaftans steht, der nach Berlin zog und dort erfolgreich Geschäfte macht, dezidiert Bezug auf die Geschichte Barmats. Geyer kann überzeugend die Grenzen der Repräsentation zeigen: Im Vergleich zu „Mahagonny“, welches die Themen Kapitalismus und Inflation in einem universaleren Kontext behandelte, schien Mehrings Stück noch zu nahe an den Zeitgeschehnissen rund um die mit dem Namen Barmat, Iwan Kutisker und Jakob Michael verbundenen Korruptionsfälle zu sein und somit alte „Wunden auf[zureißen]“ (S. 240). Anders als „Mahagonny“ scheiterte das Stück. Es konnte nicht die erwünschte Empathie in Bezug auf den Protagonisten erwecken, sondern verstärkte vielmehr den Eindruck antisemitischer Ressentiments.

Im anschließenden Kapitel behandelt Geyer den sogenannten Aufklärungsradikalismus der Rechten und den damit verbundenen Korruptionsdiskurs. Korruption wurde hierbei unter anderem als Argument zur Herrschaftskritik genutzt und diente dem Angriff auf die Republik. Allen Autoren gemein war außerdem der antisemitische Grundton ihrer Argumente. Ausführlich analysiert Geyer daraufhin die Jahre 1930 und 1931, als Wirtschafts- und Bankenkrise die Weimarer Republik erschütterten. Im Fokus stehen hier insbesondere die politischen und wirtschaftlichen Forderungen völkischer und nationalsozialistischer Antisemiten, die im Zuge der Korruptionsskandale um Barmat, Michael und Kutisker gestellt wurden. Hierzu gehörten unter anderem Maßnahmen wie die Enteignung von Juden oder die „Reichsfluchtsteuer“, die sich vor allem gegen den in den Niederlanden lebenden Michael richtete. Diese Maßnahmen zielten darauf ab, die sogenannten „Ostjuden“ zu schädigen und den sogenannten „Barmat-Geist“ zu beseitigen.

Die Kapitel 8 und 9 zeigen, wie der Barmat-Skandal auch im Ausland Aufsehen erregte. So kamen insbesondere ab 1931 auch in der Schweiz, in Frankreich und in den Niederlanden Korruptionsskandale auf, mit denen Barmat in Verbindung gebracht wurde. Dies verdeutlicht, dass „die Debatte über Spekulation, Misswirtschaft und Korruption“ ein transnationales Phänomen war (S. 373). Im letzten Kapitel untersucht Geyer, wie die Nationalsozialisten den Fall Barmat für ihre Interessen nutzten und spürt insbesondere dem Einfluss des Barmat-Skandals auf die antisemitischen Propagandafilme „Jud Süß“ und „Der ewige Jude“ nach. Die Nationalsozialisten diskutierten die Korruptionsskandale der Weimarer Republik weiterhin öffentlich und setzten sie in Szene, um die vergangene Republik und „den vermeintlich darauf fußenden ‚jüdischen Kapitalismus‘“ zu degradieren (S. 419), während Korruption in den eigenen Reihen meist vertuscht wurde. Dabei wird zugleich deutlich, dass die Debatte um vermeintlich jüdisch-korrumpierte Demokratien ein transnationales Phänomen war.

Im abschließenden Teil beschäftigt sich Geyer zunächst mit der Frage, wie mit der Person Julius Barmat nach dem Zweiten Weltkrieg im „sozialen Gedächtnis“ (S. 29) der beiden deutschen Staaten sowie in der Forschung umgegangen wurde. Während in der Bundesrepublik aufgrund des aufgeladenen Kapitalismusbegriffs die Auseinandersetzung mit Barmat zunächst verschwand, blieb in der DDR die Erinnerung an den Barmat-Skandal weiterhin präsent und wurde zur Kritik an der SPD genutzt.

Im abschließenden Fazit hält Geyer fest, dass Barmat nicht nur eine Person war, sondern vielmehr ein „Inbegriff abstrakter Phänomene“ (S. 456), der in umkämpften politischen Diskursen in vielfältiger Weise genutzt wurde. Obgleich also die Antwort auf die im Buchtitel aufgeworfene Frage „Wer war Julius Barmat?“ bis zu einem gewissen Grad offenbleiben muss, ist es Geyer gelungen, mit seiner Monographie einen wichtigen Beitrag zur politischen und ökonomischen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit und insbesondere zur historischen Skandalforschung zu liefern. Die Studie schafft es nicht nur, den bereits häufiger behandelten Skandal von 1925 anhand neuer Fragen zu analysieren, sondern auch seine Spuren und die mit ihm verbundenen Themenkomplexe über den engeren Zeitraum des Skandals hinaus zu untersuchen – und über nationale Grenzen hinweg, womit Geyer die Vorzüge einer transnationalen Perspektive für die historische Skandalforschung verdeutlicht. Lediglich in den späteren Kapiteln verflüchtigt sich der Bezug zu Barmat ein wenig, wenn sich die diskursiven Bezüge auch aufgrund des zeitlichen Abstands zum ursprünglichen Skandalgeschehen weiten. Die Leistung Geyers besteht vor allem darin, anhand der Biographie einer einzelnen Person, größere politische und wirtschaftliche Diskurse dieser Zeit einzufangen und in einem breiten Kontext zu analysieren. Eine Lektüre des Werkes ist daher in jedem Fall empfehlenswert.

Anmerkung:
1 Vgl. Annika Klein, Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2014; Cordula Ludwig, Korruption und Nationalsozialismus in Berlin 1924–1934, Frankfurt am Main 1998; Stephan Malinkowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), S. 46–65.