L. Aschauer: Gebärende unter Beobachtung

Cover
Titel
Gebärende unter Beobachtung. Die Etablierung der männlichen Geburtshilfe in Frankreich (1750–1830)


Autor(en)
Aschauer, Lucia
Reihe
Geschichte und Geschlechter 71
Erschienen
Fankfurt a. M. 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schlumbohm, Göttingen

Das Buch, hervorgegangen aus einer Bochumer Dissertation und veröffentlicht in der Reihe Geschichte und Geschlechter, fragt nach dem wechselseitigen Zusammenhang zwischen publizierten Fallgeschichten und der Etablierung einer wissenschaftlich-männlichen Geburtshilfe. Es behandelt die 278 geburtshilflichen Fallgeschichten (observations, Beobachtungen, genannt), die 1754–1822 in der allgemeinmedizinischen Zeitschrift Journal de médecine, chirurgie, pharmacie bzw. ihren Vorläufern und Fortsetzungen gedruckt wurden. Ergänzt wird dieses kompakte Quellenkorpus durch einzelne Fälle aus einer populärwissenschaftlichen medizinischen Zeitschrift und aus einem Traktat des führenden Geburtshelfers Jean Louis Baudelocque.

Die übersichtlich gegliederte und präzise formulierte Arbeit stellt in der Einleitung (S. 9–46) ihre Methode und Quellen sowie den internationalen Forschungsstand zur Gattung der Fallgeschichte vor. Durchgehend gewinnt die Autorin ihre Erkenntnisse, indem sie die Hypothesen der Forschungsliteratur an einzelnen Beispielen ihres Quellenmaterials prüft, konkretisiert oder modifiziert. Der erste Hauptteil (S. 47–156) untersucht die Theorie und Praxis der wissenschaftlichen Gattung geburtshilfliche Fallgeschichte. Zunächst (S. 49–69) geht es um das Problem der wissenschaftlichen Beobachtung, ihren Aufstieg im Zuge des „gelehrten Empirismus“. Dabei wird mit Recht hervorgehoben, dass wichtiger als die Sinneswahrnehmung die Analyse und Kombination, der Vergleich und die Schlussfolgerungen waren; daher war der Wert einer Beobachtung an die Person des Beobachters gebunden. Danach (S. 70–93) stehen einerseits die Anforderungen im Fokus, die in den zahlreichen Anleitungen an eine gute Fallgeschichte gestellt wurden, andererseits der sehr freie Umgang der geburtshilflichen observations mit diesen Konventionen. Hier fällt auch ein Blick auf die Verfasser der Texte (S. 84f., 327f.): Chirurgen oder Doktoren der Medizin, von denen nur eine Minderheit auf Geburtshilfe spezialisiert war, verteilt über ganz Frankreich, einige aus anderen Ländern; drei Hebammen. Anschließend (S. 94–115) wird auf „Spuren“ verwandter Textgattungen (Sektionsbericht, Rezept und andere) hingewiesen, die in manche Fallgeschichten integriert waren. Schließlich (S. 116–156) werden die Funktionen analysiert, die die geburtshilflichen observations je nach ihrem Publikationsort (Fachzeitschrift, populäres Journal, thematische Fallsammlung) erfüllten: Abbildung, Popularisierung, Bildung von Wissen. Am Beispiel der Debatte um die Schambeinsektion (1777/78) wird gezeigt, wie in der neuen Disziplin der Geburtshilfe ein einzelner Fall paradigmatischen Status erlangen konnte.

