J. Roos: Ausstellungen als öffentliches Ärgernis?

Cover
Titel
Ausstellungen als öffentliches Ärgernis?. Die bundesdeutsche Museumskontroverse der 1970er-Jahre um das Präsentieren von Vergangenheiten


Autor(en)
Roos, Julia
Reihe
Vogtensien – Impulse für die Museumspädagogik 5
Erschienen
Berlin 2018: BibSpider
Anzahl Seiten
625 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Kühne, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Historisierung sowohl der west- als auch der ostdeutschen Museumsgeschichte im Rahmen einer umfassenden Geschichte des Ausstellens gewinnt erst seit wenigen Jahren vermehrte Aufmerksamkeit. Während es an Einzeldarstellungen von Ausstellungsereignissen und musealen Sammlungspräsentationen nicht mangelt, sind format- und disziplinübergreifende Analysen nach wie vor eine Seltenheit. Julia Roos versucht mit ihrer im BibSpider-Verlag erschienenen Dissertation eine Lücke in der westdeutschen Museumsgeschichte zu schließen. Sie widmet sich mit ihrer Untersuchung den 1970er-Jahren, die Anke te Heesen und Mario Schulze in einem 2015 erschienen Sammelband als „Sattelzeit“ des Museums konzeptionalisierten.1 Schulze befasste sich zudem in seiner Dissertation mit dieser Phase der deutschen Museumsgeschichte. Während er einen objektontologischen Zugang2 entwickelt und vor allem die Ausstellungspraxis jener Zeit unter die Lupe nimmt, orientiert sich Julia Roos an dem von Philipp Sarasin entwickelten Ansatz der historischen Diskursanalyse.

Darauf verweist auch der von ihr gewählte Titel. Er ist angelehnt an die Studie „Geschichte als öffentliches Ärgernis“ von Detlef Hoffmann aus dem Jahr 1974, die den Streit um die Neugestaltung des historischen Museums Frankfurt am Main reflektiert.3 Die öffentlich geführte Auseinandersetzung um die Neuausrichtung des Museums steht exemplarisch für die bundesweite Debatte um die Krise und Reform von kultur- und kunsthistorischen Museen in den 1970er-Jahren.

Roos' Arbeit erstreckt sich über 600 Seiten und umfasst im Wesentlichen drei Teile. Im ersten Kapitel führt sie theoretisch und methodisch ein und verortet ihre Forschung im historischen Kontext. Im Folgeabschnitt zeichnet sie die Museumskontroverse anhand von Fallbeispielen chronologisch nach und vertieft ihre Analyse im zweiten Teil nach thematisch aufgeschlüsselten Konfliktfeldern.

In der transparenten Beschreibung des Forschungsprozesses liegt die Stärke ihres Einleitungskapitels. Sie macht deutlich, wie sie sich den Quellen genähert hat, und kann überzeugend darstellen, wie sie zur Auswahl ihrer Falluntersuchungen gekommen ist. Insgesamt hätte ihre methodisch-theoretische Einführung und die Einbettung in die Forschungsdebatte eine umfassendere Darstellung benötigt. Julia Roos weist berechtigterweise auf die fehlenden Einzelstudien sowie eine bisher ausgebliebene komplexe Metageschichte des Ausstellens im Museum hin. Allerdings ist ihre Rezeption der gegenwärtigen Forschungsliteratur fast ausschließlich auf den deutschsprachigen Diskurs beschränkt. Zusätzlich hätte der Kernbegriff „Ausstellung“ einer präziseren Definition bedurft. Roos referenziert in ihrer Studie ausschließlich auf museale Sammlungspräsentationen, ohne dies als analytische Größe explizit zu machen. Daraus ergeben sich in der Folge immer wieder blinde Flecken in ihren Schlussfolgerungen. Bei einem Blick über die musealen Sammlungspräsentationen hinaus zeigt sich, dass anders als von ihr beschrieben, die 1950er- und 1960er-Jahre reich an anderen Ausstellungsformaten waren (S. 109ff.). Messen, Gewerbe-, Fach- und Konsumausstellungen, Reklame und Werbung sowie große politische Propagandaschauen fanden sich als Echo in der Museumkontroverse in den 1970er-Jahren wieder. Die in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten entwickelte Ausstellungspraxis außerhalb des Museums z.B. durch temporäre Großausstellungen der amerikanischen Besatzungs- und Kultureinrichtungen in Westdeutschland waren ein wichtiger Bezugspunkt für einige der späteren Protagonist:innen der Museumskontroverse.

