G. Dietrich: Kulturgeschichte der DDR Band I–III

Cover
Titel
Kulturgeschichte der DDR. Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957; Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976; Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990


Autor(en)
Dietrich, Gerd
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
LXII, 2.429 S., 11 Abb., 3 Bände
Preis
€ 120,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Berlin

Eine Kulturgeschichte der DDR auf fast 2500 eng bedruckten Buchseiten – eine wissenschaftliche, publizistische Leistung, die angesichts des schieren Umfangs Respekt und Anerkennung erheischt. Das Buch – es ist nur vom Buchbinder in drei Teile zerlegt worden, die Seitennummerierung erfolgt durchgängig – stellt ein Lebenswerk in doppelter Hinsicht dar. Es bildet den krönenden Höhepunkt der wissenschaftlichen Arbeit von Gerd Dietrich. Und es stellt zugleich die Summe einer lebenslangen Beschäftigung mit diesem Thema im Rahmen einer ungewöhnlichen wissenschaftlichen Biographie dar.

Gerd Dietrich, Jahrgang 1945, legte zunächst eine nicht untypische DDR-Historikerkarriere hin: Abitur, anschließend zwei Jahre als Arbeiter in der Produktion tätig und dann ein Geschichts- und Sportlehrerstudium. Nach der Beendigung nahm er keine Tätigkeit als Lehrer auf, sondern wurde an das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (IML) berufen. Bei diesem handelte es sich neben dem Institut bzw. der späteren Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED um das Leitinstitut für ideologische und historische Fragen in der DDR. Dietrich arbeitete am IML in der Abteilung für Geschichte nach 1945. 1978 promovierte er mit einer Arbeit zur SED-Geschichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ebenfalls am IML verteidigte er 1987 eine Dissertation B, die die SED-Kulturpolitik vor der DDR-Gründung zum Gegenstand hatte. Einen Dokumentenband zur Kulturpolitik in der SBZ hatte er zuvor schon herausgegeben („Um die Erneuerung der deutschen Kultur“, 1983). Dietrich rieb sich in der Gorbatschow-Ära wie viele andere an den DDR-Verhältnissen, an der SED und am IML, ohne gleich Dissident zu werden. Im Rückblick betrachtet war es für ihn wie eine kleine Befreiung, dass er 1987 ans Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften (AdW) wechseln durfte, wo die politischen und ideologischen Zügel weniger straff als am IML gehalten wurden. Der Wechsel an die AdW war auch deshalb ein Glücksfall, weil Dietrich nach der Herstellung der staatlichen Einheit nur deswegen in bundesdeutschen Institutionen – wenn auch stets in befristeten Arbeitsverhältnissen – arbeiten konnte. Von einem SED-Institut aus wäre ihm dies kaum möglich gewesen. Von 1992 bis 2010 lehrte er DDR-Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, über einen solchen kontinuierlichen Zeitraum hinweg als einziger vormaliger DDR-Historiker überhaupt.

Dietrichs Biographie, der seit 1990 auch Mitglied des Unabhängigen Historiker-Verbandes (UHV) war und dort mehrere Jahre im Vorstand mitarbeitete, ist von wissenschaftlichen Entwicklungen und Brüchen gekennzeichnet, die ihn prädestiniert erscheinen lassen, eine DDR-Kulturgeschichte zu verfassen. Sein bislang wichtigstes Buch war 1993 erschienen: „Politik und Kultur in der SBZ 1945–1949“. Schon hier hatte er sich als exzellenter Kenner dieser historischen Entwicklungen und Prozesse erwiesen; sein Detailwissen war bereits in diesem Buch imponierend. Das alles spiegelt sich nun in seinem Opus Magnum auf geradezu erschlagende Art und Weise erneut wider.

