A. Jaspers u.a. (Hrsg.): Ein kleines rotes Buch

Cover
Titel
Ein kleines rotes Buch. Die Mao-Bibel und die Bücher-Revolution der Sechzigerjahre


Herausgeber
Jaspers, Anke; Michalski, Claudia; Paul, Morten
Erschienen
Berlin 2018: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
232 S., 5 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Sonnenberg, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

„Studiert die Werke des Vorsitzenden Mao Tse-Tung. Hört auf seine Worte und handelt nach seinen Weisungen“, war dem Buch als Leseempfehlung beigegeben. Mao Tse-tungs damaliger Verteidigungsminister Lin Biao hatte in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre 427 Zitate und Sinnsprüche aus den Reden und Schriften des „großen Steuermanns“ zusammengestellt. Die jargonhaft als „Mao-Bibel“ bezeichnete Blütenlese befeuerte nicht nur die „Große Proletarische Kulturrevolution“ in China. Während der Revolten Ende der 1960er-Jahre erzielte das Kompilationswerk auch in den westlichen Ländern bahnbrechende Erfolge. Zwischen Mitte der 1960er- und Mitte der 1970er-Jahre war es das am häufigsten gedruckte Buch der Welt.1 Auch in der alten Bundesrepublik verkaufte es sich allein im Jahr seines erstmaligen Erscheinens auf Deutsch, 1967, in verschiedenen Ausgaben weit mehr als einhunderttausend Mal. Für ein paar Jahre, so scheint es, war die „Mao-Bibel“ omnipräsent. Das ist ein irritierendes, noch immer erklärungsbedürftiges Phänomen. Der von Anke Jaspers, Claudia Michalski und Morten Paul herausgegebene Sammelband, der auf einer Tagung von 2014 im Deutschen Literaturarchiv Marbach basiert, geht dieser Publikations- und Faszinationsgeschichte auf die Spur.

Die erhellende, sehr ausführliche Einleitung der Herausgeber/innen beleuchtet den Entstehungskontext des „Kleinen Roten Buches“. Philologisch ergründet werden seine verschiedenen Ausgaben ebenso wie die Wirkungsweisen und Funktionen, die das Buch beispielsweise in den politischen Bewegungen Frankreichs oder der alten Bundesrepublik hatte. Ein besonderes Ziel ist es, die „Mao-Bibel“ und ihren Erfolg auf dem westdeutschen Buchmarkt inmitten der „Paperback Revolution“ (Ben Mercer) der 1960er-Jahre auch als den „Extremfall eines buchgeschichtlichen Umschlagpunkts“ (S. 11) zu markieren. Der Sinologe Daniel Leese vertieft im Folgenden die hochkomplexe, spannende und verworrene Editionsgeschichte des Kleinen Roten Buches speziell mit Blick auf China, eingebettet in die innenpolitische Krise nach der Kampagne zum „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1961) mit ihren zum Teil katastrophalen Konsequenzen. Wichtige Voraussetzungen für das Buch waren sowohl die Tradition der chinesischen „yulu“ (Anekdotensammlungen, wie sie schon seit Jahrhunderten zum Beispiel in den „Gesprächen mit Konfuzius“ zum Ausdruck kamen) als auch das Genre der „Lernfibeln“ eines neuen marxistisch-leninistischen Kanons, etwa das „ABC des Kommunismus“ (Nikolai Bucharin und Jewgenij Preobraschenski, 1920). Als Schulungsbuch zunächst zur Verbreitung der „Mao-Tse-tung-Ideen“ in der chinesischen Volksbefreiungsarmee konzipiert, wurden von 1964 bis 1966 ausschließlich Armee-Ausgaben produziert. So erhielt das Kleine Rote Buch das praktische, genau in eine militärische Uniformtasche passende Format sowie den schmutzresistenten, abwaschbaren Vinyl-Umschlag – erst in gelber, später in auffallend roter Farbe.

