Titel
Die Entdeckung des Westens. Chinas erste Botschafter in Europa 1866-1894


Autor(en)
Chen, Feng
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
183 S.
Preis
€ 11,90
Rezensiert für Neue Politische Literatur und H-Soz-u-Kult von:
Dr. Juergen Osterhammel, Institut für Geschichtswissenschaften, Universität Konstanz

Man wird in der von Wolfgang Benz herausgegeben Reihe "Europäische Geschichte" des Fischer Taschenbuch Verlages nicht ohne weiteres einen Band über die Berichte chinesischer Diplomaten aus Europa erwarten. Es spricht aber für die Offenheit des Konzepts der Reihe, daß noch vor dem unvermeidlichen Werk über die Expansion Europas eine Darstellung "fremder" Außensicht erschienen ist. Das Buch ist hochwillkommen. Inzwischen vergeht kaum ein Monat, ohne daß nicht eine neue Dissertation auf den Spuren Edward Saids abermals die Arroganz und ethnozentrische Realitätsferne europäischer Berichte über "die Anderen" zu entlarven beabsichtigte. Verglichen mit den unerschöpflichen, aber zunehmend geringere Erkenntniszuwächse versprechenden Möglichkeiten der Dekonstruktion europäischer Diskurse über "Alterität" haben sich nur wenige Forschungsarbeiten das Ziel gesetzt, die Blickrichtung umzukehren und nach der Beobachtung Europas durch Nicht-Europäer zu fragen. Nur so läßt sich aber ein genuiner Perspektivenwechsel gewinnen, den die "Fremdbild"-Forschung nur zu simulieren vermag.

Eine solche Simulation gehört, wie allgemein bekannt, zu den Reflexionsstrategien (im buchstäblichen Sinn der Spiegelmetapher) des neuzeitlichen europäischen Bewußtseins. Die literarische Fiktion des reisenden Exoten ist in zahlreichen Texten der Frühen Neuzeit durchbuchstabiert worden, am einflußreichsten in Montesquieus "Lettres Persanes" von 1721, einem Werk, das dank gründlicher Auswertung der zeitgenössischen Orientliteratur seinen reisenden Persern zuweilen Ansichten in den Mund legt, die nicht völlig aus der Luft gegriffen waren. Das Verfahren, kulturelle Selbstverständlichkeiten durch das Staunen und den kritischen Kommentar fremder Besucher als das ganz und gar nicht Selbstverständliche erscheinen zu lassen, hat bis heute seinen Reiz nicht verloren. Herbert Rosendorfers witzige "Briefe in die chinesische Vergangenheit" sind ein bekanntes Beispiel.

Die Berichte, die Feng Chen aus dem Chinesischen ins Französische übersetzt und die Fred E. Schrader dann wiederum ins Deutsche übertragen hat (eine solche Zweistufigkeit der sprachlichen Vermittlung ist immer bedauerlich, stellt hier aber keinen ernsthaften Einwand gegen das Unternehmen dar), sind keine Fiktionen. Sie sind authentische Dokumente der chinesischen Wahrnehmung Europas. Chinesen sind erst sehr spät nach Europa gelangt, jedenfalls gebildete und schreibgewandte Vertreter des Reichs der Mitte. Während es seit etwa 1600 eine nahezu kontinuierliche Berichterstattung gewaltigen Umfangs von Europäern aus China gibt und mit ihr verbunden eine anspruchsvolle Sinologie oder zumindest Proto-Sinologie, zunächst vor allem der Jesuiten, sind die im vorliegenden Band in Auszügen vorgestellten Texte tatsächlich die ersten chinesischen Augenzeugenberichte aus Europa. Die chinesischen Beobachter waren keine Touristen oder Forschungsreisende, Missionare oder Geschäftsleute, sondern ausnahmslos Diplomaten, die nach Europa entsandt wurden, nachdem die Großmächte das chinesische Kaiserreich 1860 zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen gezwungen hatten. Bruchstücke des Materials waren bereits früher bekannt. Doch erst umfangreiche Quelleneditionen, vor allem aus der zentralchinesischen Provinz Hunan, die 1985 publiziert wurden, haben die Dokumentation in voller Breite erschlossen.

Insgesamt haben wir es mit zwölf Autoren zu tun. Das ist wenig, denkt man an den viel größeren Umfang der gleichzeitigen japanischen Europaberichterstattung. Aus diesem Dutzend hebt sich eine noch kleinere Zahl hervor: Guo Songtao, der erste chinesische Botschafter (eigentlich: Gesandte) in London; Liu Xihong, der erste kaiserliche Repräsentant in Deutschland; Xue Fucheng, der mehrere europäische Länder kennenlernt; und Zhang Deyi, der früheste chinesische Karrierediplomat und fleißigste Chronist von allen. Da die meisten der Texte, anders als europäische Reiseberichte, nicht für den heimischen literarischen Markt geschrieben wurden, finden westliche Leser nicht leicht einen Zugang zu ihrer spröden Form. Frau Feng war daher gut beraten, auf lange kontinuierliche Übersetzungen zugunsten eines Arragements kürzerer Auszüge zu verzichten. Unter Überschriften wie "Kochkunst und Mode", "Der Ball", "Liebe und Ehe" oder "Gesellschaft und Politik" stellt sie in kluger Auswahl Aufzeichnungen verschiedener Verfasser nebeneinander. Ihr eigener Beitrag geht dabei weit über Paraphrase, Übersetzung und Überleitung hinaus.

Auch jenseits der ausführlichen Einleitung haben wir es mit einer ausgeformten Analyse zu tun. Feng Chen betont, daß die chinesischen Gewährsleute den Westen, mit dem sie vor ihrem Europabesuch allenfalls in Hongkong, Shanghai und einigen der anderen "Treaty Ports" in Berührung gekommen waren, keineswegs als staunende und überwältigte Vertreter einer rückständigen Zivilisation betrachteten. Ihre Beobachtungen trafen oft den Kern der Dinge. Daß sie Europa ständig mit China verglichen, versteht sich von selbst. Daß solche Vergleiche in ihrem Wertungsaspekt oft wenig eindeutig ausfielen, macht sie erst interessant. An einige Facetten europäischer "Modernität" gewöhnten sich die Gäste nie, andere empfahlen sie ihren Landsleute mit der gebotenen Vorsicht zur modifizierten Nachahmung. Sämtliche Urteile beruhten - wie bei Europäern in Asien umgekehrt nicht anders - auf dem kulturellen Gepäck, das man mitbrachte. So lobten etwa die chinesischen Diplomaten Europa nicht immer aus den selben Gründen, aus denen es sich selbst für den Gipfelpunkt an Zivilisiertheit hielt. Die viktorianische Gesellschaft etwa faszinierte weniger wegen ihrer Modernität als deshalb, weil sie den traditionellen chinesischen Vorstellungen von einem harmonisch regierten Gemeinwesen zu entsprechen schien. Punkte wie diese erhellt Feng Chen immer wieder in ihrer gescheiten Analyse.

Das Buch kommt bescheiden daher. Es verzichtet - bei spürbarem Sinne für systematische Fragestellungen - auf die "kulturtheoretische" Schaumschlägerei, zu der das Material verleitet haben könnte. Eben wegen solcher Selbstdisziplin, die zugleich einen Respekt vor den Quellen zum Ausdruck bringt, ist es einer der wichtigeren neuen Beiträge zum Thema Interkulturalität.

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Rezension hervorgegangen aus der Kooperation mit der Zeitschrift Neue Politische Literatur (NPL), Darmstadt (Redaktionelle Betreuung: Simone Gruen). http://www.ifs.tu-darmstadt.de/npl/
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