K. Kreuder-Sonnen: Wie man Mikroben auf Reisen schickt

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Titel
Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin 1885–1939


Autor(en)
Kreuder-Sonnen, Katharina
Reihe
Historische Wissensforschung 9
Erschienen
Tübingen 2018: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XI, 352 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Steffen, Nordost-Institut an der Universität Hamburg, Lüneburg

Die Wissensgeschichte Ostmitteleuropas und Polens sowie die globalen Vernetzungen ihrer Akteurinnen und Akteure sind sowohl in der Wissenschaftsgeschichte als auch der Osteuropäischen Geschichte bisher ein wenig stiefmütterlich behandelt worden – zu Unrecht, denn wie spannend und innovativ dieses Forschungsfeld sein kann, zeigt die Studie von Katharina Kreuder-Sonnen. Sie behandelt die transregionale und transnationale Vernetzung polnischer Medizinerinnen und Mediziner und die Zirkulation bakteriologischen Wissens in der Zeit vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Wie Wissensbestände auf Reisen gingen, wie sie sich wann und warum an verschiedenen Orten verankern konnten, und welche logistischen Anstrengungen verschiedener Akteure dafür erforderlich waren, sind die zentralen Fragestellungen der Arbeit. Sie ist als Dissertation an der Universität Gießen entstanden und wurde auf dem Deutschen Historikertag in Münster mit dem Hedwig-Hintze-Preis für hervorragende Dissertationen ausgezeichnet.

Diese Würdigung dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass die Studie auf einem wohldurchdachten theoretisch-methodischen Konzept beruht. Kreuder-Sonnen greift auf Bruno Latours Relationierung der historischen Analyse und der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zurück, die sie überzeugend einführt. Sie bereichert die Theorien Latours durch Ansätze aus der postkolonialen Forschung, die etwa das Kulturtransferkonzept von Michel Espagne aufgegriffen haben. In diesen Arbeiten wird Wissenstransfer stets, und zwar auch in asymmetrischen Machtverhältnissen, als zirkulatorisch und dynamisch verstanden. In der Verbindung mit dem Latourschen Konzept der Wissensmobilisierung entsteht so ein theoretisches Gerüst, das die Studie von Anfang an strukturiert und in hohem Maße plausibilisiert. Ihren theoretischen Ansätzen folgend, betont die Autorin bei ihrer Analyse der Zirkulation von Wissen stets die Bedeutung nicht-menschlicher Akteure, wozu stabile Reagenzgläser ebenso gehören wie gute Straßen, Versuchskaninchen und Läuse. Die Arbeit profitiert von einer sehr genauen Beobachtung und dichten Beschreibung solcher nicht-menschlicher Akteure und lokaler Praktiken ebenso wie von der Einordnung dieser lokalen Praktiken und ihrer Erträge in globale Räume von Wissenszirkulation.

Die Verfasserin hat ihre Studie in drei Abschnitte gegliedert, die den sowohl geographisch als auch thematisch breiten Horizont der Arbeit abstecken: Es geht zunächst um die Entstehung bakteriologischer Labornetzwerke, die ihren Ausgang bei Robert Koch in Berlin und Louis Pasteur in Paris nahmen. Dort befanden sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Zentren der Bakteriologie, deren Anziehungskraft auch in die geteilten polnischen Territorien ausstrahlte. Der so genannte „Vater der polnischen Bakteriologie“, der Mediziner Odo Bujwid, machte sich in Berlin mit den Praktiken der Diagnostik vertraut und eignete sich in Paris Kenntnisse über das Impfen an. Mitschriften, Notizen und Zeichnungen, die Bujwid in Berlin anfertigte, analysiert Kreuder-Sonnen als Inskriptionen des bakteriologischen Labors. Bujwid transferierte diese nach Warschau, um den dortigen Ärzten – mit Ludwik Fleck gesprochen – ein bakteriologisch „gerichtetes Sehen“ beizubringen und bakteriologisches Wissen in der praktischen Arbeit polnischer Mediziner zu verankern.

