Dreier, Horst; Waldhoff, Christian (Hrsg.): Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung. München 2018 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-72676-7 424 S. € 29,95

: 100 Jahre Weimarer Verfassung. Eine Gute Verfassung in Schlechter Zeit. Tübingen 2018 : Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-155343-1 XX, 328 S. € 35,00

: Die Weimarer Verfassung. Aufbruch und Scheitern. München 2018 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-72388-9 299 S. € 19,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Plebuch, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wagen sich Nicht-Historiker auf geschichtliches Terrain, begegnen ihnen Fachhistoriker nicht selten mit distanzierender Skepsis. Das lässt sich seit einigen Jahren an den historischen Monographien von Herfried Münkler beobachten, die innerhalb der Geschichtswissenschaft vielfach als Angriff auf ein angeblich fachhistorisches Deutungsmonopol wahrgenommen werden. Wer aber spezifisch gegenwartsbezogene Erkenntnisinteressen als populärwissenschaftliche Verflachung historischer Forschung zurückweist und die Geschichtswissenschaft dadurch in die disziplinäre Isolation führt, verkennt nicht nur die erkenntnisfördernde Wirkung multiperspektivischer Zugänge, sondern verleugnet auch, dass es in der frühen Bundesrepublik gerade disziplinäre Grenzgänger wie Karl-Dietrich Bracher und Kurt Sontheimer waren, die die größten Innovationsleistungen erbrachten, wie Gabriele Metzler jüngst in Erinnerung rief.1

Während Politologen wie Münkler in der Geschichtswissenschaft aber immerhin wahrgenommen werden, scheitern Juristen häufig schon an unsichtbaren Rezeptionshürden. Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden. Verhindert möglicherweise die notorische Normorientierung von Juristen eine Verständigung mit Historikern? Liegen normativ angeleitete Praktiken umgekehrt außerhalb des Verständnishorizonts von Historikern? Wie erklärt sich dann aber, dass eine der präzisesten Analysen des in der Endphase der Weimarer Republik verhängnisvollen Zusammenwirkens der Verfassungsartikel 25 (Befugnis des Reichspräsidenten zur Auflösung des Reichstags), 48 Absatz 2 (Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten) und 53 (Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers und der Reichsminister durch den Reichspräsidenten) von Horst Möller, einem Historiker, stammt?2 Und wie erklärt sich weiter, dass Juristen das Scheitern der Weimarer Republik überwiegend nicht der Weimarer Reichsverfassung anlasten, das heißt gerade nicht zur Überschätzung normativer Faktoren neigen, während sich die Geburtsfehler-These in der allgemeingeschichtlichen Forschung als erstaunlich persistent erweist?3

Die im Vorgriff auf das Weimarer Verfassungsjubiläum von Juristen vorgelegten Gesamtdarstellungen4 zur Weimarer Reichsverfassung laden zur Erörterung solcher Fragen ein. Es handelt sich dabei um einen von Horst Dreier und Christian Waldhoff herausgegebenen Sammelband sowie zwei monographische Abhandlungen von Christoph Gusy und Udo Di Fabio. Unter den Genannten sind vor allem Horst Dreier5 und Christoph Gusy6 in der verfassungshistorischen Weimar-Forschung einschlägig ausgewiesen; beide haben maßgeblich zur Rehabilitierung der Weimarer Verfassungsordnung beigetragen, die bis heute in populären historischen Darstellungen als „[e]ine Art demokratisch reformiertes und modernisiertes Kaiserreich ohne Kaiser, aber mit einem starken, direkt gewählten Präsidenten“7 desavouiert wird. Übergreifendes Anliegen der hier zu besprechenden Werke ist es, solchen verkürzend-irreführenden Charakterisierungen ein komplexeres, facetten- und nuancenreiches Bild der Weimarer Reichsverfassung entgegenzusetzen.