Der zweite Hauptteil (S. 157–263) behandelt die Fallgeschichte als „Wirklichkeitserzählung“; Ziel ist eine „Narratologie des Faktualen“ (im Unterschied zum Fiktionalen, für das Erzähltheorie und -forschung schon viel weiter entwickelt sind). Als erstes (S. 159–204) geht es um die Erzählstrategien, mit denen Evidenz und Autorität erzeugt werden. Hier stand der Autor der geburtshilflichen observation, der zugleich Protagonist der Geschichte war, vor besonderen Herausforderungen, da er nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem erzählten Verlauf von Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett selbst miterlebte, obendrein in der Privatpraxis nur beschränkt Zugang mit Auge und Hand zum Körper der Frau hatte. Dann legt die Verfasserin dar, wie zwei Hauptfiguren in den Fallgeschichten stilisiert werden: Der männliche Geburtshelfer erscheint als heroischer Retter (S. 205–223), die Hebamme, zunächst als unwissende und unfähige Konkurrentin diskreditiert, wird zur untergeordneten Gehilfin (S. 224–240). In zwei Fallgeschichten (S. 214, 217) klingt an, dass der kindertötende Dorfchirurg prompt sein Honorar kassiert, während dem erfolgreichen Geburtshelfer die Freude über seine lebensrettende Tat als „einzige Belohnung“ genügt: Über Geld spricht der Heros nicht. Andere Figuren wie die helfenden Frauen und der Ehemann tauchen zwar in den Zitaten aus den observations auf, werden aber nicht eigens thematisiert, – nicht einmal die Patientin! Das überrascht umso mehr, als es dazu in der Literatur zur Geschichte der Medizin und besonders der Geburtshilfe ein reiches Vergleichsmaterial gibt.1 Im Vorübergehen wird einmal „Stimmlosigkeit der Gebärenden“ (S. 152) in den Fallgeschichten konstatiert; doch in zahlreichen angeführten Texten kommen Patientinnen in indirekter oder direkter Rede zu Wort. Regelmäßig werden sie mit Namen, Stand, Wohnort genannt, was freilich nicht bedeutet, sie als individuelle Personen auftreten zu lassen, sondern – wie die Erwähnung von Zeugen – der Beglaubigung dient. Das abschließende Kapitel zeigt, wie in der Frühen Neuzeit Diagnose und Behandlungsverfahren zwischen der Schwangeren/Gebärenden, ihren Angehörigen und dem Geburtshelfer ausgehandelt wurden. Im Kontrast dazu steht die These, illustriert durch eine einzige Fallgeschichte, dass in der Entbindungsklinik die Expertenstimme des Geburtshelfers „ihre volle Souveränität“ erlangte (S. 263). Weder weitere Quellen noch einschlägige Forschungsliteratur werden dabei herangezogen.

Der Anhang bietet ein Quellenbeispiel (S. 329–341) und führt die 278 observations mit Titel und Autor auf (S. 296–326); erfreut hätte den Leser, wenn zugleich die Stellen angegeben wären, an denen die Verfasserin sie benutzt und interpretiert. Bei der Durchsicht fällt auf, dass einige Autoren mit einer ganzen Reihe von Fällen vertreten sind; eine Auswertung dazu hätte das Quellenkorpus und seine Urheber strukturiert.

Insgesamt gelangt Aschauer zu vertieften, empirisch gesättigten Einsichten in die narrativen Strukturen und epistemischen Funktionen der wissenschaftlichen Fallgeschichte. Ihr Weg besteht darin, dass sie die Ansätze der Erzähltheorie, die bisher eher in Form von allgemeinen, auf wenige Beispiele gestützten Thesen vorliegen, gewissermaßen in einen Dialog treten lässt mit dem konkreten Quellenkorpus, das sie analysiert.

So gut die Verfasserin die Forschungsliteratur zur Theorie und Geschichte der Fallerzählung kennt und nutzt, so beschränkt ist der Gebrauch, den sie von der Literatur zur Geschichte der Geburt und Geburtshilfe macht. In begrenzter Auswahl angeführt, wird sie nur sporadisch genutzt. Infolgedessen kann Aschauer zwar die These belegen, dass die Fallgeschichten den Anspruch ausdrückten, ein überlegenes neues Wissen von der Geburt zu begründen. Die geschlechtergeschichtliche Pointe, dass dieses wissenschaftliche Wissen ein männliches war, bleibt hingegen unbewiesen. Ebenso erscheint die These, dass die Fallgeschichten dazu beitrugen, die männliche Geburtshilfe zu etablieren (Untertitel), die Hebammen „zu reinen Erfüllungsgehilfinnen der männlichen Geburtshelfer“ zu degradieren (S. 13f.), eher als Vorannahme denn als Ergebnis ihrer Arbeit.

