C. Defrance u.a. (Hrsg.): Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert

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Titel
Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Defrance, Corine; Herrmann, Tanja; Nordblom, Pia
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
359 S., 22 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Rau, Institut für Zeitgeschichte München − Berlin, Abteilung Berlin

Die Geschichte der Europäisierung nach dem Zweiten Weltkrieg wird zumeist als politischer Aushandlungsprozess „von oben“ beschrieben. Nationalstaaten und die sich herausbildenden europäischen Institutionen werden dabei als die relevanten Entscheidungsträger untersucht. Dass am „Projekt Europa“ (Kiran Klaus Patel) aber auch lokale Akteure mitgewirkt und den politischen Prozess durch grenzüberschreitenden Austausch „von unten“ flankiert haben, wurde bislang nur am Rande thematisiert; das Eigengewicht des trans-lokalen Austauschs geriet noch kaum in den Blick. Gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen in die Institutionen Europas sinkt und die Anziehungskraft des Nationalen wieder an Bedeutung gewinnt, ist dieses zeitgeschichtliche Desiderat besonders auffällig. Der Sammelband „Städtepartnerschaften in Europa im 20. Jahrhundert“ ist deshalb begrüßenswert, befasst er sich doch mit einer Form des Kontakts, die sich gerade in den ersten Jahrzehnten nach 1945 einer starken Beliebtheit erfreute, heute aber nur noch Wenigen präsent ist.

Wie bei vielen anderen zeitgeschichtlichen Themen gilt auch hier: Sozialwissenschaftler/innen waren zuerst da. Einerseits betonten sie den erfolgreichen Beitrag des trans-lokalen Austauschs für Versöhnung und Verständigung in Europa, wobei der Blick allerdings kaum über (West-)Deutschland und Frankreich hinausging. Andererseits erklärten sie die schwindende Attraktivität von Städtepartnerschaften seit den 1970er-Jahren mit dem Phänomen der Globalisierung. Massen- und Individualtourismus sowie etwas später auch die Digitalisierung hätten Weltbeziehungen konstituiert, die den kommunal organisierten Austausch überflüssig machten.

An dieser allzu schematischen Sichtweise setzen die Beiträge des Sammelbandes an. In ihrer umfangreichen und instruktiven Einleitung skizzieren die Herausgeberinnen den bisherigen Forschungsstand, geben einen kurzen historischen Überblick und verweisen auf das Potential des zeitgeschichtlichen Zugangs. Es gelte, die Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Brüchen im Partnerschaftsaustausch herauszuarbeiten und zu problematisieren. Etwas irritierend wirkt dabei allerdings die Betonung des Solidaritätsbegriffs als konzeptionelle Klammer des Bandes, zumal keiner der Beiträge diesen Begriff aufgreift und analytisch fruchtbar macht. Wenig überzeugend ist auch die Aufteilung der Beiträge in „Städtepartnerschaften zwischen Politik und Ideologie“ sowie „Städtepartnerschaften zwischen Last der Geschichte und zukunftsorientierter Zusammenarbeit“. Zum einen lässt sich in der Praxis von Städtepartnerschaften kaum zwischen diesen Dimensionen trennen, zum anderen sind solche Dichotomisierungen fragwürdig. Ist Ideologie nicht auch Bestandteil von Politik? Und gilt dies nicht ebenso für die im zweiten Abschnitt aufgeworfenen Aspekte? Was hier hervorscheint, ist ein allzu enggeführter Politikbegriff.

Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, alle 18 Beiträge ausführlich zu besprechen. Ich werde deshalb einen knappen Überblick zum verhandelten Themenspektrum geben, wobei ich mich nicht an der Struktur des Bandes orientiere, sondern an den Kontextualisierungen. Dabei greife ich mir besonders instruktiv und weiterführend erscheinende Beiträge heraus und gehe abschließend auf die Stärken und Schwächen des Bandes ein.

Eine ganze Reihe von Beiträgen adressiert bereits recht gut erforschte Themenfelder wie den Einfluss des Kalten Krieges auf die Bedeutung und Praxis von Städtepartnerschaften (Markus Pieper, Franceska Malle, Ulrich Pfeil, Constanze Knitter) sowie das Wechselverhältnis zwischen Städtepartnerschaften und der jeweiligen nationalen Außen- bzw. Innenpolitik (Sebastian Dörfler, Claus W. Schäfer, Jean-Christophe Meyer). Diese Aufsätze arbeiten vor allem die wenig überraschenden Unterschiede in den Funktionen von Städtepartnerschaften für westliche Demokratien und sozialistische Diktaturen heraus, enthalten zuweilen aber auch neue Befunde. So weist Dörfler auf die besondere Rolle mittelalterlicher Geschichte hin, deren Beschwörung Verletzungen zwischen Westdeutschland und Frankreich in den ersten Jahren nach 1945 überdecken konnte, und zeigt zugleich, dass das Erstarken des rechtsextremen Front National nach 1990 eigentlich überwunden geglaubte Vergangenheitskonflikte erneut aufs Tableau bringen konnte. Pieper, der sich ostdeutsch-polnischen Städtepartnerschaften während des Kalten Krieges widmet und damit die bislang nur selten in den Blick geratenen „blockinternen“ Partnerschaften beleuchtet, unterstreicht nicht nur die wenig überraschende zentrale Rolle der beiden kommunistischen Parteien und die starke Formalität des Austauschs, sondern weist auch darauf hin, dass die Städtepartnerschaften trotz ihrer politischen Überformung den Zusammenbruch des „Ostblocks“ überlebten und eine eigene Transformationsgeschichte hatten.