Das Buch gliedert sich in drei große Kapitel: erstens „Kultur in der Übergangsgesellschaft, 1945–1957“, zweitens „Kultur in der Bildungsgesellschaft, 1957–1976“ und drittens „Kultur in der Konsumgesellschaft, 1977–1990“. Mit diesen Zäsuren orientiert sich Dietrich ganz bewusst an kulturpolitischen, nicht an politischen Zäsuren in der DDR-Geschichte. Jedes Großkapitel erfährt Binnenzäsuren, die eher darstellerischen Gesichtspunkten folgen. Allerdings zeigt sich hier, dass die in der interessanten Einleitung formulierte Absicht, anhand kulturpolitischer Zäsuren die Darstellung zu strukturieren, nicht durchgehalten werden konnte: Sämtliche kulturpolitische Binnenzäsuren könnten auch als politische Binnenzäsuren gelten.

Gerd Dietrich arbeitet mit einem Kulturbegriff, der faktisch nichts ausschließt (S. XXVII). Es gebe keinen anerkannten Kulturbegriff. Dietrich bekennt sich auf eine sympathische Art zu einem unorthodoxen Eklektizismus. Hierbei ist seine Prägung durch die marxistische Kulturwissenschaft, wie sie in der DDR betrieben worden ist, nicht zu überlesen. Auf eine selten wahrgenommene Weise bekennt er sich – ablesbar an sehr vielen Fußnoten – ausdrücklich zu ihren Produkten. Methodisch verfolgt er den Ansatz, sich von der gegenwärtig „dominierenden politischen Geschichtsschreibung zu lösen und die DDR stärker mit kulturwissenschaftlichen und praxeologischen Ansätzen zu untersuchen, um sie ‚ambivalenzfähig zu machen‘“ (S. XXVI). Er versteht dabei die DDR als „moderne Diktatur“ (S. XXIX); Ideologie als Teil der Diktatur oder der Kultur bleibt allerdings weitgehend ausgespart. Die Arbeit wird nicht mit theoretischen Erörterungen überfrachtet. Dietrich geht vielmehr von folgenden Kultur-Funktionen aus, die er seiner Darstellung unterlegt: Um-Erziehung, Hochkultur, Demokratisierung, Produktivität, Breitenwirkung und Unterhaltung (S. XXXII–XXXIV). Auf diese Aspekte kommt er in Zusammenfassungen immer wieder zurück.

Drei Aussagen von Dietrich beschreiben die Anlage des Bandes treffend. Erstens: Er habe ein Nachschlagewerk geschrieben, das er in der Lehre selbst immer schmerzlich vermisst habe. „Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird freilich nicht erhoben, abschließende oder gar endgültige Wahrheiten sind nicht zu erwarten“ (S. XLI). Auch wenn diese in der Wissenschaft ohnehin nie jemand erwartet, so ist zu unterstreichen, dass dieses Buch tatsächlich eher ein umfassendes Nachschlagewerk denn ein Lesebuch, eher ein Buch überreich mit Kenntnissen denn Erkenntnissen ist. Allerdings ist es auch kein richtiges Nachschlagewerk, weil es keiner einheitlichen Systematik folgt, weil man, wenn man etwas sucht, doch ziemlich lange sucht und dann nicht alles findet, was man sucht. Und weil es keine Sach- und Institutionenregister aufweist. Schließlich fällt das Literaturverzeichnis angesichts des Gesamtumfangs des Werks fast kümmerlich aus. Dietrich hat dort einige der aus seiner Sicht wichtigen Werke erfasst, weitaus weniger als in den Fußnoten auftauchen. Wünschenswert wäre eine systematisch strukturierte Bibliographie gewesen – für ein Nachschlagewerk fast eine Mindestvoraussetzung.