Benedikt Sepp entschlüsselt verschiedene Formen der Aneignung des Kleinen Roten Buches als „Teil und Angelpunkt alter und neuer politischer Lesepraktiken“ (S. 100) in der westdeutschen Studentenbewegung. Durch seinen Anthologie-Charakter kondensierte es „situative Aussagen zu allgemeingültigen Leitlinien und sprach ihnen damit Inhalt jenseits des Kontextes zu“ (S. 104). Dadurch habe es in den Jahren um 1968 für viele zum politischen Lebensratgeber, ständigen Begleiter, Dekorationsartikel, Wurfgeschoss oder auch zum Weihnachtsbaumschmuck werden können (S. 114). Es gehörte natürlich ebenso zum „radical chic“ dieser Zeit, wie sich der Filmemacher Harun Farocki erinnert. Seine wichtigste Funktion in der alten Bundesrepublik habe vermutlich in dem Signaleffekt als „Bürgerschreck“ bestanden, der mal parodistisch, mal persiflierend, aber mehr oder weniger bewusst von einer jungen Generation zur eigenen Abgrenzung eingesetzt wurde. Als Student trug Farocki selbst zur damaligen Ikonisierung des Buches bei, als er in seinem 1967 gedrehten anderthalbminütigen Kurzfilm „Die Worte des Vorsitzenden“ Maos Satz wörtlich nahm: „In unseren Händen müssen sie Waffen werden, die den Feind überraschend treffen.“ Er ließ eine Leserin Seiten aus der „Mao-Bibel“ herausreißen und daraus einen Papierflieger basteln, der vor laufender Kamera sofort zum Einsatz kam und in der Kaffeetasse eines tafelnden Paares mit Masken des persischen Schahs landete.2 Das im Buch abgedruckte Interview war das letzte, das Farocki vor seinem frühen Tod im Sommer 2014 gab.3 Philipp Goll, der ihn befragt hatte, systematisiert daneben in einem eigenen Beitrag die Formen des Zeigens, Studierens und Umfunktionierens des Kleinen Roten Buches, wie sie unter anderem in Farockis Film Anwendung fanden.

Dass sich zeitgenössisch auch Intellektuelle wie Reinhart Koselleck auf ihre Weise in die Lektüre der „Mao-Bibel“ vertieften, mag überraschen, ist aber durch Anstreichungen und Randbemerkungen in nachgelassenen Exemplaren bezeugt. Jost Philipp Klenner deutet solche Spuren in Kosellecks Gesamtwerk aus. Selten wird erwähnt, dass auch der bundesrepublikanische Verfassungsschutz seit den frühen 1960er-Jahren aktiv in den ost-westlichen „Propagandakrieg“ (Einleitung, S. 47) eingriff und vor dem Hintergrund des sino-sowjetischen Schismas die illegalisierten Strukturen der Kommunistischen Partei im Lande zu zersetzen suchte. Mascha Jacoby zeichnet eine im Nachhinein als weitgehend erfolgreich anzusehende Operation des Geheimdienstes nach, durch die Unterstützung maoistischer Agitation (zum Beispiel beim Postversand des Kleinen Roten Buches) ideologisch potentiell abweichlerische Genossinnen und Genossen zu identifizieren und in der nach Moskau ausgerichteten Partei Verwirrung über den richtigen politischen Weg zu stiften.

Der Sammelband unterstreicht auf überzeugende Weise, was eine breit angelegte Buchgeschichtsforschung zu leisten vermag. In nahezu allen Beiträgen werden das Symbolhafte, der „Objektcharakter“ und die „Gebrauchsweisen“ des Kleinen Roten Buches betrachtet – so auch im Interview mit dem Buchgestalter Friedrich Forssman oder im abschließenden Beitrag des Medienwissenschaftlers Rembert Hüser, der ausgehend vom Umgang mit der „Mao-Bibel“ seine Gedanken über Walter Benjamins zur gleichen Zeit populär gewordenen Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ bis zum filmischen Werk von Jean-Luc Godard weiterführt. Für wichtiger als die Inhalte gelten vielfach die Form, der Umschlag und die Ausgestaltung des Kleinen Roten Buches. Seinen Text jenseits der Gebrauchspraktiken und der Materialität dennoch als ein zentrales Dokument im politischen Denken zu befragen und für die Erforschung der Kommunismen des 20. Jahrhunderts ernst zu nehmen, wird Aufgabe künftiger Arbeiten sein müssen.

Anmerkungen:
1 „Die Worte des Vorsitzenden“ ist mit der Gesamtauflage von über einer Milliarde nach der Bibel auch das am zweithäufigsten gedruckte Buch in der Geschichte der Menschheit. 1979 wurden in China die noch nicht abgesetzten über 100 Millionen Exemplare aus politischen Gründen eingestampft. Für einen ersten einführenden Überblick zu den Wirkungen des Buches in verschiedenen Regionen der Erde vgl. Alexander C. Cook (Hrsg.), Mao’s Little Red Book. A Global History, Cambridge 2014; rezensiert von Sebastian Gehrig, in: H-Soz-Kult, 12.11.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22435 (30.01.2019).
2 Siehe z.B. https://www.youtube.com/watch?v=r-79jD7CI30 (30.01.2019).
3 Siehe auch die am 07.08.2014 in „Jungle World“ veröffentlichte Kurzfassung: https://jungle.world/artikel/2014/32/50374.html (30.01.2019).