R. Nicolosi u.a (Hrsg.): Born to be Criminal

Titel
Born to be Criminal. The Discourse on Criminality and the Practice of Punishment in Late Imperial Russia and Early Soviet Union. Interdisciplinary Approaches


Herausgeber
Nicolosi, Riccardo; Hartmann, Anne
Anzahl Seiten
249 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

Die Geschichte der Kriminalität im Russländischen Imperium und der Sowjetunion schafft es nicht oft die vermeintliche Zäsur von 1917 zu überwinden. Nach der Intervention Daniel Beers, der als einer der ersten diese Zeitenwende für die Kriminalitätsgeschichte explizit zum Gegenstand machte, liegt jetzt ein Sammelband von Riccardo Nicolosi und Anne Hartmann vor, der ebenfalls nach Kontinuitäten und Brüchen im Diskurs über Kriminalität und in den Strafpraktiken fragt.

Die Beiträge des Sammelbandes selbst überschreiten die Scheide von 1917 nicht, sondern behandeln im Falle von Marina Mogilner, Louise McReynolds und Riccardo Nicolosi den Diskurs über vermeintlich angeborene Kriminalität im vorrevolutionären Russländischen Reich. Daran schließen David Shearer, Marc Junge und Anne Hartmann ihre Überlegungen zu Strafpraktiken und Diskursen über „antisowjetische Verbrechen“ seit den 1920er-Jahren an. Im letzten Abschnitt schließlich widmen sich Renate Lachmann und Leona Toker der literarischen Verarbeitung des Gulag.

Vermutlich ungewollt läuft dieser Sammelband auf eine Klimax zu, die darin gipfelt, dass Cesare Lombroso und seine Theorien des geborenen Kriminellen im 19. Jahrhundert nur zögerlichen Anklang, in den 1930er-Jahren de facto im Gulag seine Entsprechung fand, um schließlich in den literarischen Schilderungen von Autor/innen wie Jewgenija Ginsburg oder Aleksandr Solschenizyn fröhliche Urständ zu feiern. Vor allem die Beiträge im mittleren Teil kursieren um die Frage der moralischen Implikationen von biologistischen Vorstellungen über Kriminalität, wie sie womöglich im Gulag implementiert wurden, und den daraus folgenden Konsequenzen; etwa hinsichtlich der Vergleichbarkeit von sowjetischen und NS-Lagerregimen. Denn wenn auch die Strafpraxis der Sowjets vielleicht nicht rassistisch motiviert war, biologistisch war sie allemal, wie etwa Marc Junge in seinem Beitrag unterstreicht. Mit anderen Worten: Der Sammelband diskutiert die Konsequenzen derjenigen Theorien über Kriminalität, die am Ende des 19. Jahrhunderts europaweit (und darüber hinaus) diskutiert wurden und danach auch in demokratischen Staaten handlungsleitend waren. Die Pathologisierung (oder Biologisierung) von Kriminalität sei also keine Erfindung der 1930er-Jahre, sondern müsse selbst historisiert werden, so die Herausgeber/innen des Sammelbandes. Die prinzipielle Frage der sowjetischen Kriminalitätsgeschichte – wieviel Foucault steckt in Russland? – schwingt dabei im Hintergrund stets mit.

Den ersten Blick zurück wirft Marina Mogilner, deren Beitrag der vermutlich anspruchsvollste des gesamten Bandes ist. Mogilner will die Heterogenität des russischen Diskurses unterstreichen und wendet sich damit mehr oder minder explizit gegen alle bisherigen Lesarten der Kriminalitätsgeschichte des Russländischen Reiches. Die bisherigen Lesarten fasst sie zusammen als konzentriert auf die Auseinandersetzungen zwischen „experts with their normative dicourse of norm and the archaic state that did not embrace it“ (S. 32). Sie hingegen entdeckt den zentralen Konflikt im Imperium selbst: Wie kann man die Heterogenität und Diversität des Empires mit den systematisierenden, vereinheitlichenden und rationalisierenden Wissenschafts- und Politikkulturen versöhnen? Statt also im Imperium den „archaic state“ zu entdecken, will Mogilner die Heterogenität als politische Kraft betonen, die auch vor Lombrosos Kriminalanthropologie nicht Halt macht. Statt Lombrosos rassistischen Eurozentrismus nachzuvollziehen, entwickelten russische Wissenschaftler ihre eigenen Vorstellungen von Norm und Abweichung innerhalb jeder einzelnen Ethnie – auf Grundlage der Lombroso’schen Theorie. So konnte das Imperium weiterhin Diversität betonen, indem es eine Vielzahl von Normen (und entsprechender Abweichungen) statt einer einzigen zuließ.

Den Verbindungen von russischem Nationalismus und Kriminalanthropologie spürt Louise McReynolds am Beispiel von Pawel Kowalewski nach, der heutzutage in der Russischen Föderation als Ideengeber wiederentdeckt wird. Ricardo Nicolosi wiederum widmet sich ausgehend von der Beobachtung, dass „Kriminelle“ in der russischen Literatur fast nie als geborene Verbrecher, sondern als gebrochene Personen dargestellt werden, dem Zusammenhang wissenschaftlicher Diskurse mit literarischen Werken. Zum einen analysiert er die narrativen Elemente wissenschaftlicher Studien selbst, die etwa im Falle des bereits erwähnten Kowalewskis literarische Züge aufweisen. Zum anderen zeigt er die Verarbeitung kriminal-anthropologischer Theorien in der russischen Literatur bei u.a. Tolstoi und Dostojewski.

