A. Demshuk: Demolition on Karl Marx Square

Cover
Titel
Demolition on Karl Marx Square. Cultural Barbarism and the People's State in 1968


Autor(en)
Demshuk, Andrew
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 256 S.
Preis
€ 54,60; £ 47.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Colla, King’s College, University of Cambridge

Fünfzig Jahre nach „1968“ streiten Historiker, Politiker und Publizisten noch immer über die langfristige Bedeutung des Datums. Dabei wird zunehmend auch nach Verbindungen und Vergleichsmöglichkeiten zwischen den westlichen Studentenprotesten und den Unruhen im Warschauer Pakt, allen voran der Niederschlagung des Prager Frühlings, gefragt. In seinem 2017 erschienenen Buch „Demolition on Karl Marx Square“ versucht der amerikanische Historiker Andrew Demshuk unsere Aufmerksamkeit auf eine weniger bekannte Bewegung dieses europaweiten Protestjahrs zu ziehen. Seiner Hauptthese zufolge hat der populäre Widerstand gegen die geplante Zerstörung der Leipziger Paulinerkirche (auch Universitätskirche St. Pauli oder einfach „Unikirche“ genannt) 1968 den größten und für das sozialistische Regime gefährlichsten Volksprotest geschürt, mit dem sich die Führung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zwischen den Schlüsseljahren 1953 und 1989 konfrontiert sah.

Selbstverständlich lassen sich die Leipziger Ereignisse des Jahres 1968 nicht einfach mit denen von 1989 vergleichen. Aber laut Demshuk haben sie dennoch eine grundsätzliche Wirkung auf den sich immer weiter vertiefenden Zweifel der ursprünglich dem sozialistischen Projekt gegenüber positiv eingestellten Bevölkerung ausgeübt. Seiner These zufolge hat eine beunruhigte Bevölkerung, die ursprünglich in dem Glauben war, der Wiederaufbau ihrer Stadt sei Ausdruck einer Zusammenarbeit zwischen Regierenden und Regierten, im intransparenten Weg zur Kirchenzerstörung eine zunehmende Kluft zwischen der Rhetorik und der Realität des Regimes empfunden. Was bis dahin noch an Unterstützung und Glauben verblieben war, habe sich daraufhin für immer verflüchtigt.

Aus reichhaltigem Quellenmaterial rekonstruiert Demshuk die Spannungen zwischen Partei und Bevölkerung, die im Laufe der Umgestaltung Leipzigs entstanden. Gleichzeitig betrachtet er aber auch die Konflikte zwischen den verschiedenen Verwaltungsorganen, zu denen Fragen von Städtebau und Architektur gehörten. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) war, wie er betont, in dieser Frage selber gespalten. Der Verfasser stellt die aus reinem machtpolitischen Kalkül entwickelten Mechanismen dar, mit denen die Parteihierarchie diejenigen Mitglieder verdrängte oder totschwieg, die die Baupläne in irgendeiner Form in Frage stellten. Ab 1960 fing die SED-Elite schließlich an, öffentliche Kritik verstummen zu lassen, indem sie zum Beispiel die Gästebücher von Planungsausstellungen entfernte.

In diesem Prozess entfaltet sich ein Verhaltensmuster seitens der Partei, das man auch in verschiedenen anderen Zerstörungsakten in der DDR (zum Beispiel im Falle der Berliner und Potsdamer Stadtschlösser) genau nachzeichnen kann. Hierzu gehörten: die vordergründige Verteidigung der Zerstörungsentscheidung mit dem Verweis auf einen angeblich erhöhten Kostenaufwand; die Lüge, die Bausubstanz sei im Krieg fast völlig zerstört worden; und die Beteuerung, wertvolle Substanz werde aufbewahrt. Hinzu kam schließlich die oft wiederholte Begründung, die Entscheidung sei schon fest getroffen worden und könne aus keinem Grund rückgängig gemacht werden.

Demzufolge sollte es nicht überraschen, dass die Vernichtung der Universitätskirche, auch innerhalb Leipzigs, kein einzigartiges Ereignis war. Es ist deswegen gerechtfertigt, dass Demshuk seine Analyse in der unmittelbaren Nachkriegszeit beginnt. Von Anfang an hat sich die Leipziger Bezirksleitung darauf eingelassen, alte Bausubstanzen im Namen des Aufbaus einer neuen, modernen und zukunftsorientierten Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Vom Kunstmuseum am Karl-Marx-Platz (1962) über die Johanneskirche, die die Gebeine Bachs enthielten (1963), bis hin zu der Paulinerkirche und des benachbarten Augusteums (1968) hat die Parteiführung ihre Gegenspieler mit Abweisung und sogar Abscheu behandelt. Bürokratische Ablenkungsmanöver wurden durchgeführt, zuständige Institutionen wie das Institut für Denkmalpflege, die Berliner Bauakademie und das DDR-Kulturministerium wurden komplett unterlaufen oder öffentlich herabgewürdigt, und oppositionelle Planer und Denkmalpfleger wurden aus ihren Positionen entlassen oder vorzeitig in den Ruhestand versetzt.