Im Vorwort zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband betonen Dreier und Waldhoff die Modernität des Verfassungswerks von Weimar und erinnern unter anderem an „die im internationalen Vergleich frühe Einführung des Frauenwahlrechts, […] die […] sozialstaatliche Programmatik oder die vorbildliche Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion“ (S. 7). Da ich den gedanklichen Reichtum und die perspektivische Vielfalt der Anthologie, die Beiträge von Juristen (neben den Herausgebern Pascale Cancik, Dieter Grimm, Gertrude Lübbe-Wolff, Michael Stolleis, Ewald Wiederin), Historikern (Christopher Clark, Oliver Haardt, Monika Wienfort), Politikwissenschaftlern (Peter Graf Kielmansegg, Marcus Llanque) und Theologen (Friedrich Wilhelm Graf) versammelt, unmöglich erschöpfend würdigen kann, beschränke ich mich auf Grundrechtsverständnis einerseits sowie Demokratiekonzept und Institutionenordnung andererseits, und zwar aus zwei Gründen: Erstens besteht hinsichtlich des Grundrechtsteils der Weimarer Reichsverfassung der größte Rehabilitierungsbedarf. In der allgemeingeschichtlichen Literatur firmieren die Weimarer Grundrechte wahlweise als „Programmsätze“8 oder als „allgemeine Absichtserklärungen“9. Zweitens stehen Demokratiekonzept und Institutionenordnung sowohl in der allgemein-, als auch in der verfassungsgeschichtlichen Forschung nicht ganz zu Unrecht unter Konstruktionsfehler-Verdacht10, freilich mit dem Vorbehalt, dass zwischen der Identifikation von Konstruktionsfehlern und der Behauptung ihrer (Mit-)Ursächlichkeit für den Untergang der Weimarer Republik streng unterschieden werden muss.

Horst Dreiers Beitrag über die „Grundrechtsrepublik Weimar“ (S. 175–194) zielt auf die Dekonstruktion eines allzu simplen Programmsatz-Narrativs. Die im zweiten Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung versammelten Normen ließen sich nicht auf einen Nenner bringen; vielmehr sei Differenzierung geboten (S. 176). Während die in der Paulskirchentradition wurzelnden klassisch-liberalen Freiheitsrechte wie Freizügigkeit (Artikel 111), Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 115) oder Meinungsfreiheit (Artikel 118) sowohl in der Wissenschaft als auch in der Rechtsprechung als aktuell geltendes, wirksames und anwendungspflichtiges Recht verstanden worden seien (S. 176–180), sei einer Reihe von Normen eher Programm- und Zielcharakter zugekommen. Dies habe etwa für Artikel 109 Absatz 3 (Aufhebung von Standesrechten; dazu näher Wienfort, S. 245–251) oder Artikel 121 (Gleichstellung unehelicher Kinder) gegolten (S. 184). Auch die von Michael Stolleis (S. 195–218) eingehend behandelten sozialprogrammatischen Normen seien auf Konkretisierung und Verwirklichung durch Ausführungsgesetze angelegt gewesen (S. 184f.).

Dreier weist auch die Redeweise von den „leerlaufenden Grundrechten“ zurück. Im Anschluss an Richard Thoma, einen der wenigen verfassungstreuen Staatsrechtslehrer, unterteilt Dreier die klassisch-liberalen Freiheitsrechte in drei Gruppen. Zur Einschränkung „reichsverfassungskräftiger“ Grundrechte (darunter auch die in Artikel 109 Absatz 2 angeordnete und von Pascale Cancik auf S. 151–174 ausführlich behandelte Gleichberechtigung von Männern und Frauen) habe es einer Änderung der Reichsverfassung bedurft. Auf „reichsgesetzeskräftige“ Grundrechte wie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit habe nur der Reichs- und nicht der Landesgesetzgeber zugreifen dürfen (S. 182). Aber auch die übrigen Grundrechte seien nicht funktions- oder bedeutungslos gewesen. Für sie habe immerhin der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit gegolten, der – als in die Weimarer Verfassungsordnung überführte Errungenschaft der deutschen Rechtsstaatstradition – staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum von einer gesetzlichen Ermächtigung abhängig gemacht habe (S. 183). Dass dennoch die Bedeutung auch der klassisch-liberalen Grundrechte in Weimar derjenigen in der Bundesrepublik nicht annähernd gleichkomme, führt Dreier vor allem auf zwei Aspekte zurück: Zum einen sei die Geltung der Grundrechte nach 1945 durch das Bundesverfassungsgericht als Institution und die Verfassungsbeschwerde als Instrument normativ ausgebaut worden. Zum anderen hätten in den letzten Jahren der Republik die präsidentiellen Notverordnungen zentrale politisch relevante Gewährleistungen außer Kraft gesetzt und damit die faktische Wirkungskraft der Weimarer Grundrechte erheblich geschwächt (S. 192).