Gerd Dietrich schreibt sodann: Die Darstellung „ist weniger ein Buch, das man liest, sondern mehr ein Buch, in dem man liest.“ (S. XLII). Ich habe das Buch eher gelesen denn darin gelesen, um in Dietrichs Bild zu bleiben. Und ich muss sagen, ja, der Autor hat Recht, man kann das nicht wirklich lesen, weil es überwiegend eine unglaubliche Fundgrube für Fakten, Daten, Namen, Zahlen darstellt. Dietrich interessiert sich für Sport ebenso wie für Literatur, für Theater wie für Filme, für Architektur wie für Vereine, für Opposition wie für Volkskultur, für Buchläden wie für Witze, für Alltagssorgen wie für Kirche, für Geschichtsschreibung wie für Musiktrends, für Arbeitskultur wie für Dorfkultur, für vieles, vieles weitere. Im schlechten Sinne würde man eine „Tonnenideologie“ oder „Materialschlacht“ beklagen, im besten Sinne könnte man von einer außerordentlich profunden Sammlung sprechen, die eine wahrlich andere DDR entstehen lässt, als sie von den von Dietrich kritisierten politikhistorischen Darstellungen gezeichnet wird. Freilich ist zu konzedieren, dass dies nicht immer gleich überzeugend ausfällt. Warum ist von der kulturpolitischen Steuerung bzw. den Steuerungsversuchen der SED so wenig zu lesen? Warum fehlen als wichtige Kulturvermittler die Bildungseinrichtungen? Warum werden die Massenmedien als Kulturträger und Kulturtransporteure nicht einbezogen? Warum gibt es keine Auseinandersetzung mit der Ideologie? Warum fehlen das Ministerium für Staatssicherheit und seine Inoffiziellen Mitarbeiter fast durchgängig? Warum ist so wenig von Abweichungen, von Ausgrenzungen, von Verfolgungen, von „innerer Emigration“, von Folgen der Zensur zu lesen? Die Liste ließe sich fortsetzen.

Dietrichs Buch ist, anders als vom Autor apostrophiert, weit mehr als „nur“ eine Kulturgeschichte, es ist eine DDR-Geschichte in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Gerd Dietrich montiert diese Geschichte aus vielen autonomen, von Staat und Gesellschaft nicht losgelösten, aber doch sich in hohem Maße selbst verwirklichenden Sektoren. So geht zwar das Spezifische der jeweiligen Darstellungsbereiche nicht verloren, der Charakter der DDR als Gesamtkunstwerk aber bleibt unterbelichtet. Das politische Wesen DDR löst sich förmlich unter der Hand auf; die Kulturen in der DDR wiederum erscheinen wie von Geisterhand geführt und zusammengehalten, ohne dass sie in sichtbaren Bezug zueinander stünden. Insofern ist Dietrichs Ansatz, „Nachrichten aus Ambivalencia“ (G. Kunert) anbieten zu wollen (S. XLII), vollkommen aufgegangen.

Drittens formulierte Gerd Dietrich: „Der ältere Kenner wird im Detail nichts Unbekanntes finden, aber vielleicht neue Ein- und Durchblicke gewinnen. Die jüngeren Leser sollen von Dingen erfahren, die ihnen womöglich gänzlich unbekannt sind, weil sie im bisherigen Bild der DDR nicht vorkommen“ (S. XLI). Ein DDR-Bild gibt es nicht. Wie Kulturen gibt es DDR-Bilder nur im Plural. Insofern habe ich nichts gefunden, was jüngeren Leserinnen und Lesern deshalb unbekannt sein könnte, weil es anderswo bislang nicht stand.

Die Komposition des Buches fällt konventionell aus. Das ist zum Nachschlagen vorteilhaft, verhindert aber letztlich neue Durchblicke. Viele neue Einblicke hingegen hält der voluminöse Band bereit (zum Beispiel arbeitet Dietrich heraus, dass Ulbricht 1965 ein Getriebener von Honecker war; auch die Offenheit der Situation zwischen 1945 und 1947 stellt er sehr überzeugend dar). Der Autor setzt nicht auf steile Thesen oder kühne Behauptungen. Es ist kein Debatten-, Methoden- oder Theoriebeitrag. Das macht das Buch wiederum zu einem Standardwerk; es muss nicht befürchtet werden, dass es mit der nächsten Mode-Methode oder kurzzeitigen Mainstreamtheorie veraltet erscheint. Fehler und verkürzte Darstellungen enthält es wie jedes andere Buch auch, wenn auch angesichts des Umfangs in überschaubarer Anzahl: Gagarin fliegt hier bereits 1960 ins All, der Freidenker-Verband kommt ohne die realhistorischen Entstehungskontexte daher, die Opposition vor 1989 erscheint blass und fahl, das „Magdeburger Börde-Projekt“ der AdW findet erstaunlicher Weise keine Erwähnung, (S. 1739f.) ebenso wenig wie die (auch politisch!) überraschenden und erfolgreichen Kinderbücher von Isolde Stark (S. 1673f.), bei der es sich immerhin um eine UHV-Kollegin von Dietrich und eine Schülerin der vom Autor zu Recht mehrfach gewürdigten Charlotte Welskopf-Henrich handelt. Das sind nur vier Beispiele für faktische Fehler, fehlende Kontexte, eine unzureichende Analyse des Spezialstoffes oder fehlende Angaben; davon gibt es eine ganze Menge, was aber angesichts des immensen Materials, das es zu bewältigen gab, nur zu verständlich ist. Und zugleich muss betont werden: das ist keineswegs prägend für das Buch, keineswegs!, muss aber der Vollständigkeit halber Erwähnung finden.