Ihre analytische Stärke entfaltet Julia Roos an jenen Stellen, wo sie die museale Debatte mit den gesellschaftlichen Diskursen jener Zeit kontextualisiert. Sie nähert sich der Museumkrise von der Makroperspektive gesellschaftlicher und sozialer Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er-Jahre. Sie geht zunächst von der Feststellung aus, dass die Debatten der 1970er-Jahre um die Reform des Museums in der Bundesrepublik keineswegs nur als Verlängerung des historischen Orts „1968“ zu lesen sind, sondern dass das Jahrzehnt bisher zu wenig in einem eigenständigen Fokus stand. (S. 22ff.) Roos macht überzeugend deutlich, wie sehr die Kontroversen über die Institution des Museums zunehmen, als die westdeutsche Gesellschaft durch eine krisenhafte Periode der Selbstbefragung ging. Die Museen gerieten wie andere Institutionen im Rahmen der „Neuen Kulturpolitik“ und durch die sozialen Bewegungen unter Veränderungsdruck. Bis dahin verstanden sich Museen als „Musentempel“, in denen meist Kunstwerke als Museumsobjekte weitgehend ohne Kontexterklärungen ausgestellt wurden. Sie galten als elitär und, aufgrund fehlender Vermittlungsarbeit, außerhalb eines bildungsbürgerlichen Milieus als unzugänglich. Roos zeichnet nach, wie die Krisen der Bezugswissenschaften Geschichte, Volkskunde und Pädagogik Diskurse in die Ausstellungspraxis des Museums hineintrugen, die ein „Museum für alle“ forderten: Orientierung an der Alltagswelt der Menschen durch die Nutzung von Dingen, die keinen reinen Kunstcharakter hatten, eine Präsentationsweise, die die Ausstellungsinhalte breiten Bevölkerungsschichten zugänglich machte, und die Einrichtung einer Museumspädagogik, die in jener Zeit vornehmlich schulische Bildung mit dem Museum verknüpfen wollte.

Von der Makroebene wechselt Roos anschließend in die Darstellung des chronologischen Verlaufs der Kontroverse. Diese skizziert sie anhand von vier Fallbeispielen, die exemplarisch für die Museumsdebatte der 1970er-Jahre stehen: das Kunstpädagogische Zentrum in Nürnberg, als Beispiel für den Aufbruch der Pädagogik ins Museum; das Historische Museum der Stadt Frankfurt am Main, als Ort progressiver Emanzipationsideen in Inhalten und Gestaltung der Ausstellung; das Römisch-Germanische Museum in Köln, als Gegenpol zu Frankfurt, mit seinem Fokus auf Freizeitgestaltung und Alltagszerstreuung; und die Ausstellung „Zeit der Staufer“ im Landesmuseum Stuttgart, deren affirmativ-identitätsstiftender Charakter die Zeit des „Museumsbooms“ und der Block-Buster-Ausstellungen einläutete.

Diese Struktur trägt durch die erste Hälfte des Buches und wird mit einem zusammenfassenden Kapitel und einem Zwischenfazit abgeschlossen. An dieser Stelle führt Julia Roos in Jörn Rüsens drei Dimensionen der Geschichtskultur ein, um die folgenden Konfliktfeldanalysen theoretisch zu rahmen. Diese Aufteilung des Buches ermöglicht es Roos zwar, sich von der Chronologie der Kontroverse zu lösen. Leider wird das Buch durch die Trennung von Fallbeispielen und Analyse schwerer lesbar und erzeugt Redundanzen, da die ersten chronologischen Kapitel nicht ohne häufige Verweise und inhaltliches Vorgreifen auf die folgende Vertiefungsebene ihrer Studie auskommen.