Demokratiekonzept und Institutionenordnung werden von Gertrude Lübbe-Wolff (S. 111–149) und Peter Graf Kielmansegg (S. 219–240) aufgeschlüsselt. Lübbe-Wolff erinnert zunächst völlig zu Recht daran, dass die größte verfassungshistorische Leistung der Weimarer Reichsverfassung darin bestand, die Legitimation staatlicher Herrschaft auf das Prinzip der Volkssouveränität zu stützen (S. 111; ebenso Dreier / Waldhoff, S. 7 und Haardt / Clark, S. 43). In der Legitimationsgrundlage liegt nicht nur die fundamentale Gemeinsamkeit mit dem Grundgesetz (Waldhoff, S. 306f.); sie markiert zugleich die fundamentale Differenz zur Reichsverfassung von 1871, die laut Eingangsformel „Wilhelm, von Gottes Gnaden deutscher Kaiser, König von Preußen“ verordnet hatte. Schon deshalb war das Kaiserreich keine Demokratie „mit konstitutionellen ‚Schönheitsfehlern‘“, auch nicht nach damaligen Maßstäben (so aber Di Fabio, S. 34). Was die Wirkungen der verfassungsrechtlichen Festlegung auf ein Verhältniswahlsystem in Reich (Artikel 22) und Ländern (Artikel 17) anbelangt, kommt Lübbe-Wolff zu einem differenzierten Urteil. Das Verhältniswahlrecht habe zwar die Bildung stabiler Regierungen erschwert, in der nachrevolutionären Phase aber eine konfliktentschärfende, weil integrative Wirkung entfaltet und zugleich die Verwandlung des Reichstags in ein Funktionärsparlament begünstigt (S. 115). Die Weimarer Reichsverfassung ermöglichte auch unmittelbare Sachentscheidungen durch das Volk (Artikel 73ff.). Die in der Nachkriegszeit vorherrschende Neigung, diese direktdemokratischen Artikulations- und Entscheidungsmöglichkeiten für die Entartung der Weimarer Republik zur Diktatur verantwortlich zu machen („Prämie für jeden Demagogen“), wird von Lübbe-Wolff als Vergewisserungsversuch der Eliten ausgewiesen, „dass nur beim Volk und keineswegs bei ihnen die Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat lag und liegt“ (S. 133f.).

Das Weimarer Regierungssystem kennzeichnet Lübbe-Wolff als „teilparlamentarisiert“. Die im Verfassungstext formulierte Angewiesenheit der Regierung auf das Vertrauen des Reichstags (Artikel 54) sei der Sache nach nur eine Abhängigkeit davon gewesen, dass der Reichstag der Reichsregierung nicht das Misstrauen aussprach. Einer parlamentarischen Wahlentscheidung oder sonstigen positiven Vertrauensbekundung seitens des Parlaments habe es für die Installierung einer Regierung nach wie vor nicht bedurft (S. 117). Über das parlamentarische Vertrauen hinaus benötigte die Regierung auch das Vertrauen des volksgewählten Reichspräsidenten, der Reichskanzler und Reichsminister nicht nur ernannte, sondern auch entlassen durfte (Artikel 53). Aus dieser doppelten Abhängigkeit rührt auch die Hugo Preuß‘sche Einordnung der Regierung als bloßes „Bindeglied“ zwischen Reichstag und Reichspräsident (S. 137). Peter Graf Kielmansegg erblickt in der doppelten Repräsentation des Volkes den Grundgedanken des institutionellen Gefüges der Weimarer Verfassungsordnung: „durch den Reichstag auf der einen Seite – nach dem strikten Verhältniswahlrecht gewählt, sollte er das Volk in der ganzen Vielfalt seiner Interessen und Anschauungen abbilden – und den ebenfalls vom Volk gewählten Reichspräsidenten auf der anderen Seite; er war die Einheit des Volkes zu verkörpern bestimmt“ (S. 222). Erstes und elementarstes Ziel des institutionellen Regelwerks sei es gewesen, „die Volkssouveränität als legitimierendes Prinzip so konsequent und systematisch zur Geltung zu bringen, wie das in einer grundsätzlich repräsentativ verfassten Republik nur eben möglich war“ (S. 223). In diesem Verfassungsmodell komme ein ambivalentes Verhältnis zum parlamentarischen System zum Ausdruck. „Einerseits ein Ja zur institutionalisierten Verzahnung von Regierung und Parlament […]. Andererseits Misstrauen gegen das Parlament, Sorge vor der Alleinherrschaft des Parlaments, vor einem ‚Parlamentsabsolutismus‘“ (S. 224).

