Cover
Titel
David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama


Autor(en)
Segev, Tom
Erschienen
München 2018: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
XVI, 799 S., Illustrationen
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Fiedler, Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien, Berlin-Brandenburg

Die Erfindung des modernen Hebräisch war neben einer Modernisierung der biblischen Sprache zugleich von Wortneuschöpfungen begleitet, in denen das Selbstverständnis der zionistischen Bewegung zum Ausdruck kam. Kein Wort macht dies deutlicher als das von David Ben Gurion geprägte mamlakhtiut – Staatsräson, in dem gleichsam der Kern des zionistischen Projekts aufbewahrt ist: die Begründung des jüdischen Staates und eines staatsbürgerlichen Bewusstseins unter den Juden gleichermaßen. „Ein Staat um jeden Preis“ – so lautet auch der Untertitel von Tom Segevs Biographie über David Ben Gurion, die zu Beginn des Jahres zuerst im hebräischen Original, dank Ruth Achlamas glänzender Übersetzung aber nur wenig später auch in deutscher Sprache erschien. Nicht nur besticht die voluminöse, über 700 Seiten zählende Darstellung vom Leben des israelischen Staatsgründers und Premierministers durch ihre meisterhafte Erzählung, in der Ben Gurions politische Biographie gelungen mit der des Privatmanns verwoben ist. Dass das „Ringen um den Staat“ das Zentrum von Ben Gurions Leben bildete und dass er „für die Umsetzung des Zionismus fast jeden Preis zu zahlen bereit war“, bildet zugleich den Leitgedanken, der sich durch Segevs Biographie zieht (S. 13).

In zwei Blöcke geteilt, bilden die Ausrufung des Staates und der israelische Staatsgründungskrieg der Jahre 1947–49 den Wendepunkt in Segevs Erzählung, um zuerst Ben Gurions „Weg an die Macht“ (S. 19–374) und anschließend dessen „Grenzen der Macht“ (S. 375–706) auszuloten. Seinen Anfang nahm der Lebensweg des israelischen Staatsgründers in Płońsk innerhalb des russländischen Reiches, wo Ben Gurion am 16. Oktober 1886 als David Josef Grün geboren wurde. Aufgewachsen mit der Lektüre der Bibel als historischem Buch und in dem Bewusstsein, dass „im Land Israel […] das jüdische Volk“ entstand und sich dort „sein geistiges, religiöses und politisches Wesen“ prägte, wandte er sich in frühster Kindheit von der Diaspora ab und dem Zionismus zu (S. 11). „Der Schwur“ – das Erste der insgesamt 25 Kapitel – rückt dementsprechend jenes Versprechen ins Zentrum, das sich Ben Gurion gemeinsam mit Schlomo Zemach und Schmuel Fuchs im Spätsommer 1903 an den Ufern der Płonka gegeben hatten. Erschüttert durch das Pogrom von Kishinew und entsetzt über den Uganda-Plan der zionistischen Bewegung, schworen sich die drei Jugendfreunde, „Polen zu verlassen und sich im Lande Israel anzusiedeln“ (S. 22). Bereits drei Jahre später sollte Ben Gurion in Jaffa anlanden und seine ersten Schritte auf dem Weg zum Staatsmann machen.

Dass der Weg, den Ben Gurion eingeschlagen hatte, ihn schließlich vom Pionier der zweiten Alija zum jüdischen Staatsgründer machte, dafür sollten jedoch weder zionistische Überzeugung, Entschlusskraft und „anmaßende Egozentrik“ (S. 14) genügen, noch die staatspolitische Inspiration, die er in den Texten Spinozas und Platons Politeia fand. Unter seinen Zeitgenossen war es vor allem der Vorsitzende der Bolschewiki, der Ben Gurion nach einem Besuch in Moskau zum Vorbild geworden war. „Nicht Lenins Ideologie hatte es ihm angetan, sondern dessen Fähigkeit, dem Volk ein neues Schicksal zu gestalten“, schreibt Segev. „Ben Gurion wollte ein zionistischer Lenin werden.“ (S. 190) Nach seiner Wahl zum Sekretär der Gewerkschaft Histadrut im Jahre 1921 – dem vorstaatlichen „Staat auf dem Weg“ –, sollte er als Gründungsvorsitzender der Israelischen Arbeiterpartei (Mapai) im Jahre 1930 und Angehöriger der Jewish Agency schließlich zum politischen Kopf innerhalb des Jischuw aufsteigen. Den engen politischen Bindungen zu Berl Katznelsen und Jizchak Ben Zwi auf diesem Weg stand der Kontrast zu Chaim Weizmann gegenüber, dem Präsidenten der zionistischen Weltorganisation. Eindrücklich zeichnet Segev nach, wie sich der habituelle Gegensatz zwischen dem arbeiter-zionistischen Pioniergeist Ben Gurions und der anglophilen Diplomatie Weizmanns zum „Kampf der Giganten“ (S. 336) innerhalb des Zionismus auswuchs.