Während diese Beiträge insgesamt aber bestenfalls oberflächlich auf Handlungsspielräume lokaler Akteure blicken, spüren andere Autor/innen verstärkt dem Eigengewicht des Lokalen nach. Dass auch in zentralistisch strukturierten Staaten des sozialistischen „Blocks“ lokale Gestaltungsmöglichkeiten bestanden, zeigt Dominik Pick am Beispiel Polens. So konnten gute Beziehungen lokaler Politiker/innen zur Staats- und Parteiführung, aber auch der chronische Personalmangel in den Behörden Warschaus lokale Handlungsspielräume öffnen. Interessant ist hier nicht zuletzt die wachsende Bedeutung von westdeutsch-polnischen Städtepartnerschaften während des 1981 verhängten Kriegsrechts in Polen. Étienne Deschamps zeigt am Beispiel Brüssel, wie sehr die Debatte um den Standort europäischer Institutionen während der 1950er-Jahre Städtekonkurrenzen im frühen Europäisierungsprozess beförderte, dann aber zum Motor von Städtepartnerschaften zwischen den Konkurrenten werden konnte (neben Brüssel auch Rom, Paris, Luxemburg, Amsterdam und Bonn). Malte Thießen und Andreas Langenohl untersuchen dagegen das Konfliktmanagement von Partnerschaftsakteur/innen. An britisch-sowjetischen Beispielen veranschaulicht Thießen die Komplexität von Globalisierungsprozessen durch den Blick „von unten“, indem er zeigt, wie die Akteur/innen politische und kulturelle Gegensätze auszuhalten lernten, und verbindet damit das Plädoyer, den mitunter komplizierten Aushandlungsprozessen künftig größeres Gewicht zu geben. Langenohl untersucht als einziger Soziologe unter den Beiträger/innen mit einer sinnkonstruktivistischen Perspektive Formen des Austauschs aus Sicht der Praktiker/innen und führt vor Augen, dass diese die Möglichkeit des Scheiterns beim Zustandekommen von Städtepartnerschaften stets mitbedachten. James E. Connolly, dessen Beitrag zu britisch-französischen Städtepartnerschaften sich als einziger mit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen befasst, verdeutlicht die besondere Rolle der Lokalpresse für den Austausch über den Ärmelkanal hinweg. Eva Kübler untersucht innerfranzösische Städte- und Gemeindepartnerschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, die ein wichtiges nationales Bindeglied zwischen kulturell und wirtschaftlich völlig unterschiedlichen Regionen Frankreichs darstellten.

Weiterhin versammelt der Band (leider nur) drei Aufsätze zu Städtepartnerschaften, die sich den Logiken des Ost-West-Konflikts und nationaler Außenpolitiken entzogen. Lucas Hardt zeigt, wie sehr sich die französische Stadt Metz darin engagierte, über Partnerschaftsbeziehungen zur algerischen Stadt Blida um 1960 den Kampf Frankreichs gegen die algerische Befreiungsbewegung zu unterstützen. Ruža Fotiadis geht auf griechisch-serbische Städtepartnerschaften ein und arbeitet die Bedeutung der Erinnerung an die „Waffenbrüderschaft“ im Ersten Weltkrieg heraus, die auch in Jugoslawien während des Kalten Krieges lokal weitergepflegt wurde und sogar das jugoslawische Nationalnarrativ des Partisanenkrieges überlagerte. Schließlich untersucht Lisa Montmayeur griechisch-türkische Städtepartnerschaften seit dem Ende der 1980er-Jahre, die auf gemeinsamen Erinnerungen an die Zwangsumsiedlungen seit 1923 aufbauten und quer zu den politischen Konflikten zwischen beiden Staaten liegen.

Schließlich nehmen die Aufsätze von Thomas Höpel und Marijke Mulder das ambivalente Verhältnis von trans-lokalem Austausch und Europäisierung seit den 1980er-Jahren in den Fokus. Höpel, der in seinem Beitrag anhand der Beispiele Lyon, Birmingham, Frankfurt am Main, Krakau und Leipzig eine Tour d’Horizon durch die Geschichte der Städtepartnerschaftsbewegung nach 1945 wagt, weist auf die Bedeutung des seit 1986 entstandenen „Eurocities“-Netzwerks hin: Dieses bot den beteiligten Städten, von denen einige bereits während des Kalten Krieges zusammengefunden hatten, ein neues Forum jenseits der nationalen Außenpolitik. Mulder macht dagegen auf die Fallstricke der EU-Förderpolitik aufmerksam, welche die Mittelbewilligung zunehmend an eine explizite Werbung für die EU vor Ort bindet und dabei kleinere und mittlere Städte benachteiligt.

Der Sammelband beeindruckt insgesamt durch die Vielfalt der thematischen und methodischen Zugänge sowie die Internationalität der Beiträge. Dass neben etablierten Forscher/innen zahlreiche jüngere Wissenschaftler/innen versammelt sind, tut dem Band ebenfalls gut. Besonders empfehlenswert sind diejenigen Aufsätze, die über klassische Narrative von Versöhnung und Verständigung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg hinausgehen und ganz unterschiedliche Eigendynamiken des Trans-Lokalen aufzeigen. Damit liegt ein Buch vor, das auch als Kompendium und Inspirationsquelle für ein zeithistorisch weitgehend vernachlässigtes Themenfeld gelesen werden kann. Dass die Beiträge hier und da Fragen offenlassen, ist nicht unbedingt ein Manko, sondern vielmehr Spiegelbild des dürftigen Forschungsstandes. Wenige Texte, etwa derjenige von Franceska Malle, sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da sie gegenüber den Narrativen der Partnerschaftsakteure zu wenig Distanz zeigen. Etwas störend wirkt auch, dass einige ins Deutsche übersetzte Beiträge zum Teil schwer verständlich sind. Über solche Schwachstellen aber liest man in diesem gelungenen Band gern hinweg.