Lübbe-Wolff qualifiziert die weitreichenden Befugnisse des Reichspräsidenten, die teilweise noch über die des Kaisers unter der Verfassung von 1871 hinausgegangen seien, als „bedeutsamste Grenze des mit der Weimarer Verfassung erreichten Parlamentarisierungs- und Demokratisierungsfortschritts“ (S. 118) und als „größte Schwäche des Weimarer Demokratiekonzepts“ (S. 148). Der ausufernden Inanspruchnahme des präsidentiellen Notverordnungsrechts (Artikel 48 Absatz 2) habe weder ein eigentlich in Artikel 48 Absatz 5 vorgesehenes Reichsgesetz noch die Jurisdiktionsgewalt des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich wirksame Grenzen setzen können (S. 141 bzw. 147). Als besonders fatal bewertet Lübbe-Wolff, dass das von Preuß ursprünglich vorgesehene Erfordernis entfiel, für die vom Präsidenten getroffenen Maßnahmen unverzüglich die Genehmigung des Reichstags einzuholen. Stattdessen verblieb nur die Pflicht des Reichspräsidenten, dem Reichstag von den getroffenen Maßnahmen unverzüglich Kenntnis zu geben und sie auf dessen Verlangen aufzuheben (Artikel 48 Absatz 3). Der Verzicht auf die parlamentarische Genehmigung habe die im Konstitutionalismus geprägten und deshalb in Kompromissbildung ungeübten Parlamentsfraktionen von dem Druck entlastet, sich zu entscheidungsfähigen Mehrheiten zusammenzufinden (S. 142; zur Neigung der Parteien, der Verantwortung des Regierens auszuweichen, siehe auch Kielmansegg, S. 228–230). Das Recht des Reichstags, die Aufhebung von Notverordnungen zu verlangen, habe sich als stumpfes Schwert erwiesen, weil das präsidentielle Recht zur Auflösung des Reichstags (Artikel 25) dahin ausgelegt worden sei, dass es auch noch nach einem solchen Aufhebungsverlangen ausgeübt werden könne oder um einem solchen zuvorzukommen (S. 142f.).

Der Sammelband stellt insgesamt eindrucksvoll unter Beweis, welchen Erkenntnisgewinn Interdisziplinarität auch in der historischen Forschung verspricht. Von einer „Anatomie“ der Weimarer Reichsverfassung hätte man allerdings einen eigenständigen11 Beitrag über das in der historischen Forschung einhellig als Strukturproblem identifizierte Verhältnis zwischen Reich, Preußen und den übrigen Ländern erwarten dürfen12, zumal die Ausgestaltung der föderalen Ordnung zu den am heftigsten umstrittenen Fragen im Parlamentarischen Rat gehören sollte. Der zweite große Konflikt im Parlamentarischen Rat – das Verhältnis von Staat und Religion – wurde bekanntlich durch die Übernahme der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung gelöst, die als unmittelbares Erbe der Weimarer Reichsverfassung bis heute textlich unverändert fortgelten.13 Auch deshalb ist bedauerlich, dass der Sammelband nur knapp über Entstehung, Inhalt und Wirkung der auf die christlichen Großkirchen zugeschnittenen Weimarer Kirchenartikel informiert, die nach 1945 eine wesentlich religionsfreundlichere Auslegung als in der Weimarer Zeit erfahren haben (Waldhoff, S. 308), im Angesicht der heutigen Gleichzeitigkeit von Säkularisierung und religiöser Pluralisierung aber unter zunehmenden Rechtfertigungsdruck geraten.