Die Konfliktfeldanalysen als Einzelkapitel sind durchweg sehr gelungen. Die Autorin untersucht, wie der Anspruch eines „Museums für alle“ durch die unterschiedlichen Häuser interpretiert wurde, welche inhaltlichen, didaktischen und gestalterischen Zugänge sie wählten, an welches Publikum sie sich richteten und wie die Alltagsgeschichte ins Museum Einzug hielt. Sie macht den Dreiklang von Politik, Wissenschaft und Ästhetik von Rüsen nutzbar und erweitert ihn um die Dimension der Vermittlung (S. 512). Dieser Analyserahmen, das dialektische Vorgehen und ihr intensives Quellenstudium zeichnen ein vielfältiges und komplexes Bild in den von ihr ausgemachten Konfliktfeldern. Das wird beispielhaft deutlich in ihrem Fazit zur Veränderung in der Gestaltungspraxis und der Nutzung von Objekten im Museum: „Die Abkehr von großen Welterklärungsentwürfen am Ende der 1970er-Jahre verhalf dem musealen Objekt zum Wiederaufstieg. Die Vorstellung des musealen Objekts als ‚Beleg‘, wie sie in Frankfurt praktiziert wurde, konnte sich nicht lange halten, doch war das Frankfurter Extrem notwendig, um die Objekte von ihrem überlieferten Bedeutungszusammenhang freizusetzen und so inszenierte Arrangements zu ermöglichen.“ (S. 462) Roos schafft es, scheinbar klare Grenzen der Konfliktlinien zwischen Progressiven und Konservativen, zwischen Pädagog:innen und Museumspraktiker:innen sowie zwischen Politiker:innen und Wissenschaftler:innen in Frage zu stellen. Sie macht auf ähnliche Argumentationsstrukturen, aber auch auf Trennungslinien und den Bezug zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen aufmerksam. Roos arbeitet heraus, dass Konzepte wie „Bildung“, „Demokratie“ und „Identität“ je nach politischem Standort völlig unterschiedlich interpretiert und inhaltlich gefüllt wurden: kritisch-hinterfragend, gegenwartsaffirmierend oder kompensatorisch-identitätsstiftend. Alle von ihr genutzten musealen Fallbeispiele sind trotz ihrer Heterogenität Ausdruck der Veränderung im Bereich des Museums. Die als Krise wahrgenommene Zeit der 1970er-Jahre lässt sich laut Roos „im Nachgang als produktive Phase der Selbst-Verunsicherung beschreiben“ (S. 493), die notwendig war für die Konsolidierung und Öffnung des musealen Diskurses.

Wichtige Einflussfaktoren auf die Museumskontroverse werden allerdings nur erwähnt und von ihrer Analyse nicht erfasst. Insbesondere die Rolle transnationaler Netzwerke und Bezüge z.B. zur DDR sowie nichtmusealer Ausstellungspraktiken werden unterschätzt. Das liegt teilweise daran, dass hier noch viele offene Forschungsdesiderate vorliegen. An dieser Stelle macht sich jedoch auch die unscharfe begriffliche Eingrenzung ihres Ausstellungsbegriffs in der Einleitung bemerkbar.

Verkannt bleibt von Roos leider die Nutzung von fotografischen Abbildungen. Was hier nur zur Illustration des Geschriebenen dient, hätte mit einer Analyse der Bilder als eigenständige Quelle für die Darlegung zum veränderten Objektverständnis in den Museumsausstellungen beitragen können.

Trotz einiger Schwachstellen leistet Julia Roos in einem nach wie vor wenig erforschten Feld der deutschen Ausstellungsgeschichte eine wichtige und in weiten Teilen überzeugend argumentierte Pionierarbeit. Sie bettet gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse klug in die Debatten der Museumspraxis ein und zeichnet damit ein komplexes Bild von gegenseitigen Einflüssen und sich zeitlich überlagernder Veränderungsdiskursen. Mit ihrer vergleichenden Transformations- und Gesellschaftsgeschichte des Museums füllt Julia Roos eine Lücke zum Verständnis der Museumsentwicklung in der westdeutschen Nachkriegszeit.

Anmerkungen:
1 Anke te Heesen / Mario Schulze, Einleitung, in: Mario Schulze / Anke te Heesen / Vincent Dold (Hrsg.), Museumskrise und Ausstellungserfolg. Die Entwicklung der Geschichtsausstellung in den Siebzigern, Berlin 2015, S. 7. Siehe auch die Rezension dazu in: H-Soz-Kult, 20.04.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23715 (11.06.2021).
2 Mario Schulze, Wie die Dinge sprechen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjektes. 1968–2000, Bielefeld 2017. Siehe auch die Rezension dazu in: H-Soz-Kult, 19.01.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25986 (11.06.2021).
3 Detlef Hoffmann / Almut Junker / Peter Schirmbeck (Hrsg.), Geschichte als öffentliches Ärgernis oder ein Museum für die demokratische Gesellschaft. Das historische Museum in Frankfurt a.M. und der Streit um seine Konzeption, Fernwald / Wißmar 1974.

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