Dabei ist vollkommen klar, dass die lokale Parteiführung bereits sehr früh die Zerstörungsentscheidung getroffen hatte und sich darangemacht hat, diese kompromisslos und unbeugsam durchzusetzen. In diesem Zusammenhang taucht jedoch eine zentrale Frage auf, auf die Demshuk unzureichend eingeht: Man erfährt in diesem Buch viel über die architektonischen Vorspiele der Zerstörung, die endgültige Entscheidungsfindung und die bürokratischen Katz-und-Maus-Spiele, die zum Abriss der Kirche geführt haben. Hinzu kommen außerdem viele Einsichten über die Art und Weise, auf die die Partei jeden Protest ignorierte und verdrängte. Aber am Ende fehlt Demshuks Analyse eine überzeugende Antwort auf eine wichtige Frage, und zwar: Warum wollte die SED die Kirche zerstören?

Die Beantwortung dieser Frage ist selbstverständlich schwierig. Offizielle SED-Dokumente sind in Fragen der Motivdeutung bekanntermaßen unzulänglich. Im Spiegelkabinett der kommunistischen Entscheidungsprozesse sind Vorwände und echte Motivationen voneinander schwer – oft unmöglich – zu unterscheiden. Antikirchliche Einstellungen, radikale modernistische Städtebauparadigmen und reine Bilderstürmerei sind sicherlich alle präsent gewesen. Und im Gegensatz zu dem Beispiel der Potsdamer Garnisonkirche (die ihr Ende nur knapp einen Monat später fand, was wichtige Fragen des unmittelbaren Kontexts aufwirft, die in diesem Buch leider nicht angesprochen werden), konnte jedoch niemand behaupten, die Paulinerkirche sei ideologisch befleckt gewesen.

Aber wenn die Hauptakteure innerhalb der Leipziger Bezirksleitung tatsächlich wussten, dass die Zerstörung ein riesiges Aufsehen im ganzen Land erregen würde, wieso blieben sie in ihrem Streben dann so hartnäckig? Verharrten sie vielleicht in ihrer Überzeugung, dass letztendlich alle Sorgen bezüglich der Zerstörung durch den Aufbau einer „modern utopia“ (S. 166) weggewischt werden würden? Wurde der Wille des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung, Paul Fröhlich, als gottgegeben angesehen und unbesonnen in die Praxis umgesetzt? Oder war der Machtapparat so schwerfällig, dass die Räder, wenn sie einmal in Gang gesetzt worden waren, einfach nicht mehr angehalten werden konnten? Obwohl „Demolition on Karl Marx Square“ eine tiefgreifende Analyse der Machtfunktionen der SED beinhaltet, werden solche Fragen vergleichsweise wenig thematisiert.

Dennoch beeindruckt die Forschungstiefe dieses Buchs. Demshuk hat eine große Menge von Primärquellen ans Licht gebracht, wobei er sich vor allem auf die Aufzeichnungen verschiedener Staats- und Parteiorgane bezieht. Durch diese Quellenbreite ist er imstande, seiner Behauptung Substanz zu verleihen, dass nicht nur der Generalsekretär der SED, Walter Ulbricht, sondern eine große Zahl von Bürokraten und Verwaltungsmitarbeitern, auf den Ebenen des Zentralstaates, des Bezirks und der Universität, die Verantwortlichkeit für die Zerstörung getragen habe. Besonders interessant ist seine Verwendung von Material des Stasi-Unterlagen-Archivs, das offenbart, mit welcher Ernsthaftigkeit der SED-Staat die Gegenproteste beobachtete. Seitens der Bevölkerung hat Demshuk „thick file after thick file“ (S. vii) von Eingaben konsultiert, die in aller Ausführlichkeit sein Bild einer „engaged populace“ bestätigen.

Demshuks Argument, die Proteste hätten eine echte Gefahr für die Herrschaft der SED ausgemacht, geht allerdings zu weit. Problematisch ist auch seine Tendenz, in seinen Beschreibungen in eine betont emotionale Rhetorik zu verfallen. Selbstverständlich stellte die Zerstörung der Paulinerkirche einen bedauerlichen Verlust von kulturellem und künstlerischem Erbe dar. Aber man muss sich fragen, ob es unser historisches Verständnis vertieft, das Ereignis mit einer ständigen Aneinanderreihung von moralistisch geprägten Adjektiven („ghastly“, „insane“, zum Beispiel S. 4 und 8) zu kennzeichnen oder ob es der Analyse förderlich ist, die unverkennbar antikulturellen und volksfeindlichen Einstellungen eines Paul Fröhlich durch den Begriff „maniacal goon“ (S. 42) zu beschreiben oder eine Studie von Macht und Gegenmacht als eine „juicy“ Geschichte zu bezeichnen (S. 42). Letztendlich bewirkt diese dramatische Sprache lediglich, dass der Leser von den eigentlichen Argumenten abgelenkt wird. Glücklicherweise befinden sich solche Formulierungen hauptsächlich in der Einleitung und im Schlussteil des Buches und weniger in den Kapiteln selber, die überlegt und übersichtlich geschrieben sind.

Trotz des gelegentlich störenden Sprachgebrauchs bietet „Demolition on Karl Marx Square“ jedoch eine detaillierte Fallstudie über die Funktionsweise des SED-Machtapparats, insbesondere auf der lokalen Ebene. Auf der Grundlage gründlich bearbeiteter Archivquellen rekonstruiert Andrew Demshuk das Präludium, das Ereignis und die Nachwirkungen der Zerstörung eines unersetzbaren Bauwerkes und zwar mit einem tiefgreifenden Verständnis für deren historische, kulturelle, architektonische und städtebauliche Bedeutung für Leipzig und seine Bevölkerung.

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