Diese eher marginale Kritik trifft auch die ansonsten beeindruckende verfassungsgeschichtliche Studie von Christoph Gusy. Die Weimarer Verfassung wird von Gusy, ihrem wohl besten Kenner, als „gute, zukunftsoffene und zukunftsweisende“ Verfassung und als „Meilenstein der europäischen Geschichte von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ gewürdigt (S. 65 bzw. 299). Die von ihm vertretene Grundthese lautet: „Die Weimarer Republik ist nicht an ihrer Verfassung zugrunde gegangen. Eher ist umgekehrt die Verfassung untergegangen, als und weil die von ihr verfasste Republik preisgegeben wurde“ (S. 36; Hervorhebung i. O.). In Gusys dichter Rekonstruktion des Entstehungsprozesses (S. 11–65) erhalten die chronisch vernachlässigten Verfassungsgebungen in den (süddeutschen) Ländern als „Experimentierfeld parlamentarischer Demokratie“ und als „Ressource für die Weimarer Verfassungsarbeit“ den ihnen gebührenden Platz (S. 24–28). Die legitimationsorientierte Weimarer Verfassung habe sich für ein „gemischtes“ Demokratiekonzept entschieden, das plebiszitäre und repräsentative Wahl- und Abstimmungselemente miteinander verknüpft habe (S. 117). Reichspräsident und Reichsrat seien nicht die einzigen „Gegengewichte“ zum Reichstag gewesen (S. 119f.). Die in Konkurrenz zur Parlamentsgesetzgebung eröffneten plebiszitären Elemente hätten sich in der Republik aber nicht als Krisenursachen, sondern als Krisenindikatoren erwiesen. Ein wesentlich höheres Destruktionspotenzial sei dem Appell an das Volk „von oben“ durch wiederholte Reichstagsauflösungen und nachfolgende Neuwahlen zugekommen (S. 136).

Besonders gelungen sind die Kapitel über die Weimarer Staatsrechtslehre (S. 67–107) und den Republikschutz (S. 207–236). Gusy arbeitet heraus, dass Legitimation und Auslegung der in besonderer Weise interpretations- und ausgestaltungsoffenen Weimarer Verfassung Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft war, deren „Entthronung“ (Bernhard Schlink) durch eine übermächtige und beim Bundesverfassungsgericht monopolisierte Verfassungsgerichtsbarkeit noch nicht begonnen hatte. Die produktive Kraft der spätestens mit Zusammenbruch des Kaiserreichs einsetzenden Identitätskrise der Staatsrechtslehre (S. 74–77) manifestierte sich unter anderem in pluralistischen Demokratiekonzepten (S. 123–125) und modernen Parteienstaatslehren (S. 151–154). Zugleich beteiligten sich Weimarer Staatsrechtslehrer aber auch an der ab 1930 einsetzenden Verfassungsreformdiskussion, deren Ziel weniger die Rückkehr zur rechtlichen Normalität als die Überwindung der Republik in ihrer bisherigen Form gewesen sei (S. 101–105). Im Kapitel über den Republikschutz tritt Gusy dem noch immer verbreiteten Bild entgegen, die Weimarer Verfassung sei konstitutionell wehrlos und „bis zum Selbstmord“ neutral gewesen (dagegen auch Lübbe-Wolff, S. 128). Die Verfassung habe vielmehr eine Reihe von Instrumenten zum Schutz der Verfassung gekannt: Republikschutzgesetze, eine verfassungskonform fortgebildete Rechtsordnung aus Strafgesetzbuch, Vereins- und Versammlungsrecht und im Notstandsfall die besonderen Befugnisse des Artikels 48 (zusammenfassend S. 234). Der ursprünglich intendierte Republikschutz wurde aber, wie Gusy eindringlich nachzeichnet, unter dem eifrigen Beifall willfähriger Staatsrechtslehrer durch einen gegen die Republik gerichteten Staatsschutz abgelöst.