David Shearer beschreibt in seinem Beitrag, wie vermeintlich wandelbare Kategorien, etwa soziale Identität oder Herkunft, ebenso in biologistischen Vorstellungen münden können wie rassistische Theorien. Nahezu alle Autoren in diesem Band stimmen darin überein, dass biologistische oder gar rassistische Vorstellungen in den 1920er-Jahren passé waren. Stattdessen verstand sich die Kriminologie als Wissenschaft über die Menschen, die von sozialen Umständen zu Kriminalität genötigt wurden, eine Vorstellung, die mit immer länger dauerndem „Sozialismus“ immer schwerer zu halten war. Laut Shearer war es kein anderer als Stalin selbst, der in den 1930er-Jahren dafür verantwortlich war, dass in der Sowjetunion mehr Kleinkriminelle und Verbrecher inhaftiert wurden als im NS-Deutschland. Hooliganismus und Diebstahl galten im Stalinismus als anti-staatliche Taten, ja als Staatsverbrechen. Obwohl rassistische Vorstellungen im NS-Deutschland über die vermeintlich degenerierten Schwerverbrecher eine wesentlich härtere ideologische Formierung erfuhren, war es die Sowjetunion, die massenhaft (Klein-)Kriminelle ermordete, obwohl sie zumindest offiziell weiter ihre Rehabilitierung propagierte.

In seinem wohlüberlegten und an vielen Stellen sehr vorsichtig formulierten Artikel über mögliche biologistische Einflüsse darauf, wie in den stalinistischen 1930er-Jahren Kriminalität und Wiederholungstäter einsortiert und bestraft wurden, setzt sich Marc Junge einerseits mit seinen eigenen früheren Veröffentlichungen und zum anderen mit David Shearers Beitrag kritisch auseinander. Junge will davor warnen, zu leichtfertig biologistische Erklärungsmodelle anzunehmen, wenn doch die Archivquellen zu zentralen sowjetischen Institutionen, die uns solche Annahmen erst ermöglichen würden, noch immer nicht freigegeben sind. In einem zweiten Schritt warnt er vor der Verwechslung von biologistischen und rassistischen Erklärungsmodellen. Ob und inwieweit soziale Herkunft biologisiert wurde, sei noch zu klären.

Ähnlich wie Junge sieht Anne Hartmann den Großen Terror als markanten Wendepunkt für Strafpraxis und Kriminologie, während Shearer diesen Moment bereits Anfang der 1930er-Jahre entdecken will. Hartmann untersucht die Wirkmächtigkeit des Konzeptes der „perekovka“ (Umschmiedung) vor allem in der russischen Literatur rund um den Belomorkanal. Anne Hartmann gelingt es zu zeigen, wie überzeugt Intellektuelle der 1930er-Jahre vom Konzept der „perekovka“ waren und wie weit sie davon entfernt waren, biologistische Erklärungsweisen im Sinne Lombrosos auf ihre Beschreibungen der Lagerwelt anzuwenden. Damit stellt sich allerdings für Hartmann ein ähnliches Problem wie für Shearer oder Junge: Woher kommen dann die „fantasies of extermination“, wie sie etwa auch Maxim Gorki artikulierte (S. 186)? Shearer sieht Stalin selbst als den Stichwortgeber, doch das Frappierende an diesen biologistischen Gedanken ist, dass sie gesellschaftsübergreifend gedacht wurden – und besonders bei Intellektuellen hoch im Kurs standen.

Die letzten beiden Beiträge widmen sich den Beschreibungen von inhaftierten „Politischen“ über die „Anderen“ im Lager, die Kriminellen. Sowohl Leona Toker als auch Renate Lachmann nehmen die harte Trennung dieser beiden Lager im Lager ernst, Lachmann spricht sogar von einem „Klassenkampf“ (S. 200) im Lager, der allerdings immer von den Kriminellen gewonnen wurde. Sie hatten den besseren Zugang zu materiellen Ressourcen, weil sie skrupellos gewesen seien, viele „politische“ Häftlinge erklärten, es seien die Kriminellen gewesen, die den wahren Terror im Lager ausübten – nicht Bewacher von OGPU oder NKWD. Trotz der möglicherweise zu einseitigen Parteinahme für die intellektuellen Opfer, besticht Renate Lachmanns Beitrag durch seine Kategorisierung des Schreibens über Kriminelle. Während Autoren wie Warlam Schalamov oder Julius Margolin die Lagerwelt ethnographisch oder soziologisch beschrieben, dominiere bei Solschenizyn oder Ginsburg die „moralische Perspektive“, die sich durch blankes Entsetzen und Hilflosigkeit auszeichne (S. 223).

Der Sammelband liefert keine endgültigen Fragen auf die Fragen nach Kriminalität und ihren historischen Erklärungen. Dies ist aber mitnichten den Autor/innen dieses Buches vorzuhalten, sondern sollte im Gegenteil als Ansporn genommen werden, die Geschichte der Kriminalität und des Strafens endlich den Platz einzuräumen, der ihr eigentlich gebührt.

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