Historisch nachhaltiger als diese Erschütterung im Inneren des Zionismus war indes dessen äußerer Konflikt: jener mit der vorgefundenen Bevölkerung der palästinensischen Araber. Segevs genauer Blick auf Ben Gurion zeigt, dass dieser bereits im Jahre 1919 ein Bewusstsein dafür hatte, „dass es keine Lösung für diese Frage gibt“ (S. 166). An einer Gegnerschaft der arabischen Welt, gegen die ein jüdischer Staat allein mittels militärischer Überlegenheit und außenpolitischer Machtdeckung zu errichten und aufrechtzuerhalten war, hatte Ben Gurion jedenfalls keine Zweifel. Das war der „Preis des Zionismus“ (S. 167). Auch deshalb rückt Segev ihn in die Nähe von Wladimir Jabotinsky, den Propheten der „Eisernen Mauer“ und bezeichnet die Differenz zum Vater der zionistischen Rechten vor allem als „taktischer, zuweilen strategischer Art“ (S. 257). Gegenüber dem revisionistischen Beharren auf einen jüdischen Staat beidseits des Jordans war Ben Gurion wiederum pragmatisch und wollte jede Möglichkeit einer Staatsgründung ergreifen, die sich historisch eröffnete. Gegen Widerstand auch aus seinen eigenen Reihen unterstützte er deshalb den Teilungsplan für Palästina, den 1937 die britische Peel-Commission vorgelegt hatte. „Grenzen besitzen keine Ewigkeit“, erklärte er damals seinen Parteigenossen und unterstrich zugleich „unser Recht auf das Land – auf das ganze Land“, das seiner historischen Verwirklichung harre (S. 276). Eine ähnlich widersprüchliche Dynamik erkennt Segev auch mit Blick auf das Verhältnis zur arabischen Bevölkerung Palästinas und die dramatische Frage von deren Flucht und Vertreibung. Bei Ben Gurions Erklärung aus dem Jahre 1926, dass „nur Geistesverwirrte und Schwindler […] dem jüdischen Volk im Land Israel eine solche Absicht nachsagen“ können, sollte es jedenfalls nicht bleiben. Hatte er 1937 noch von einer „freiwilligen Umsiedlung“ bzw. einen am griechisch-türkischen Beispiel angelehnten Bevölkerungsaustausch „ohne Lärm“ gesprochen, befürwortete er ein Jahr später bereits einen „Zwangstransfer“ (S. 281). Der Staatsgründungskrieg 1947/49 bot schließlich den historischen Rahmen, in dem das Konzept der „aggressiven Verteidigung“ mit der gewaltsam forcierten Flucht von mehreren hunderttausend Arabern verschmolz.

Vollzogen hatte sich die Staatsgründung indes unter gewandelten Voraussetzungen; stand sie doch bereits im Schatten des Holocaust. Dem Drängen der Überlebenden nach Palästina und später Israel hatte auch Ben Gurion mit seinen Besuchen in den DP-Camps ebenso wie der Unterstützung der Bricha – der organisierten Flucht – Nachdruck verliehen. Gegenüber der Wirkung des „Zivilisationsbruchs“ (Dan Diner), an der auch alle vergangenen Perspektiven jüdischer Politik zerbrochen waren, beleuchtet Segev entlang von Ben Gurion indes ein „Zeitgefühl des Zionismus“ (S. 356), dass sich in Palästina fern der Ereignisse in Europa gleichsam unbeschädigt erhalten hatte. Schon lange vor dem Krieg gründete dieses Zeitgefühl auf einem „Vorgefühl ‚einer jüdischen Katastrophe‘“ (S. 348) und dem Bestreben, den prognostizierten Untergang der diasporischen Judenheiten durch einen Auszug aus der nichtjüdischen Welt und die Wiedergeburt des jüdischen Volkes in Eretz Israel zu begegnen. Zu Beginn der dreißiger Jahre wollte er in der Verfolgung und Entrechtung der deutschen Juden deshalb auch einen „Hebel zur Hebung des zionistischen Aufbauwerks“ (S. 252) erkennen. Noch in Zeiten der Katastrophe war es jener utopische Telos, der einen Ausweg aus dem Gefühl der Ohnmacht und die Möglichkeit bot, eine Brücke „von der Vergangenheit geradewegs in die Zukunft“ zu spannen und dabei „den Holocaust hinter sich zu lassen […] und sich auf die Zukunft zu konzentrieren“ (S. 356). Und obgleich die Juden in Palästina ihr Überleben der siegreichen 8. Armee des britischen Empires verdankten, wollte Ben Gurion den Zionismus einerseits als vorausschauend und historisch bestätigt sehen, wie er den Holocaust andererseits als „nationale Katastrophe“ und Verlust jener „hervorragenden Volksgruppe“ beklagte, „die als einzige unter allen Teilen der Judenheit fähig“ gewesen sei, „den Staat aufzubauen“ (S. 373). Auch wegen solcher Aussagen kommt Segev zu dem wenig schmeichelhaften Urteil, dass Ben Gurion „dem Leid der Holocaustüberlebenden“ (S. 384) reserviert gegenüberstand. Und doch übersieht der Biograph nicht, dass es gerade diese Distanz war, die es dem Staatsgründer nach dem Krieg ermöglichte, dem Luxemburger Abkommen von 1952 – dem sogenannten Wieder-gutmachungsabkommen – den Weg zu ebnen. In einer Zeit, als Teile der israelischen Öffentlichkeit unter der Führung von Menachem Begin gegen die Annahme von deutschem Blutgeld“ protestierte, war es Ben Gurions Staatsräson – mamlakhtiut –, die den Abschluss des ökonomisch dringlich gebotenen Abkommens garantierte.