Als auffälligstes Merkmal des Weimarer Verfassungsrechts identifiziert Gusy die Stabilität des Verfassungstextes bei gleichzeitigem Wandel der ihm teils entnommenen, teils unterlegten Inhalte (S. 11). Eine konsentierte Normalität des Verfassungslebens habe es in der jungen Republik kaum gegeben (S. 35). Dass keine andere deutsche Verfassung einem derart raschen Wandel ausgesetzt gewesen sein dürfte, verdeutlicht Gusy an drei Beispielen: erstens der Entparlamentarisierung der Reichsregierung unter der Präsidentschaft Hindenburgs, zweitens der Notstandsbefugnis des Reichspräsidenten, die als Ausnahmekompetenz für Ausnahmefälle konzipiert worden sei und sich zur Reserveverfassung entwickelt habe, und drittens dem Funktionswandel des präsidentiellen Rechts zur Reichstagsauflösung, das von Ebert zur Stärkung der Funktionsfähigkeit des Reichstags genutzt worden sei, unter Hindenburg aber der Stabilisierung der Regierung gegen das Parlament gedient habe (S. 277–280). Gerade weil der Verfassungstext für Gusy nur Ausgangspunkt ist (S. 9), ist ihm eine analytisch beeindruckende Studie über die Weimarer Republik und ihre Verfassung gelungen, die für die verfassungshistorische Forschung auf Jahrzehnte hin maßgeblich bleiben dürfte und der eine breite Rezeption in der Geschichtswissenschaft zu wünschen ist.

Auch Udo Di Fabio will eine verfassungshistorische Analyse leisten, die aber weder klassische Geschichtsschreibung noch Rechtsgeschichte sein soll (S. 20). Aus einer zugleich verfassungshistorischen und „institutionenanalytischen“ Perspektive (S. 6) will er das Zusammenspiel von verfassungsrechtlichen Institutionen und soziokulturellen Grundlagen des politischen Prozesses behandeln (S. 19) und dadurch Perspektiven der Rechts-, Geschichts- und Sozialwissenschaften stärker zusammenführen (S. 14). Di Fabios systemtheoretisch geprägte Analyse der Weimarer Reichsverfassung geht insofern über klassische Verfassungshistoriographie hinaus, als sie auch Kultur (S. 49–70), Wirtschaft (S. 107–130) und Reichwehr (S. 157–166) zum Gegenstand macht. Andererseits bleibt das Buch hinter den Erwartungen an eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung zurück. Der in vielem wegweisende Zweite Hauptteil (!) der Weimarer Reichsverfassung über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen wird in einem Satz abgehandelt (S. 17). Auch Rolle und Funktion der Staatsrechtslehre kommen viel zu kurz. Ausgerechnet Rudolf Smend wird als Pluralismustheoretiker gewürdigt (S. 187). Die anspruchsvollen und bis heute anschlussfähigen Demokratietheorien Hermann Hellers, Hans Kelsens oder Richard Thomas werden dagegen ausgeblendet (zu ihnen Gusy, S. 307–312). Mit Ausnahme des in übermäßiger Breite behandelten Reichspräsidenten (S. 71–106) bleibt auch die Institutionenordnung blass. Obwohl Di Fabio seine Analyse mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat ausgestattet hat (487 Fußnoten!), finden die einschlägigen Veröffentlichungen von Horst Dreier und Michael Stolleis allenfalls sporadische Berücksichtigung; die verfassungshistorischen Forschungen von Hans Boldt, Ernst Friesenhahn, Dieter Grimm, Walter Pauly, Klaus Stern, Rainer Wahl und Dietmar Willoweit werden gar nicht zur Kenntnis genommen. Besonders irritierend ist schließlich, dass sich Di Fabios Darstellung vor allem auf Ernst Rudolf Hubers neohegelianisch-etatistisch ausgerichtete Deutsche Verfassungsgeschichte stützt.14

