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Titel
Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager


Autor(en)
Luchterhand, Elmer
Herausgeber
Kranebitter, Andreas; Fleck, Christian
Reihe
Mauthausen-Studien 11
Erschienen
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dennis Bock, Universität Hamburg

Das in den 1940er-Jahren anfängliche wissenschaftliche Interesse am Sozialleben in den NS-Konzentrationslagern wich mit dem Bekanntwerden von der Existenz der Gaskammern und Krematorien einer Darstellung „des Millionen-Mordes“, die aus Paul Martin Neuraths Sicht nur wenig Raum für Analysen früherer Phasen der KZ ließ.1 Während Neurath in seiner Studie dezidiert von „Gesellschaft“ („Part II: The Society“) spricht – und damit einen Aspekt der Konzentrationslager bearbeitet, der erst Jahrzehnte später durch die Arbeiten von Falk Pingel, Wolfgang Sofsky und insbesondere Maja Suderland popularisiert wurde, verwendet der amerikanische Soziologe Elmer Luchterhand Anfang der 1950er-Jahre im unveröffentlichten amerikanischen Original seiner nun erstmals publizierten Dissertation den Begriff „prisoner social system“ (S. 39). Mit der Entscheidung, diesen Begriff als „Häftlingsgesellschaft“ zu übersetzen, nehmen die beiden Herausgeber Andreas Kranebitter und Christian Fleck eine diskursive Zuordnung ex post vor, die erstaunlicherweise an keiner Stelle der Arbeit näher erläutert wird, sich aber inhaltlich begründet: Wie Neurath und Suderland geht es auch Luchterhand dezidiert um die Darstellung von Sozialleben und Vergemeinschaftungsprozessen, die – rückblickend betrachtet – u.a. in Widerspruch zu den Thesen von Wolfgang Sofsky steht.2

Elmer Luchterhand, der zwischen 1947 und 1953 ein Bachelor-, Master- und Promotionsstudium am Department of Sociology an der University of Wisconsin in Madison absolvierte und über berufliche Umwege 1967 zum Professor am Brooklyn College in New York ernannt wurde, erlebte den 2. Weltkrieg als Nachrichtenoffizier und Public Relations Writer (März 1943 - März 1946) der 261st Infantry der 65th Infantry Division und betrat unmittelbar nach der Befreiung die Konzentrationslager Hersbruck/Happurg, Ohrdruf, Buchenwald, Gusen, Mauthausen, Dachau, Wanfried und Feldafing. Zu dieser Zeit interviewte Luchterhand ca. 75 Überlebende sowie Anwohnerinnen und Anwohner der umliegenden Konzentrationslager und Todesmarschrouten (vgl. S. 10).

Seiner Dissertation wiederum liegen 52 Interviews zugrunde, die Luchterhand zwischen 1950 und 1951 in den USA mit emigrierten Überlebenden führte. Wie er einräumt, handelt es sich bei seinem Sample aus naheliegenden Gründen nicht um eine „repräsentative Stichprobe der gesamten Häftlingspopulation“ (S. 40). Vielmehr wurden die Überlebenden gezielt ausgesucht, „um gewisse Anforderungen im Forschungsdesign zu erfüllen“ (S. 41) und so letztlich dem Hauptinteresse der Arbeit, „d.h. […] der Beleuchtung von Prozessen sozialer Kontrolle durch Gewalt“ (S. 40), zu dienen. Was methodisch zunächst verwundert, „lässt gewisse Muster erkennen“, wie Kranebitter und Fleck bemerken, „die im Lichte der späteren KZ-Forschung ein innovatives Vorgehen verdeutlichen, das mit gutem Grund als theoretisches Sampling avant la lettre bezeichnet werden könnte“ (S. 20). Während Luchterhand seine Interviewpartnerinnen und -partner anonymisiert und mit einem Pseudonym versah, liegt eine der aufwendigsten Bemühungen der beiden Herausgeber in der umfassenden Rekonstruktion der Überlebendenbiografien, die teils Überschneidungen zu vergleichbaren Forschungsprojekten ihrer Zeit offenlegen – etwa den Audio-Interviews des Psychologen David P. Boder in DP-Camps im Sommer 1946.3 Dennoch wirft dieses Vorgehen aus wissenschaftsethischer Perspektive auch Fragen auf, werden mindestens in Kapitel 3 der Studie dadurch intime Details eines Probanden bekannt. Auch wenn eine „etwaige politische Verfänglichkeit für die Interviewten“, wie Kranebitter und Fleck als Erklärung anfügen, „heute nicht mehr besteh[en]“ mag (S. 45), so ist sie für die Nachfahren keineswegs automatisch suspendiert.