Die spezifische Entwicklung der polnischen Bakteriologie im 19. Jahrhundert, die mit der Dominanz einer nationalisierten Hygienebewegung im Königreich Polen und in Galizien konfrontiert war, zu der die Bakteriologie zunächst wenig beizutragen hatte, wird dabei stets ins Verhältnis zu breiteren Entwicklungen in Europa und der Welt gesetzt. Deutlich vermag die Autorin, Prozesse von Wandel und Veränderung herauszuarbeiten, die etwa mit der Zäsur von 1918 eintraten, als der polnische Nationalstaat neu gegründet wurde und das Projekt, bakteriologische Labornetzwerke zu etablieren, eine neue, mobilisierende Dynamik erhielt. In diesem zweiten Abschnitt analysiert Kreuder-Sonnen, wie staatliche Akteure, ausgehend vom neu gegründeten Staatlichen Hygiene-Institut in Warschau, die Ordnung von Räumen in den Vordergrund stellten, um das neue Staatsgefüge auch mithilfe des Gesundheitssystems zu stabilisieren. Hier betont die Autorin die Bedeutung einer gesunden Bevölkerung für Konzepte moderner Nationalstaatsbildung, wie sie auch an zahlreichen anderen Orten und Weltregionen zu beobachten ist. Vor Ort allerdings trafen die hochgesteckten Ziele oftmals auf ganz praktische Hindernisse, so dass es nicht überall gelang, in die Fläche zu expandieren und bakteriologische Labore in ganz Polen zu verankern. Hier spielten Fragen von Erfahrung, von Infrastruktur, von Praktiken im Umgang mit Laboren und deren Ausrüstung sowie von Wissenskulturen eine große Rolle: Die lokale Bedingtheit von Wissensgenerierung und -implementierung trat deutlich zutage.

Im dritten und letzten Kapitel zeichnet die Autorin die globale Zirkulation des Wissensbestandes über das Fleckfieber nach, den sie, vor allem wegen der großen Fleckfieberepidemie in Ostpolen und Russland in der Zeit von 1919–1921, als „Katalysator für die Etablierung einer zentralisierten und bakteriologisch fundierten Seuchenbürokratie“ (S. 221) charakterisiert. Die zentrale Figur bei der Entstehung von neuem Expertenwissen über diese Krankheit war zweifellos der Mediziner Rudolf Weigl in Lemberg, dessen Impfstoff gegen das Fleckfieber bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als der beste überhaupt galt. Hier wird die lokale und zeitliche Gebundenheit von Wissensbeständen, die auch in den vorherigen Kapiteln betont wurde, noch einmal manifest. Denn die Autorin weist nach, dass die bakteriologische Forschung zum Fleckfieber an die epidemiologischen Bedingungen geknüpft war, in denen die Forschenden agierten, und sie agierten eben häufig in Peripherien wie etwa Lemberg. Von Lemberg ausgehend zeigt Kreuder-Sonnen, wie auch an anderen, vermeintlich peripheren Orten wie Tunis oder Mexiko City bakteriologisches Fleckfieberwissen hervorgebracht wurde und global zirkulierte. In diesen Peripherien entstanden Expert/innen und Expertise, die anschließend auf der ganzen Welt gefragt waren.

Auf diese Weise bricht die Autorin die scharfe Abgrenzung zwischen Peripherie und Zentrum überzeugend auf und darin liegt ein besonderer Wert ihrer Studie. Kreuder-Sonnen widerlegt das in der Wissenschaftsgeschichte (und nicht nur dort) oft anzutreffende Paradigma von Westeuropa als der Wiege vieler Wissensbestände und plädiert dafür, dieses Paradigma sorgfältig zu überprüfen.

Die originellen Gedankengänge der Autorin gehen mit einer präzisen und genauen Sprache einher, die auch komplexe wissenschaftshistorische Vorgänge hervorragend lesbar und verständlich darzustellen vermag. Dem Thema angemessen beruht die Dissertation auf einer breiten Quellenbasis von Archivalien aus ganz Europa. Die Studie profitiert darüber hinaus von einer sehr genauen Kenntnis der Forschungsliteratur aller integrierten historischen Richtungen – darunter auch Aspekte der Gender- und Minderheitenforschung.

Insgesamt erschließt die Autorin mit ihrer Analyse lokaler Praktiken und Wissenstransfers in der Bakteriologie beispielhaft, wie die Bewegung von Wissen in ihrer ganzen Dynamik untersucht werden kann. Sie zeigt auf, wie Wissen generiert wird, wie es sich in bestimmten Netzwerken stabilisieren kann und wie es sich in Transferprozessen verändert. Auf diese Weise arbeitet sie überzeugend heraus, dass Wissen nicht einfach oder irgendwie reist, sondern einer konkreten Logistik bedarf, die diese Reisen erst möglich machte. Dem Plädoyer der Autorin, „das vielfältige Interesse an Wissens- und Kulturtransfer in der Geschichtswissenschaft um die Dimensionen nicht-menschlicher Akteure zu erweitern“ (S. 298), kann man mit Blick auf ihre Beispiele nur zustimmen. Dadurch weist die Studie sowohl über den Raum Polen/Ostmitteleuropa als auch über die disziplinäre Geschichte bakteriologischen Wissens hinaus. Insofern ist sie als ein wichtiger Baustein in dem Trend zu begrüßen, die Wissenschaftsgeschichte des östlichen Europas verstärkt in ihren lokalen und globalen Bezügen zu erforschen.1

Anmerkung:
1 Als jüngste Entwicklung in diese Richtung ist hier die Entstehung der Forschungsplattform History of Science in Central, Eastern and Southeastern Europe zu nennen, siehe https://hpscesee.blogspot.com/ (15.12.2019).

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