Enthalten die vorherigen Kapitel kluge Überlegungen über die Webfehler der Reichspräsidentenwahl (Ermöglichung neuer Kandidaten im zweiten Wahlgang durch Verzicht auf Stichwahl, S. 97–101) und die „Pole des politischen Prägeraums“ (Parteien, Presse, Reichspräsident, S. 146–150), erschöpfen sich die Kapitel über die Endphase der Weimarer Republik (S. 167–245) im Wesentlichen in chronologisch erzählter Ereignisgeschichte (Gegenbeispiel einer fundierten verfassungshistorischen Analyse bei Grimm, S. 263–287). Vielleicht wird man Di Fabio aber nicht gerecht, wenn man ihn an den gleichen Maßstäben wie Dieter Grimm oder Christoph Gusy misst. Hier schreibt kein Verfassungshistoriker, sondern ein um das westliche Gesellschaftsmodell besorgter konservativer public intellectual, der erstaunlicherweise nicht in Gustav Stresemann, dem er die Verantwortung für die Wahl Hindenburgs und damit für die „tödliche Weichenstellung der Republik“ zuweist, sondern in Friedrich Ebert den größten Staatsmann der Weimarer Republik sieht (S. 90). Di Fabios vom Beck-Verlag breit beworbener und im Übrigen glänzend geschriebener Beitrag zum Weimarer Verfassungsjubiläum richtet sich nicht an (Verfassungs-)Historiker, sondern will eine bildungsbürgerliche Leserschaft erreichen. Zur Lektüre empfohlen seien deshalb vor allem die in die Gegenwart weisenden Kapitel (Einleitung und Schluss), in denen uns ein scharfsinniger politischer Beobachter gegenübertritt.

In ihrer kürzlich veröffentlichten Studie über den Einfluss des Verfassungsdesigns auf die Gelingenswahrscheinlichkeit konstitutioneller Demokratien unterscheiden die Chicagoer Juraprofessoren Tom Ginsburg und Aziz Z. Huq zwei Typen des Übergangs einer liberalen in eine antiliberale Ordnung: den autoritären Kollaps und die schleichende und nicht immer leicht zu identifizierende Erosion liberaldemokratischer Funktionsbedingungen (freie und faire Wahlen, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, rule of law).15 Das von ihnen auf den 28. Februar bzw. 24. März 1933 datierte Ende der Weimarer Republik steht bei Ginsburg und Huq exemplarisch für den ersten Typus, den vollständigen und abrupten Zusammenbruch einer liberaldemokratischen Ordnung. Hätten sie mit dieser Zuordnung recht, könnten Studien über die Weimarer Republik und ihre Verfassung allenfalls verfassungs-historische und verfassungs-theoretische Erkenntnisinteressen befriedigen, erbrächten aber derzeit keinen verfassungs-politischen Ertrag, da die gegenwärtigen Entwicklungen in Ungarn, Polen und auch in den USA eher dem zweiten Typus entsprechen (zu den drei angesprochenen Erkenntnisdimensionen Gusy, S. 36). Die hier besprochenen Werke zeigen indes, dass sich der Untergang der Weimarer Republik einer schematischen Betrachtung entzieht: Zu komplex waren die äußeren und inneren Kräfte, die auf die junge Republik mal stabilisierend, mal destabilisierend einwirkten (ähnlich Di Fabio, S. 19f.). Auch spricht viel dafür, dass die Weimarer Reichsverfassung schon seit 1930 praktisch leerlief, weil sich Bildung und Ausübung des Staatswillens aus den konstitutionalisierten Organen, Formen und Verfahren heraus in informelle und parakonstitutionelle Gremien verlagerten (Gusy, S. 280f.). Irren sich Ginsburg und Huq also, wenn sie zwischen dem Untergang der Weimarer Republik und demokratischen Erosionsprozessen der Gegenwart kategorial unterscheiden? Mit ihren je eigenen Zugängen, Perspektiven und Erkenntnisinteressen bereichern jedenfalls alle hier besprochenen Werke das internationale Gespräch über Herausforderungen und Gefährdungen liberaler Demokratien, das in besonderer Weise von juristisch informierten Historikern und historisch kundigen Juristen profitiert.