Dass sich Elmer Luchterhands Dissertation zunächst wie ein persönlicher Feldzug gegen die Forschungsarbeiten von Bruno Bettelheim4 lesen lässt, hängt unmittelbar mit Luchterhands zentraler Hypothese zusammen. Sie unterstellt, dass Bettelheims Unterscheidung in neue und „alte“ Häftlinge und „die damit in Zusammenhang stehende Phasentheorie der Anpassung von Häftlingen […] das Verhalten eines bedeutenden Teils der Häftlingspopulation nicht erklären“ könne (S. 39) und „die Untersuchung von Häftlingsverhalten erschwert“ habe (S. 48). Luchterhand konzentriert sich in seiner Studie folgerichtig auf wechselseitige Beziehungsmuster der Häftlinge und unterscheidet sechs Abstufungen: Einsamer Wolf, instabile Paare, stabile Paare, Beteiligung in Kleingruppen, Beteiligung in Großgruppen (ab neun Mitgliedern) und Zweckbündnisse (vgl. S. 47). Er kommt zu dem Schluss, dass „[v]erfügbare Belege […] auf die weite Verbreitung von stabilen Paaren hin[deuten], und es dürfte klar sein, dass diese Paare die häufigste Art der Gruppenstruktur darstellten und somit die grundlegende soziale Einheit für das Überleben in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ausmachten“ (S. 103).

Luchterhands Kritik an Bettelheim schlug sich auch sprachlich in unmissverständlicher Weise nieder. Bettelheim habe beispielsweise den Kampf der materiell unterprivilegierten Mehrheit gegen die „kriminellen und privilegierten“ Mithäftlinge „gänzlich missachtet“. Hierin sieht Luchterhand eine „grundlegende Schwäche seiner Darstellung und Interpretation und eine Schwäche, die auf eine allgemeine Nichtbeachtung der gesamten Häftlingsgesellschaft hindeutet“ (S. 159). Wer Luchterhands Thesen und Kritik im Lichte des damaligen Forschungsdiskurses betrachtet, stellt schnell fest, dass der Soziologe aus forschungspraktischen und -strategischen Gründen keine andere Möglichkeit hatte, als sich kontinuierlich in Abgrenzung auf Bettelheim zu beziehen, da seine Schlussfolgerungen schlicht mit jenen unvereinbar waren, die seit den 1940er-Jahren – und teils noch Dekaden später – den Forschungsdiskurs prägten. Letztlich blieben Luchterhands Publikationsversuche erfolglos.5

Die jetzige Veröffentlichung offenbart aber das Potenzial von Luchterhands Studie, weil der aufmerksame Soziologe während seiner Interviews beobachtete, dass Begriffe der Lagersprache als Reizwörter fungierten und mit emotionalen Reaktionen sowie „einer Flut an reichhaltigem Material einher[ging]“ (S. 52). „Muselmann“ oder „Organisieren“ wurde „wie ein Losungswort behandelt, das ihn dazu berechtigte, sich frei mit den Überlebenden der Lager zu assoziieren“ (S. 53). Mithilfe seines heuristischen Ansatzes sucht Luchterhand dann vor allem nach Veränderungen der zwischen-menschlichen Beziehungen, insbesondere im Kontext von Teilen und Diebstahl, nach Veränderungen des Verhaltens in speziellen Extremsituationen sowie, zur genaueren Überprüfung von Bettelheims Schlussfolgerungen, nach Beschreibungen und Haftdauer von „alten“ Häftlingen und von Mitgliedern von im Untergrund agierenden Häftlingsorganisationen (S. 50).

