Cover
Titel
Kumpel, Kohle und Krawall. Miners' Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion


Autor(en)
Hordt, Arne
Reihe
Nach dem Boom
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
309 S., 17 Abb.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Luks, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Arne Hordts „Kumpel, Kohle und Krawall“ – als Dissertation im Tübinger Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ entstanden – ist in vielerlei Hinsicht charakteristisch für ein bestimmtes Forschungsdesign. Um es vorwegzunehmen: die Monographie geht gelungen mit dem konzeptionellen Rahmen des Forschungsverbundes um, dessen Aufgabe es ist, zahlreiche Einzelstudien zusammenzuhalten. Sie ermöglicht damit zugleich eine innovative und aufschlussreiche Perspektive auch auf Gegenstände, die auf den ersten Blick ausgeforscht scheinen.

Eine Studie zum britischen Bergarbeiterstreik (1984/85) und den Protesten gegen Werksschließungen in Rheinhausen (1987/88) hat das Problem, dass im ersten Fall mit Blick auf die Abläufe, Akteure und deren Interessen inzwischen tatsächlich alles aus allen Perspektiven gesagt wurde, während der zweite Fall heute vor allem deshalb weniger bekannt ist, weil es sich dabei in historischer Perspektive um ein weniger einschneidendes Ereignis handelte. Arne Hordt weiß um diese Schwierigkeiten und findet Mittel und Wege, um sie für seine Fragestellung produktiv zu machen. Ausgehend von der Feststellung des unterschiedlichen (erinnerungskulturellen) Stellenwerts beider Streiks macht die Studie die jeweilige Deutungsgeschichte – und damit auch einen erheblichen Teil des Forschungsstands – selbst zum Gegenstand der Untersuchung. Hordt hebt dabei vor allem die anhaltende Wirkung zeitgenössischer Analysen hervor: „Für den Miners‘ Strike haben sie Erzählungen vorstrukturiert, welche die zeitgenössische Personalisierung und Ideologisierung des Konflikts als Kampf um die Macht der Bergarbeitergewerkschaft NUM unreflektiert übernehmen. Für Rheinhausen wurde einerseits eine betuliche, regionale Erinnerung an einen Moment gerechter Empörung festgeschrieben und andererseits ein heißer Konflikt im friedlichen Strukturwandel erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt“ (S. 18). Eine Stärke der Studie liegt ganz eindeutig darin, durch die steten Verweise auf die Deutungsgeschichte und ihre Effekte auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema einen überzeugenden Umgang mit der Herausforderung einer sich verwischenden Grenze zwischen Quellen und Forschungsliteratur zu finden. Dieser muss sich jede Zeitgeschichte als (Vor-)Geschichte der Gegenwart stellen, ob sie sich das nun eingesteht oder nicht.

Arne Hordt interpretiert den Bergarbeiterstreik und die Rheinhäuser Proteste als symbolische Konflikte, die auf einen bestimmten Typus von Regionalgesellschaft – die „Montanregion“ – verweisen. Dabei geht es ihm um die Rekonstruktion der impliziten Vorstellungen der Akteure über Arbeit, über die Formen des Zusammenlebens in den „pit villages“ und im „Revier“, über die (historische) Bedeutung der schwerindustriellen Regionen für Wohlstand und Wachstum usw. Es geht ihm um die Frage des Brüchigwerdens dieser Überzeugungen. „Warum, wie und mit welchen Folgen entwickelte sich ‚normaler‘ Protest gegen Werksschließungen im Miners‘ Strike und in Rheinhausen zu einem fundamentalen Konflikt um die Verteilung politischer Macht, die Organisation der Wirtschaft und die kulturelle Identität einer Bevölkerung?“ (S. 10). Hordts Studie weist überzeugend und im Detail nach, dass nicht (drohende) Betriebsschließungen als solche der Auslöser für den Aufruhr in den Montanregionen waren, sondern die Art und Weise, in der sie angekündigt wurden. Entscheidend für den Verlauf der Proteste waren nicht primär ideologische oder politische Gegensätze, sondern die Einhaltung oder der Bruch regionaler Handlungsroutinen. Das Konzept des Aufruhrs, so Hordt, biete sich hier vor allem deshalb an, weil es die sozialmoralische Basis des Konflikts akzentuiert und modernisierungstheoretische Narrative des „decline“ beziehungsweise Strukturwandels unterläuft.