Anmerkungen:
1 Gabriele Metzler, Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945, Berlin 2018, S. 110–120.
2 Horst Möller, Die Weimarer Republik. Demokratie in der Krise, Überarbeitete Neuausgabe, München 2018, S. 266–290.
3 Etwa bei Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 57: „Ein wichtiger Orientierungspunkt war dabei [bei den Beratungen im Herrenchiemseer Verfassungskonvent; J. P.] das historische Vorbild von Weimar. Vor allem galt es, dessen Konstruktionsmängel zu vermeiden, die nicht unwesentlich zum Niedergang der ersten deutschen Republik und zum Aufstieg Hitlers beigetragen hatten.“
4 Ausgeklammert bleibt hier die – eine lange beklagte Forschungslücke schließende – Dokumentation und Rekonstruktion des Entstehungsprozesses durch Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung. Grundlagen und anfängliche Geltung, Düsseldorf 2018.
5 Die wichtigsten Beiträge von Horst Dreier sind zusammengefasst in: Horst Dreier, Staatsrecht in Demokratie und Diktatur. Herausgegeben von Matthias Jestaedt und Stanley L. Paulson, Tübingen 2016, insb. „Die drei gängigsten Irrtümer über die Weimarer Reichsverfassung“ (S. 49–57), „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik“ (S. 59–123), „Grundrechte in der Zwischenkriegszeit“ (S. 125–183).
6 Um nur die wichtigsten Veröffentlichungen zu nennen: Christoph Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, Tübingen 1991; ders., Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1993; ders., Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997; ders. (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; ders. (Hrsg.), Weimars lange Schatten. „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003.
7 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2017, S. 186.
8 Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, S. 117.
9 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 40.
10 Aus der allgemeingeschichtlichen Literatur z. B. Möller, Weimarer Republik, S. 352: „Verhängnisvoll ist […] vor allem die unausgewogene Mischung repräsentativer, präsidentieller und plebiszitärer Elemente in der Weimarer Verfassungsordnung gewesen.“ Aus der verfassungsgeschichtlichen Literatur etwa Oliver Lepsius, Art. „Weimarer Verfassung“, in: Werner Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2006, Sp. 2680–2683, hier Sp. 2682: „Wenn das Scheitern der WRV daher weniger ihr selbst […] zugeschrieben wird, ist dies politisch richtig; rechtlich darf deswegen nicht übersehen werden, dass die WRV wegen ihres den Volkswillen abbildenden (und nicht erzeugenden bzw. organisierenden) Charakters negative Mehrheiten prämiert hat.“
11 Den internationalen Kontext der Verfassungsentscheidung für die unitarische Bundesstaatlichkeit beleuchtet Wiederin, S. 49–51; Lübbe-Wolff geht auf den Zusammenhang von föderaler und demokratischer Reichsorganisation ein (S. 143–145).
12 Über den Forschungsstand informiert Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, 2., um einen Nachtrag erweiterte Aufl., München 2008 (1. Aufl. 2000), S. 58f.
13 Konzise Darstellung der zentralen Streitpunkte im Parlamentarischen Rat bei Christoph Möllers, Das Grundgesetz. Geschichte und Inhalt, 2., aktualisierte und durchgesehene Aufl., München 2019 (1. Aufl. 2009), S. 25–28.
14 Zu Huber als Verfassungshistoriker siehe Ewald Grothe, Die Ordnung der Geschichte. Ernst Rudolf Huber und die Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, in: ders. (Hrsg.), Ernst Rudolf Huber. Staat – Verfassung – Geschichte, Baden-Baden 2015, S. 279–302, bes. 291–294.
15 Tom Ginsburg / Aziz Z. Huq, How to Save a Constiututional Democracy, Chicago 2018, bes. S. 35–48.

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