Nach je einem Kapitel zur wissenschaftlichen Methodik und zur Struktur sowie den Funktionen des NS-Lagersystems erläutert Luchterhand in Kapitel 3 am Beispiel seines Probanden „Karl“ ausführlich das Vorgehen seiner Interviews. Besonders aufschlussreich sind hier einerseits die transparent gemachten Erkenntnisse und davon abgeleiteten veränderten Verfahren bei den darauffolgenden Interviews. Das vierte Kapitel behandelt eingehend die zwischenmenschlichen Beziehungsmuster. Paarbeziehungen und kleinere Einheiten hatten über den stetigen Veränderungsprozess der Lagersituation die besten Chancen bestehen zu bleiben und waren besonders häufig erfolgreich beim „Organisieren“ (S. 99). Brach eine Paarbeziehung (z.B. durch Selektion oder Deportation) auseinander, trat häufig eine unmittelbare personelle Ersetzung ein. „Die Schnelligkeit mit der solche Bindungswechsel [einhergingen], dürfte auf die übermächtige Gewalt von Situationen im Konzentrationslager zurückzuführen gewesen sein.“ (S. 127) Kapitel 5 befasst sich mit dem Normensystem und der Sozialordnung von Lagerhäftlingen und postuliert eine wechselseitige Betrachtung, da in den Versuchen, „sich mit den Normensystemen der Häftlinge losgelöst von der Häftlingsgesellschaft zu beschäftigen, […] ein Hauptgrund für Fehlinterpretationen des Häftlingsverhaltens“ liege (S. 129). Luchterhand interessiert sich vor allem für Aspekte, die die Herausbildung einer Häftlingsgesellschaft erschwerten, und sieht sich exemplarisch Diebstahlverhalten im Unterschied zum „Organisieren“ an. Die erhobenen Daten legen eine geringere Überlebenschance bei Diebstahl sowie eine höhere Erfolgsquote beim „Organisieren“ in Gruppen nahe. „Verstöße gegen Wertesysteme [werden] am ehesten dann von Personen begangen, wenn diese faktisch nicht in irgendeiner Weise in einem sozialen System verankert sind, und wenn sie in großer Not sind“ (S. 140), beispielsweise durch die soziale Isolierung von deportierten Neuankömmlingen. Kapitel 6 widmet sich durch die Bezugnahme auf „alte“ Häftlinge den Thesen Bettelheims. Die Studie konzentriert sich hier erfreulicherweise überwiegend auf die eigenen Forschungsfragen. Luchterhands zentrale These lautet, dass sich die Spaltung der Häftlingsgesellschaft nicht entlang „alter“ und neuer Häftlinge, sondern im Kampf der nicht-kriminellen gegenüber den „kriminellen Häftlingen“6 entwickelte. Zudem ergebe sich aus dem Sample zwar eine Seltenheit von Beziehungen zwischen „alten“ und neuen Häftlingen, zugleich aber keine größeren Interessenkonflikte (S. 173).

Kapitel 7 und 8 zeigen am deutlichsten den Erkenntnisgewinn von Luchterhands Forschungsarbeit, werden hier doch weitreichende Thesen formuliert. Luchterhand schließt aus den Interviews, dass mit zunehmender Haftdauer bestimmte Lagersituationen eindeutig entlastend auf traumatische Erfahrungen wie Deportationen wirken konnten, sofern „förderliche zwischenmenschliche Beziehungen, d.h. die Begründung emotional tiefer und stützender Bindungen mit einem oder mehreren Häftlingen“ bestanden (S. 210). So konnten beispielsweise Gedanken an Selbstmord und der Prozess der Muselmanisierung überwunden werden (S. 211). Kapitel 8 untersucht schließlich Häftlingsverhalten in speziellen Extremsituationen. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht ein verlängerter Häftlingsappell in Buchenwald „an einem Tag im Dezember 1938“ (S. 217). Mit Hilfe der Aussagen seiner fünf Sonderinformanten kommt Luchterhand zu dem Schluss, dass der gemeinsam durchgestandene Appell und die gegenseitige Hilfe das Wir-Gefühl stärkten und insgesamt einen positiven Einfluss auf die Ausweitung der Entwicklung der Häftlingsgesellschaft hatten (S. 224). Demgegenüber „scheint [es] zahlreiche Belege dafür zu geben, dass Zugtransporte“ (S. 233), bei denen die „Konflikte zuweilen dem Extremfall des Hobbesschen ‚Krieges aller gegen alle“ (S. 238) nahekamen, „eine einseitige destruktive Auswirkung auf die Häftlingsgesellschaft hatten“ (S. 233).

