D. Tödt: Elitenbildung und Dekolonisierung

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Titel
Elitenbildung und Dekolonisierung. Die Évolués in Belgisch-Kongo 1944-1960


Autor(en)
Tödt, Daniel
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 228
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kirsten Rüther, Institut für Afrikawissenschaften, Universität Wien

Die Studie beginnt mit der Abbildung und Beschreibung einer Fotographie. Sie stellt eine Familie sogenannter Évolués dar, die in einem Wohnzimmer sitzt. Damit ist das Thema fokussiert: Auf den folgenden 392 Seiten geht es um die Herausbildung einer durch „social engineering“ des belgisch-kongolesischen Staates imaginierten Kollaborationselite, die nach 1945 in Annahme eines vorgegebenen Idealbildes ihrer sozialen und moralischen Vorbildfunktion gerecht zu werden hoffte. Als Projektionsfläche für Modernisierungsbestrebungen, Disziplin und koloniale Werte geltend, stellte sie ihre Ambitionen als grundsätzlich mit der Vorstellungswelt des Kolonialstaates vereinbar dar. Politisch eigenverantwortliches Handeln kam ihr als Wirkungsbereich erst kurz vor der überstürzt eingeleiteten Unabhängigkeit zu. Daniel Tödt fragt in seinem sorgfältig recherchierten Buch, das aus einer 2015 an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen Dissertation hervorging, danach, wie sich diese entstehende „moralische Elite“, eine Besonderheit des belgischen Kolonialismus, zu den ihr zugeschriebenen Funktionen und Repräsentationsidealen verhielt. Damit wirft er eine wichtige Frage auf, zumal tatsächliche soziale, politische und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten für diese entstehende Gruppe von Aufstiegswilligen kaum existierten. Hier ermöglicht das Beispiel Belgisch-Kongo den Blick auf eine Gesellschaft, in der „Kolonialismus bis Mitte der 1950er Jahre nicht grundsätzlich infrage gestellt, sondern lediglich dessen Form in Politik und Gesellschaft diskutiert [wurde]“ (S. 10). Der Autor bezeichnet dies als „leise Kritik“ (S. 12) und liefert den einprägsamen Begriff einer „Enttäuschungsgeschichte“ (S. 10).

Daniel Tödt formuliert ein anregendes Gesprächsangebot, das sich nicht nur an Historiker/innen richtet, die sich primär mit Gesellschaftsentwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent befassen, sondern auch an diejenigen, die sich für die Kolonial- und Globalgeschichte im weiteren Sinne interessieren. Zudem greift er auf Kompetenzen zurück, die primär im Rahmen eines Ethnologiestudiums vermittelt werden. Begrifflich setzt sich Tödt mit den „middle classes“, der „petit bourgeoisie“ und der „Elite“ auseinander.1 Der Rückgriff auf dieses breite Begriffsspektrum erweist sich für die Untersuchung als äußerst zuträglich, weil er sowohl deskriptiven wie auch analytischen Spielraum zwischen den überlappenden Disziplinen und ihren theoretischen und konzeptionellen Erörterungen eröffnet. Denn jenseits der als einschlägig zu bezeichnenden Bürgertumsforschung befassen sich Afrika-, Kolonial- und Globalhistoriker/innen gerade mit Gruppen, die ohne die klassisch „bürgerlichen“ Attribute gesellschaftlicher und politischer Teilhabe oder das Recht auf staatsbürgerliche Mündigkeit auskommen mussten (S. 21). Wie deren „Öffentlichkeit(en)“, „Vereinsgeselligkeit“ und durch Zeitschriften geprägte Meinungsbildung und politisch-kulturelle Selbstpositionierung aussahen, unterzieht Daniel Tödt der eingehenden Betrachtung.

Dazu wertet er zentrale Zeitschriften, allesamt kolonialstaatlich kontrollierte mediale Pilotprojekte, als „Orte kolonialer Subjektbildung“ (S. 150) aus, in (und auf) denen sich eine Elite verständigte, die aus einer lernbegierigen, aber mit höherer Bildung unterversorgten Gesellschaft hervorging. Primär „Afrikaner der Verwaltungsstuben“ (S. 62) und zurückkehrende Veteranen meldeten sich unter den gegebenen Umständen zu Wort. Nur wenig kann verwundern, dass die sich unter diesen Bedingungen entwickelnde Öffentlichkeit nicht primär kritisch, sondern paternalistisch durchwoben, kolonialstaatlich reglementiert und missionarisch gelenkt war. Der Kolonialstaat profitierte sogar von den Möglichkeiten, durch die Lektüre der Zeitschrifteninhalte und der ihr zugrunde liegenden Wissensgenerierung vor Ort zu neuen eigenen Erkenntnissen zu gelangen, und minimierte die Handlungsmacht solcher Provinzgouverneure, die mit den Maximen der Zentralregierung nicht immer übereinstimmten. Dies blieb in der bestrebten Elite nicht unbemerkt und ermutigte wiederum die Schreibenden, Forderungen hinsichtlich der eigenen Anerkennung zu formulieren.