Die Bedeutung des israelischen Premiers für die innere und äußere Architektur des jungen Staates steht im Zentrum des zweiten Teils von Segevs umfassender Darstellung. Einen Anfang nahm der Aufbau im Inneren mit dem Status-Quo-Abkommen des Jahres 1947, das eine Einbindung der Ultraorthodoxie in den neuen Staat – freilich um den Preis von dessen säkularen Charakter – garantieren sollte. Die größte Herausforderung bestand jedoch in der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Mit welcher Wucht Ben Gurion gegen die paramilitärischen Milizen der vorstaatlichen Zeit vorging, um die Haganah als einzig legitime Armee zu institutionalisieren, veranschaulicht Segev an der Zerschlagung von Menachem Begins Nationaler Befreiungsarmee (Etzel), von der er die Gefahr ausgehen sah, „die Armee kaputtzumachen“, ja „den Staat zu ermorden“ (S. 446). Noch inmitten des Staatsgründungskriegs ließ er die Waffen deshalb auf deren militärisches Versorgungsschiff („Altalena“) richten, um damit zugleich den Weg zur Eingliederung der Lechi-Brigaden und der Auflösung der Palmach zu ebnen.

Außenpolitisch und vor dem Hintergrund der zum Nahostkonflikt ausgedehnten Palästinafrage gibt Segev wiederum die diplomatische Anpassungsfähigkeit Ben Gurions zu erkennen, mit der er um Bündnispartner und machtpolitische Deckung warb: Waren es tschechische Waffen, mit denen Israel gestützt durch die Sowjetunion seinen Staatsgründungskrieg kämpfte, stand der Sinaifeldzug bereits im Zeichen eines Bündnisses mit Frankreich und Großbritannien. Eine „echte Bürgschaft“ (Chaim Yahil) suchte Ben Gurion indes durch ein Sicherheitsabkommen mit den Vereinigten Staaten zu erwirken.

Dass Ben Gurion eine über den Parteien stehende Politik zu vertreten beanspruchte und seine Person ganz mit dem Staat selbst identifizierte, brachte ihm unter seinen Zeitgenossen nicht nur Anerkennung ein. Neben Segevs Urteil, dass die Geburt des jüdischen Staates ohne die Entschlusskraft Ben Gurion nicht möglich gewesen wäre, tritt deshalb auch die Geschichte seines „schrittweisen Abstiegs“ (S. 521) und des schleichenden Verlusts seiner Reputation. Bereits 1953 war er nach der brutalen Vergeltungsaktion von Kibya von seinem Amt zurückgetreten und hatte sich für zwei Jahre nach Sde Boker zurückgezogen. Zwar erlebte er nach seiner Rückkehr an die Regierung noch politische und militärische Erfolge, geriet aber seit 1960 in den unaufhaltsamen Strudel der Lavon-Affäre (S. 633–657). 1963 sollte er schließlich für immer aus dem Amt des Ministerpräsidenten scheiden, um sich zwei Jahre später zwar als Kopf der neugegründeten Partei Rafi, aber erstmals auf Seiten der parlamentarischen Opposition wiederzufinden. Die Bewunderung für die Entschlossenheit Moshe Dayans und des jungen Ariel Sharons war von erbitterten Zerwürfnissen und Wortgefechten mit Moshe Sharett und Levi Eshkol begleitet. Das alles lässt sich minutiös bei Segev nachlesen und macht dessen Buch zugleich zu einem facettenreichen Porträt israelischer Politik der 1950er- und 1960er-Jahre.

Dem Genre der Biographie entsprechend schließt die Darstellung mit dem Tod von Ben Gurion am 1. Dezember 1973. Dass nur wenige Wochen zuvor der Jom-Kippur-Krieg zu Ende ging, macht das Ableben Ben Gurions gleichsam zum Sinnbild eines weit darüber hinausreichenden Wandels. „Ben Gurions Tod in jenem Augenblick erhielt daher symbolische Bedeutung, war nicht nur der Abschied von einem Mann, sondern von einer ganzen nationalen Epoche“, schreibt Segev zum Schluss (S. 705). Vier Jahre später sollte die Mapai, Ben Gurions einstige Partei, das erste Mal in der israelischen Geschichte bei einer Wahl unterliegen. Zwei Jahre darauf war es Menachem Begin, der Premier der israelischen Rechten, der einen Friedensvertrag mit Ägypten schloss, an dessen Möglichkeit Ben Gurion kaum geglaubt hatte. Sein Platz in der israelischen Geschichte bleibt davon unberührt. Tom Segev hat ihn vortrefflich beschrieben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch