Fußballkultur und Raum in Ost(mittel)europa

Lübke, Christian; Suckow, Dirk; Krause, Stephan (Hrsg.): Der Osten ist eine Kugel. Fußball in Kultur und Geschichte des östlichen Europa. Göttingen 2018 : Verlag Die Werkstatt, ISBN 978-3-7307-0388-5 489 S. € 24,90

: Die Stadt als Spielfeld. Raumbegriffe, Raumnutzungen, Raumdeutungen polnischer Hooligans. Göttingen 2016 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1848-9 120 S. € 24,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Glathe, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Dass die Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland stattfand, war im Vorfeld Gegenstand heftiger Diskussionen in der westlichen Medienöffentlichkeit. Nicht nur die offensichtlich völkerrechtswidrige Annexion der Krim, sondern auch wiederholte Auftritte rassistischer und randalierender Hooligans hatten Russland negative Schlagzeilen beschert. In dieser Kontroverse geriet nicht nur die reiche russische Fußballgeschichte aus dem Blick, auch die Komplexität der Verflechtung von Politik und Fußball rückte in den Hintergrund. Zugleich zeigte die öffentliche Debatte einmal mehr die westliche Voreingenommenheit, die den Osten vorzugsweise dann zur Kenntnis nimmt, wenn er mit Bildern von roher Gewalt und Rechtsbruch als Folie zu bequemer Selbstvergewisserung herangezogen werden kann.

Beide hier besprochenen Publikationen stellen einer solchen vereinfachenden Perspektive ein vielfältiges und komplexes Bild osteuropäischer Fußballkultur entgegen. Sie verbindet dabei nicht nur der thematische Schwerpunkt auf den Fußball, sondern der Anspruch, soziale Phänomene im Kontext sozialer Raumkonstruktionen zu erfassen. Die Monographie von Michael Esch, die sich explizit an eine wissenschaftliche Leserschaft richtet, geht dabei im Vergleich deutlich systematischer vor. In dem Sammelband hingegen erscheint „Raum“ eher als eine Metapher, um die höchst unterschiedlichen Beiträge in einen gemeinsamen thematischen Rahmen einzubinden.

Der Sammelband „Der Osten ist eine Kugel“ richtet ein erhellendes und seltenes Schlaglicht auf die Fußballregion Mittel- und Osteuropa. Durch die Zusammenstellung vielfältiger, zumeist kulturhistorischer Text- und Bildmaterialien veranschaulicht er eindrücklich die große Bedeutung des Fußballs in der Geschichte der Region. Auch wenn sportliche Großereignisse wie die Fußball-WM in Russland und das Champions-League-Finale in der Ukraine den Aufhänger des Bandes darstellen, geht dieser weit darüber hinaus und verdeutlicht die gesellschaftspolitische Bedeutung des Fußballs im langen 20. Jahrhundert. Indem Fußball als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer Entwicklung sichtbar gemacht wird, gerät die Region des östlichen Europas selbst als ein Raum nationaler, ethnischer, religiös-konfessioneller, kultureller und sprachlicher Vielfalt in den Blick. Durch das Erzählen von Fußballgeschichten gelingt es den Autor/innen, den Leser/innen sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart der Region näherzubringen.

Ein durchgängiges Motiv der Aufsätze ist die Darstellung der Verflechtung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse mit Fußballgeschichte. So illustriert Martin Blasius die enge Verbindung von Sport und Politik am Beispiel der Vermittlung und Veralltäglichung des Personenkults um Tito in Jugoslawien durch dessen Kontextualisierung mit Fußball. Zugleich ermöglicht der Blick auf den Fußball aber auch, Alltagserfahrungen auf der Mikro-Ebene zu analysieren. So zeigt Anke Hilbrenner am Beispiel der Erinnerung an das „Todesspiel von Kiew“ (S. 158), in dem ein ukrainisches Team gegen die deutsche Luftwaffenauswahl gewann, die komplexe Kriegserfahrung in der besetzten Ukraine auf. Durch diesen Zugang zur Alltagsgeschichte von Krieg und Besatzung wird deutlich, dass sich die subjektive Erfahrung jenseits der Kategorien Kollaboration und Widerstand bewegt bzw. sich nur unzureichend auf diese dichotomisierenden Erinnerungsnarrative reduzieren lässt.

Ein weiterer Schwerpunkt in dem Sammelband ist es, legendäre Fußballgeschichten und -biographien aus mittel- und osteuropäischer Perspektive zu erzählen, die in Deutschland häufig vernachlässigt oder – wie im Falle des sogenannten „Miracle of Bern“ – aus gänzlich anderer Perspektive erinnert werden. Während dieses hierzulande als das erste bundesdeutsche Fußballmärchen der Nachkriegszeit erinnert wird, gilt es in Ungarn als nationale Katastrophe. Die damit verbundenen Unruhen lassen sich sogar als erste Vorboten des Aufstands von 1956 lesen, wie Robert Born am Beispiel der Biographie des weltberühmten Ferenc Puskás nachzeichnet. Diethelm Blecking reflektiert anhand des Lebens von Ernst Willimowski die von Gewalt überschattete deutsch-polnische Beziehungsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Willimowski stammte aus dem östlichen Teil der preußischen Provinz Schlesien, der in der Folge des Ersten Weltkriegs Teil Polens wurde, und begann seine Fußballkarriere als polnischer Nationalspieler. Nach dem deutschen Überfall und der Besetzung Polens durch die Wehrmacht wurde er jedoch durch die Eintragung in die „deutsche Volksliste“ zum deutschen Staatsbürger und debütierte 1941 als deutscher Nationalspieler.

Neben sporthistorischen Arbeiten bietet der Sammelband eine Reihe von Beiträgen, die Repräsentationen des Fußballs im literarischen und künstlerischen Raum erkunden. Irina Gradinari analysiert vier Sportfilme aus der Stalinära und zeigt dabei die Funktion von Fußball im sowjetischen Film auf, die wesentlich durch die positive Codierung des Kollektivs bestimmt war. Schließlich verdeutlichen architekturhistorische sowie fankulturelle Arbeiten, wie Fußballkultur sich in den städtischen Raum eingeschrieben hat. Andreas Fülberth illustriert am Sportstättenbau in der lettischen Hauptstadt Riga die Verflechtung der jüngeren baltischen Entwicklungen mit der lokalen Fußballgeschichte. Alexandra Köhring zeichnet die langjährige Debatte um das Großprojekt des heutigen Olympiastadions Luschniki in Moskau nach und zeigt dabei die symbolische Bedeutung des Stadionbaus sowie den engen Zusammenhang staatlicher Sportkonzepte mit sowjetischer Stadtplanung auf.

Neben wissenschaftlichen Analysen wird der Band durch die Einflechtung literarischer Texte aus dem östlichen Europa ergänzt, die sich dem Fußball auf einer ästhetischen Ebene widmen. Somit treten kulturwissenschaftliche Analysen zum Fußball als Gegenstand von Literatur, Film und von bildender Kunst in Dialog mit Literatur aus der Region auf, die primäre Zeugnisse der kulturhistorischen Bedeutung des Fußballs bilden. Eine Vielzahl historischer und zeitgenössischer Bilder und Fotos komplettieren den Band und machen ihn zu einer ansprechenden literarisch-wissenschaftlichen Anthologie.

Der Sammelband nimmt einen mit auf eine Reise einmal quer durch ganz Mittel- und Osteuropa. Damit gewinnt der/die Leser/in lebendige Einblicke in die bewegenden Momente osteuropäischer Fußballgeschichte, ohne welche die europäische Fußballkultur nicht in Gänze zu verstehen ist. Die Struktur des Bandes erscheint jedoch eher zufällig. Die eingangs von den Herausgebern entwickelte Idee, anhand von Fußballgeschichte multidisziplinär die Generierung und Strukturierung von Raum im östlichen Europa nachzuverfolgen, gerät so recht bald aus den Augen.

Das zweite Buch zur osteuropäischen Fußballkultur, „Die Stadt als Spielfeld“ von Michael Esch nähert sich der Fußball- und Fankultur ebenfalls aus raumtheoretischer Perspektive. Es untersucht am Beispiel von Hooligan-Graffiti in mehreren polnischen Städten die urbanen Raumkonstruktionen dieser Subkultur. Die Studie dokumentiert ausführlich, auf welche Weise dem städtischen Raum und bestimmten Vierteln neue Bedeutungen eingeschrieben und diese in eigene, fremde und umstrittene Territorien aufgeteilt werden.

Die Analyse, deren wichtigste Ergebnisse Esch auch in einem Beitrag im oben besprochenen Sammelband präsentiert, basiert auf mehr als 700 Fotos. Anhand dieser Bild- und Schriftquellen nimmt Michael Esch zentrale räumliche Praktiken von Hooligans über den Stadion-Kontext hinaus in den Blick und erweitert dadurch das Wissen über den Charakter der Subkultur. Den Großteil der Studie bildet eine detaillierte Analyse bzw. Entschlüsselung von Hooligangraffiti und den damit verbundenen Kommunikationspraktiken. Im ersten Teil stellt Esch auf rund 20 Seiten fußballbezogene Graffiti in Oberschlesien denen in Posen, Danzig und Warschau gegenüber. Neben einer detaillierten Beschreibung ausgewählter Graffiti und der Entschlüsselung der dort verwendeten Codes diskutiert der Autor, inwiefern sie als Ausdruck von Territorialisierung und Identitätsstiftung dienen. Im zweiten Teil vertieft er den Aspekt der soziokulturellen Hegemonie, indem er Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Hooligangruppen am Beispiel Krakaus und Lodz‘ untersucht. Hierbei nimmt Esch das Spannungsverhältnis von „Selbstverortung und -vergewisserung“ einerseits und „symbolischer Erniedrigung des Feindes“ andererseits unter die Lupe.

Michael Esch arbeitet heraus, dass es sich bei den Graffiti in erster Linie um nach innen gerichtete Botschaften handelt. Sie stellen somit subkulturelle Codes dar, die sich nicht an eine allgemeine Öffentlichkeit richten und außerhalb der Subkultur auch kaum zu verstehen seien. Damit stellt Esch bestehende Annahmen hinsichtlich einer rechtsradikalen Vereinnahmung polnischer Hooligans grundlegend in Frage. Obwohl die von ihm analysierten Graffiti wiederholt rechtsextreme, häufig antisemitische, Symboliken aufweisen, argumentiert er, dass diese erst dann als Teil eines politisierten öffentlichen Diskurses sichtbar und verständlich gemacht werden, wenn externe Akteure wie die Presse die in ihnen enthaltenen diskriminierenden und rassistischen Beleidigungen skandalisierten. Innerhalb der Szene blieben die Graffiti dagegen weitgehend „sinnentleerte negative Chiffren“ (S. 111) ohne ausformulierte antisemitische Ideologie. Esch kommt somit zu dem Ergebnis, dass rechtsradikale Mobilisierungsversuche von Hooligans deren Selbstverständnis eher zuwiderliefen, da diese sich eher an lokalen kleinräumlichen Identifikationen und Feindschaften orientierten als an abstrakten kollektiven und politischen Gemeinschaften.

So stimmig diese Argumentation auf der raumsoziologischen Ebene auch sein mag, so bedauerlich ist es aber, dass geschichtspolitische Praktiken von Hooligans und Ultras, die im Einklang mit der von der gegenwärtigen polnischen Regierung lancierten nationalistischen Geschichtsauffassung stehen, in der Studie außen vor bleiben. Ein solcher Fokus könnte sich künftig als gewinnbringend erweisen, um das Verständnis der politisch uneindeutigen Position (nicht nur) osteuropäischer Hooligan-Subkulturen weiter zu schärfen. Ein Blick auf geschichtspolitische Hooliganpraktiken würde zudem Eschs These der schwierigen Mobilisierung und Vereinnahmung der Szene durch externe Akteure herausfordern und die Frage aufwerfen, inwiefern die regierungsloyal erscheinende Szene überhaupt noch als Subkultur zu bezeichnen wäre.

Die beiden Publikationen eröffnen einen neuen Blick auf die Fußballkultur des östlichen Europas. Während sich der Sammelband an eine breite Öffentlichkeit wendet und sowohl Fußballfans als auch historisch Interessierte bedient, kann Eschs Studie zur Hooligansubkultur als bereichernder Beitrag innerhalb der Fanforschung betrachtet werden. Zugleich gelingt es Esch, Theorien sozialer Raumproduktion durch den Blick auf subkulturelle Praktiken zu inspirieren. Im Sammelband werden raumtheoretische Fragen eher metaphorisch zur Strukturierung der diversen Beiträge genutzt als analytischen Mehrwert zu schaffen. Dies schadet dem Buch aber keineswegs. Es ist ein außerordentlich vielseitiges, spannendes und lehrreiches Werk, das man sich – auch wegen der literarischen und künstlerischen Einstreuungen – als Fußball-Enthusiast/in unbedingt zu Gemüte führen sollte.

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