Methodisch hingegen sind zwei Kritiken vorzubringen. Erstens ist zu nennen, dass Gerd Dietrich relativ sparsam mit Fußnoten agiert. Häufig vermisst man die entsprechende Forschungsliteratur zu dem einzelnen Thema. Auffällig ist auch, dass Dietrich auf einige Autoren besonders gern zurückgreift, auch dann, wenn deren Schriften im konkreten Zusammenhang weder naheliegen noch die Autoren als den Forschungsstand dazu bestimmend gelten könnten (zum Beispiel Wolfgang Engler). Das wird besonders für Studierende ärgerlich sein, wenn sie auf „den Dietrich“, wie er künftig genannt werden wird, zurückgreifen werden. Eine andere Beobachtung fällt vielleicht nur dem Rezensenten auf, weil ich da – zugegebenermaßen – außerwissenschaftlich beeinflusst bin: Ich kenne kein ernstzunehmendes wissenschaftliches Buch aus den letzten 25 Jahren zur DDR-Geschichte – und dieses Buch ist fraglos ernst zu nehmen –, in dem die Produkte der Zeitgeschichtsschreibung aus der DDR derart kommentarlos als wissenschaftliche Referenzwerke verwendet werden. Das ist sehr überraschend. Damit soll gar nicht behauptet werden, dass Bücher zur DDR-Geschichte aus der DDR prinzipiell keine wissenschaftliche Relevanz hätten. Doch diese Produkte umstandslos, ja, kritiklos als Referenzwerke anzugeben, als stünden sie insgesamt noch für mehr als für den Grad ideologischer Ansprüche und wissenschaftlicher Ansätze der DDR, erscheint – auch und gerade kulturhistorisch gesehen – etwas unreflektiert. Eine Absicht des Autors dahinter zu vermuten schiene mir jedoch unangemessen.

Die zweite methodische Kritik fällt grundsätzlicher aus und hat weniger „Geschmäckle“ (was ich gern zugebe): Was ist nun eigentlich das Besondere an den Kulturen, den kulturellen Erscheinungen in der DDR gewesen? Diese Frage überlässt uns der Autor. Angesichts von 2500 Buchseiten kann man sich schlecht auf das Argument zurückziehen, kein Autor könne alles. Denn das Besondere, das Spezifische bleibt auf eine eigentümliche Weise ungenannt, verborgen, weil Vergleiche ob diachroner oder synchroner Art gänzlich unterbleiben. Entwicklungen in der Bundesrepublik, in Polen oder der UdSSR, in Ost- oder Westeuropa, gar globale Trends bleiben unsichtbar, so dass auch die Entwicklungen in der DDR etwas in der Schwebe bleiben und ihre historische Einordnung erschwert wird. Hier hat der Autor wissenschaftlich viel vergeben.

Auch wenn einige Kritikpunkte ausgeführt wurden: Gerd Dietrich hat ein großes Buch, ein bleibendes Buch, ein wichtiges Buch, ein Standardwerk vorgelegt. Generationen von Studierenden werden es ihm noch danken. Keine DDR-Forscherin oder kein DDR-Forscher wird „den Dietrich“ künftig übersehen können.

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