Offenbar ist der Verfasserin entgangen, dass gerade für das Frankreich des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts diese Aussagen nicht uneingeschränkt zutreffen. Keineswegs erlangten die Chirurgen und Ärzte als Lehrer und Vorgesetzte eine unbestrittene Vorrangstellung. Es war eine Frau, die „Königliche Hebamme“ Madame Du Coudray, die 1759–1783 im Auftrag der Regierung in den verschiedensten Regionen Frankreichs geburtshilfliche Kurse hielt und Hebammen, aber auch Chirurgen und Ärzte unterrichtete.2 Die große Gebärabteilung des Hôtel-Dieu in Paris, die von Medizinern im 18. Jahrhundert als beste Schule in Europa gerühmt wurde, stand faktisch unter Leitung der Chefhebamme.3 Die in den 1790er-Jahren neu gegründete Maternité von Port-Royal, Paris, bald eines der größten Geburtshospitäler Europas, wurde ebenfalls effektiv von der Chefhebamme geleitet; der Chef-Geburtshelfer, Anfang des 19. Jahrhunderts kein geringerer als Baudelocque, erschien nur, wenn ihn die Chefhebamme rief. In den 1820er-Jahren verteidigte diese ihre Vormachtstellung gegen den neuen accoucheur en chef, der die effektive Direktion der Klinik übernehmen wollte; nicht zufällig entbrannte der Konflikt um die Frage, wer von beiden zur Führung der Fallgeschichten im Hospital-Register befugt sei.4 Ausgebildet wurden in Port-Royal ausschließlich Hebammen, ganz überwiegend von der Chefhebamme und ihren Helferinnen; männliche Studenten hatten keinen Zutritt. Der theoretische und praktische Kursus dauerte ein bis zwei Jahre; kaum ein Chirurg oder Arzt genoss eine so gründliche Ausbildung in der Geburtshilfe. Auch traten nicht wenige Hebammen mit Fachpublikationen hervor; das Handbuch der Pariser Chefhebamme Marie-Louise Lachapelle, das zahlreiche Fallgeschichten enthält, gab nach deren Tod ehrfurchtsvoll ihr Neffe, Professor der Geburtshilfe an der Universität Montpellier, heraus.5 Solche von Hebammen geschriebenen Texte hätte die Verfasserin zum Vergleich heranziehen können, wenn sie die spezifisch männliche Stoßrichtung der geburtshilflichen Fallgeschichten empirisch untermauern wollte. Stattdessen hat sie sogar die wenigen von Hebammen verfassten observations ihres Korpus beiseitegelassen (S. 84 Anm.).6

So ist die Bilanz ambivalent: Das Buch überzeugt durch seine kluge Analyse der Texte; wo diese zu der außertextlichen Realität der französischen Geburtshilfe in Beziehung gesetzt werden, bleiben Fragezeichen.

Anmerkungen:
1 Jürgen Schlumbohm, Lebendige Phantome. Ein Entbindungshospital und seine Patientinnen 1751–1830, Göttingen 2012.
2 Jacques Gélis, La sage-femme ou le médecin, Paris 1988, S. 111ff.; Nina Rattner Gelbart, The king’s midwife. A history and mystery of Madame du Coudray, Berkeley 1998.
3 Scarlett Beauvalet-Boutouyrie, Naître à l’hôpital au XIXe siècle, Paris 1999, S. 25ff.
4 Ebd., S. 130ff.; dies., Die Chef-Hebamme, in: Jürgen Schlumbohm / Barbara Duden u.a. (Hrsg.), Rituale der Geburt, München 1998, S. 221–241, auch zum Folgenden. – Bei den Hebammenschulen in den Provinzen war die weibliche Vorherrschaft nur in einzelnen Fällen so ausgeprägt, die Unterordnung unter einen accoucheur-Chirurgen jedoch oft eher auf dem Papier als in der Praxis gegeben: Nathalie Sage Pranchère, L’école des sages-femmes. Naissance d’un corps professionnel, 1786–1917, Tours 2017, S. 275ff., 285ff.
5 Marie Louise Lachapelle, Pratique des accouchements ou mémoires et observations choisies sur les points les plus importants de l’art, 3 Bde., Paris 1821–1825. Verzeichnis der Publikationen französischer Hebammen im 19. Jahrhundert: Sage Pranchère, L’école des sages-femmes. S. 433–436.
6 Zwei davon stammen von einer Hebamme, die am Pariser Hôtel-Dieu ausgebildet worden war (S. 300f.).

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