Darüber hinaus stehen die Vereine als Orte und Instrumente afrikanischer Vergemeinschaftung im Fokus – auch sie von kolonialstaatlicher Seite gefördert und kein Ausgangspunkt für eine etwaige panafrikanische Solidarität (S. 183). Statt zu vereinheitlichen, betonte das gesellschaftliche Vereinswesen Differenzen und trug insbesondere in den Städten zur Ethnisierung bei. In Abgrenzung von kolonialstaatlicher und kirchlich-missionarischer Bevormundung griff nämlich vor der Unabhängigkeit die wenig konsolidierte Elite auf regional, sprachlich oder ethnisch definierte Gruppenbildung zurück. Daran anknüpfend konnte politische Gefolgschaft nach einer überstürzten Unabhängigkeit, die unter den Bedingungen extremer und – in der Kürze der Zeit – strukturell nicht konsolidierter Politisierung herbeigeführt wurde, bei künftigen Wahlen mobilisiert werden.

Um eine komplexe Dynamik in aller Kürze zu skizzieren: In Belgisch-Kongo wurde zwischen 1944 und 1960 in der medialen Öffentlichkeit und in Vereinen eine Kontroverse um zivilrechtliche Gleichstellung ausgetragen bzw. um die Hürden, die mit deren Erlangung verbunden waren. Mit der vorübergehend eingeführten „carte du mérite“ erhielt ein winziger Teil der Bevölkerung gestufte Privilegien, die im positiven Evaluierungsfall zur „immatriculation“ führen sollten. Eine echte Reform blieb allerdings aus. An ein Wahlrecht war ohnehin nicht zu denken (S. 266). Dennoch entglitt dem Staat mehrfach die Kontrolle über die Gleichstellungsambitionen der Elite. Grundsätzlich schürte der belgische Entwicklungskolonialismus in dieser Zeit zu hohe Erwartungen, die aufgrund politischer Ausgrenzung nicht einzulösen waren. Stattdessen basierte jeder Schritt zur Erlangung des Elitestatus auf der Zurschaustellung einer erwarteten „Moralität“, die die europäische Minderheit in der Kolonie allerdings verhöhnte und ins Lächerliche zog. Daniel Tödt betont, dass ein in Europa veraltetes und zudem verklärtes Konzept von Bürgerlichkeit in die Kolonie transferiert wurde, das, weil losgelöst von den Maximen der Konsumgesellschaft, der zeitgenössischen Amerikanisierung und weil larmoyant gegenüber dem sogenannten Werteverfall der Jugend, im Belgisch-Kongo der 1950er-Jahre nicht anschlussfähig war.

Die Untersuchung fügt sich in eine Reihe afrikawissenschaftlicher Veröffentlichungen, die die sogenannten „colonized middle“ oder „middling colonizers“ und deren Ambitionen und Enttäuschungen in den Blick nehmen. In den unabhängigen Staaten rückte diese Personengruppe dann in die erste und zweite Riege politischer und administrativer Amtsträger auf und reklamierte weiterhin die so lange vorenthaltenen Privilegien für sich, statt sich in der Gesamtheit als Kritiker der Macht zu exponieren.

Das Buch ist ausgezeichnet. Lediglich in einer Hinsicht macht es sich der Autor in seinem Werk tendenziell zu einfach: Er geht davon aus, dass „die afrikanische Elite […] aus Männern [bestand]“ (S. 23) und die Öffentlichkeit „exklusiv männlich“ (S. 80) war. Infolgedessen wird die Bedeutung von Frauen ausgeblendet, auch wenn sie in Zeitschriftenartikeln und Werbeanzeigen explizit oder implizit als Konsumentinnen, Einrichterinnen von Wohnzimmern oder Käuferinnen von Haushaltswaren angesprochen wurden. Weder als Ehefrauen aufstiegsorientierter Männer noch als Tanten, Großmütter oder Töchter sowie als unverheiratete Protagonistinnen ihrer Zeit werden sie thematisiert. Formierungen von Öffentlichkeit gingen jedoch mit der (diskursiven) Marginalisierung weiblichen Handelns konstitutiv einher.2 Wenn Tödt auf die Bedeutung von Statussymbolen wie beispielsweise Fahrrad, Nähmaschine und Radio (S. 174) verweist, lässt dies die Vermutung zu, dass Elitenbildung doch eine geschlechterspezifische Komponente besaß. Sogar das für die Veröffentlichung gewählte Umschlagbild zeigt immerhin eine Frau und einen Mann.

Dessen ungeachtet ist es Daniel Tödt gelungen, ein hervorragendes und darüber hinaus ausgesprochen gut lesbares Buch zu verfassen. Es steht zu hoffen, dass es in afrikawissenschaftlichen, kolonial- und globalhistorischen Kreisen gleichermaßen rezipiert wird. Kenntnisreich und konzeptionell fokussiert steht die Untersuchung für ein dynamisches Forschungsfeld und erweitert eine aufgeschlossene Debatte um unser Wissen über späten Kolonialismus und Dekolonisierungsprozesse.

Anmerkungen:
1 Als ausgewählte afrikawissenschaftliche Studien aus diesem Forschungsfeld seien beispielsweise Michael Oliver West, The Rise of an African Middle Class. Colonial Zimbabwe, 1898-1965, Bloomington 2002, oder Alexander Keese, Living with Ambiguity. Integrating an African Elite in French and Portuguese Africa, 1930-61, Stuttgart 2007 genannt.
2 Nancy Fraser, Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy, in: Craig Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge, Mass. 1992, S. 109–142.