Elmer Luchterhands Dissertation ist, trotz ihrer sprachlichen und inhaltlichen Schwächen, eine erkenntnisreiche Studie, die ihr Potenzial insbesondere dann entfaltet, wenn man sie quer zu den Forschungsergebnissen seit den 1950er-Jahren liest. Mit Blick auf die Häufig- und Notwendigkeit wechselseitiger Beziehungsmuster der Häftlinge beispielsweise, die Luchterhand für Frauen und Männer seines Samples gleichermaßen herausarbeitet, wäre aus Sicht der gender und masculinity studies die These kritisch zu hinterfragen, die das Bilden von pragmatischen surrogate families vor allem Frauen zuschreibt.7 Zu denken wäre aber auch an wenig beachtete oder marginalisierte Themen wie Sexualität im Lager oder die komplexe Lebenswirklichkeit von Muselmännern, die in der Literatur oft stereotyp als „lebende Tote“ dargestellt werden, die die Fähigkeit zur Bildung sozialer Beziehungen verloren hatten – zwei Bereiche, denen Luchterhand in seinem Interviewleitfaden einen prominenten Platz zuteilt (S. 261–273). Die von Andreas Kranebitter und Christian Fleck aufwendig und sorgfältig edierte Qualifikationsschrift zeichnet sich auch durch die materialreiche Einleitung aus, die aufgrund ihrer Themensetzung aber bedauerlicherweise eine Leerstelle hinterlässt. Dort, wo u.a. das politische Profil von Luchterhand oder der wissenschaftliche Zeitgeist des Department of Sociology herausgearbeitet werden, wäre ein Abschnitt wünschenswert gewesen, der die Studie themengeschichtlich kontextualisiert. Durch den kritischen Bezug auf Bettelheim drängt sich eine Einordnung der Forschungsarbeit in das Korpus der frühen KZ-Forschung u.a. von Paul Martin Neurath, Eugen Kogon, Hannah Arendt, Leo Löwenthal – um nur die Prominentesten zu nennen – nachgerade auf und hätte der Einleitung zu einem stärkeren Profil verholfen. Insgesamt wird das Projekt einen wichtigen Anteil daran haben, die bislang wenig beachtete Studie von Elmer Luchterhand auf die Karte der frühen KZ-Forschung zu setzen.

Anmerkungen:
1 Christian Fleck / Albert Müller / Nico Stehr, Nachwort, in: Paul Martin Neurath, Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, hrsg. v. Christian Fleck und Nico Stehr, Frankfurt am Main 2004, 409–454, hier: S. 435.
2 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993, S. 37.
3 David P. Boder, I Did Not Interview the Dead, Urbana 1949. Digitalisierte Audioaufnahmen und Informationen zum Projekt finden sich online unter: http://voices.iit.edu.
4 Bruno Bettelheim, Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, in: The Journal of Abnormal and Social Psychology 38/4 (1943), S. 417–452.
5 Auch Bettelheims Versuche, seine Ergebnisse zu publizieren, blieben zunächst erfolglos. Siehe zusammenfassend Kim Wünschmann, The ‘‘Scientification’’of the Concentration Camp. Early Theories of Terror and Their Reception by American Academia, in: Leo Baeck Institute Year Book 58/1 (2013), S. 111–126, hier: S. 115f.
6 Luchterhand verwendet den Begriff in nicht unproblematischer, da zu häufig in zu verallgemeinernder Weise, vgl. S. 130.
7 Kritisch hierzu bereits: Anna Hardman, Representations of the Holocaust in Women’s Testimony, in: Andrew N. Leak (Hrsg.), The Holocaust and the Text, Basingstoke 2000, S. 51–66; Na’ama Shik, Infinite Loneliness. Some Aspects of the Lives of Jewish Women in the Auschwitz Camps According to Testimonies and Autobiographies Written Between 1945 and 1948, in: Doris L. Bergen (Hrsg.), Lessons and Legacies VIII. From Generation to Generation, Evanston 2008, S. 125–156.

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