Die Studie wendet sich gegen allein strukturgeschichtliche Erklärungsversuche, die das Ausbrechen der Konflikte und Proteste der 1980er-Jahre als Epiphänomen des industriellen Strukturwandels interpretieren. Derartige Deutungen seien ihrerseits bereits Ausdruck eines spezifischen „Erfahrungsraums Montanregion“. Die Proteste bezogen ihre Dynamik aus einem Regionalbewusstsein – Arne Hordt verwendet diesen Begriff zur Bezeichnung eines „lockeren Bündels von Überzeugungen“ (S. 45) –, das von zahlreichen Historikern und Sozialwissenschaftlern, die zum Thema forschten, geteilt würde. Entsprechend liegt der empirische Kern von „Kohle, Kumpel und Krawall“ in der Rekonstruktion dieses Regionalbewusstseins im englischen Nordosten und dem Ruhrgebiet, vor allem in der Beantwortung der Frage, wie es sich in Konfliktsituationen entfaltete. Um diese Zusammenhänge analytisch zu durchdringen und empirisch zu fassen, arbeitet Hordt explizit mit dem Koselleck’schen Theorem der vergangenen Zukunft, das hier konkret ein „eigenartiges Zeitverhältnis zur Gegenwart“ bezeichnet, in dem sich die Montanregionen in den 1980er-Jahren befanden. Die „Zukunftsentwürfe der unmittelbaren Nachkriegszeit“ wirkten für die „sozialräumliche Ordnung der Montanregionen“ nach wie vor als wichtige „Sinnressource an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und kultureller Identität“. Der Umstand, dass sich im Prinzip alle Akteure darauf beziehen konnten, gerade in Krisenzeiten, wirkte „gesellschaftsbildend“. Die Montanregionen „bildeten Relikte vergangener Zukunftsentwürfe, die zwar in einem völlig anderen historischen Kontext entstanden waren, aber dennoch in Form langfristiger gesellschaftlicher Erwartungen und politischer Handlungsmuster prägend für die Bewältigungsstrategien der Akteure in Krisenzeiten blieben“ (S. 58f.).

Die Pointe der skizierten Perspektive liegt darin, dass der industrielle Strukturwandel hier gerade nicht als Bedrohung der Ordnung der Montanregionen erscheint. Das Gegenteil war der Fall. Die „Berufung auf die aktuellen und bevorstehenden Veränderungen“ erzeugte vielmehr „erst die notwendige Legitimität für konkretes politisches Handeln in der von steter Veränderung geprägten regionalen Industriegesellschaft“ (S. 64). In beiden Fällen spielte ‚Strukturwandel‘ als regionales Deutungsmuster bereits zeitgenössisch eine entscheidende Rolle. Dieses Deutungsmuster verband regionales Selbstbewusstsein und Konfliktlösungsroutinen, die ihrerseits wiederum aus dem spezifischen Selbstverständnis der Regionen rührten. „Die soziale und wirtschaftliche Ordnung der Montanregionen North East und Ruhrgebiet war darauf ausgerichtet, die Folgen dieses wirtschaftlichen Strukturwandels und der damit einhergehenden Bevölkerungsverluste ‚sozialverträglich‘ abzufedern“ (S. 49). Nicht zuletzt waren Vorstellungen der Modernisierung und der Planbarkeit des Sozialen mittels eines Rekurses aller Beteiligten auf das nach dem Zweiten Weltkrieg verankerte „Denkmuster der regionalen Industrieplanung“ Teil des jeweiligen Regionalbewusstseins geworden. In den 1980er-Jahren wurde damit die „Bewältigung des ‚Strukturwandels‘ [...] zum Inhalt der Ordnung“ (S. 82). Ein fundamentaler Konflikt entstand dann, wenn Handlungen (oder auch nur deren Ankündigung) als Bruch jener Vereinbarungen angesehen wurden, die die Art und Weise des Wandels regelten. Die Empörung der Protestierenden „speiste sich aus der Verteidigung der gewohnten Verfahren des Strukturwandels“ (S. 88).

Trotz der zu begrüßenden Kürze weist „Kohle, Kumpel und Krawall“ insgesamt auch einige Redundanzen auf; und auch wenn ein symmetrischer Vergleich nicht intendiert war, bleibt der Eindruck, dass ‚Rheinhausen‘ manchmal doch zu sehr ‚hinten herunterfällt‘. Angesichts der eingangs skizzierten Probleme mit dem Forschungsstand und dem erinnerungskulturellen Stellenwert der Proteste in einer englischen und einer bundesdeutschen Montanregion wäre es vielleicht ratsam gewesen, die Arbeit nicht zunächst als vergleichende Streikforschung anzulegen, um sie dann thematisch in eine bestimmte Richtung zu öffnen. Jedenfalls zeichnet sich bei der Lektüre der Eindruck ab, man halte eine Studie zum Zusammenhang von Regionalbewusstsein, Erinnerungskultur und Protest in den Händen, die von der Aufnahme anderer und weiterer Fälle jenseits der beiden Großereignisse sicher profitiert hätte. Mit der von Arne Hordt vorgestellten analytischen Perspektive bietet sich ein geweiteter thematischer Fokus durchaus an. Vor allem erweist sich die analytische Kategorie des Aufruhrs als produktiv. Damit öffnet sich tatsächlich eine Perspektive auf den Übergang von industriellen zu postindustriellen Gesellschaften, die diesen Übergang eben auch als Bruch sozialmoralischer Orientierungen zu interpretieren weiß. Nicht zuletzt bringt dieser immer wieder nostalgische Re-Aktualisierungen hervor. „I dreamt that I was living back in the mid 1980’s / people marching, people shouting, people wearing pastel leather / the future‘s ours for the taking now, if we just stick together“ – so jedenfalls heißt es in „The Last Day of the Miners‘ Strike“, einem Song der britischen Band Pulp. Veröffentlicht wurde dieser, in gewisser Weise bezeichnend, als einziger neuer Song auf einem Best-of-Album im Jahr 2002.