Titel
"So sehr ich die Demokratie liebe, so satt bin ich die Demokraten". Briefe des Wormser Achtundvierzigers Ferdinand von Loehr aus der Schweiz und Frankreich vom Juli bis Oktober 1849 mit Skizzen seines Lebenswegs und seiner politischen Anschauungen


Autor(en)
Köhler, Manfred H. W.
Reihe
Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 126
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schäfer, Universität GH Essen

Manfred Köhler fügt mit seiner Publikation zu Ferdinand von Loehr den zum 150jährigen Jubiläum der Revolution 1848/49 unzählig erschienenen Büchern von professionellen und populären Historikern - etwas verspätet - ein weiteres hinzu. Begründet hat Köhler seine aufwendige Arbeit mit der Befürchtung, „dass sich die Erinnerung an sie [die Revolution 1848/49, JS] in Worms weitgehend auf den Liberalen Heinrich von Gagern beschränken würde, dass man eines seiner großen demokratischen Gegenspieler in der Stadt – und das war Ferdinand von Loehr [...] nun zweifellos – weniger gedenken würde, obwohl die Demokraten in der Stadt Worms selbst in der Revolution über mehr Anhang verfügten“ (7 f). Bereits auf dem 42. Deutschen Historikertag in Frankfurt 1998 wurde in der Sektion „Die Revolution von 1848/49 in der Erinnerung“ deutlich darauf hingewiesen, wie um die Deutungshoheit demokratischer Traditionen im Vorfeld der 150-Jahrfeiern gerungen wurde. 1 Köhler geht es so scheinbar um einen korrektiven Beitrag zur Deutung der Wormser Lokalgeschichte 1848/49, dabei besonders um die Beschreibung des politischen Kampfes zwischen Liberalen und Demokraten und dessen Antipoden Heinrich von Gagern und Ferdinand von Loehr, die aus dem Blickwinkel von Loehrs präsentiert wird.

Die Publikation besteht im wesentlichen aus drei größeren Teilen, denen eine kurze Familienchronik vorangestellt ist (13-22). Im ersten größeren Kapitel (22-85) versucht Manfred Köhler überwiegend anhand von zeitgenössischen gedruckten Quellen die Entwicklung der politischen Einstellung Ferdinand von Loehrs nachzuzeichnen, beginnend mit seinem Engagement in der deutschkatholischen Gemeinde im Jahr 1845 als mentaler Aristokrat – „die Minorität der Intelligenz muss herrschen“ (27) – über die Zusammenarbeit mit den Liberalen um Heinrich von Gagern gegen die hessische Regierung du Thil 1846/47 und endend als entschiedener Demokrat und Freiheitskämpfer in der Reichsverfassungskampagne. Das folgende Kapitel trägt die Überschrift „Ferdinand von Loehr in seinen Briefen“ (86-132). Hier analysiert Köhler die dreizehn Briefe Loehrs an seine Frau, die von Juli bis Oktober 1849 in Schweizer und französischem Exil entstanden, vor allem hinsichtlich dessen Verarbeitung und Beurteilung der gescheiterten Revolution. Es folgen die Briefe im Wortlaut, versehen mit biographischen Angaben zu den darin erwähnten Personen (138-274). Ein Register rundet die mit 44 Abbildungen gespickte Publikation ab.

Die dreizehn Briefe Loehrs sind für die Revolutionsgeschichtsschreibung von großem Wert. Denn sie offenbaren die Mentalität eines Revolutionärs der Jahre 1848/49, die für die Erforschung jener Schicksalsjahre der Deutschen bisher weitgehend unberücksichtigt blieb. „Zuerst Du und mein Kind, dann ich, und dann kein Mensch mehr: das ist mein Wahlspruch“, schrieb Ferdinand von Loehr seiner Frau Auguste kurz vor seiner Abreise in die USA im Oktober 1849 (243). Diese individualistische Einstellung formte sich nicht erst mit dem Scheitern der Revolution. Loehr hatte Probleme, sich in die (Wormser) Gesellschaft standesgemäß zu integrieren. Sein Vater (1784-1851) war Rechtsprofessor in Gießen. Er selbst hatte dort von 1834 bis 1838 Medizin studiert und trat anschließend als Unterarzt in den Lazarettdienst der hessischen Armee ein. Nach einer kurzen Verwendung in Darmstadt wurde Loehr nach Worms versetzt, quittierte aber bereits im März 1841 den Dienst, um sich als praktischer Arzt niederzulassen. Ein knappes Jahr später heiratete er Auguste, die Tochter des reichen Holzhändlers Johann Adam Dietrich. Loehr muss, das ist aus den Briefen zu entnehmen, in den 1840er Jahren in finanzielle Nöte geraten sein. Zu der finanziell angespannten Lage kamen familiäre Schicksalsschläge. Die geliebte Mutter starb 1845 im Alter von 51 Jahren. Im gleichen Jahr musste der Schwiegervater zu Grabe getragen werden, ein Jahr später die Schwiegermutter. Vier Tage nach deren Tod verlor das Ehepaar Loehr ihre erst fünf Wochen alte Tochter Susanne. Um seine kleine Familie - an Heiligabend 1844 kam Sohn Ferdinand zur Welt – zu ernähren, hatte sich Loehr im Januar 1847 auf die Wormser Physikatsstelle beworben, wurde bei der Besetzung jedoch nicht berücksichtigt. Gesellschaftlich drohte dem Mitglied der Wormser Freimaurerloge nun ein schmerzhafter Abstieg. Da kam der Ausbruch der Revolution sicherlich nicht unpassend. Loehr avancierte mit seiner ab dem 15. März 1848 herausgegebenen Zeitung „Die neue Zeit“ zum Anwalt des einfachen Volkes und wurde zum demokratischen Gegenspieler der konstitutionellen Liberalen in Worms. Die Beteiligung an der Reichsverfassungskampagne trieb ihn schließlich ins Exil.

Für die politische Geschichte der Revolution 1848/49 liefern die dreizehn Briefe keine neuen Erkenntnisse. Loehr spricht zwar immer wieder von neutralen Schilderungen der Tatsachen, die er veröffentlichen wollte, aber keinen Verleger fand, doch wurden bereits kurz nach der Revolution mehrere Schriften zum Revolutionsverlauf herausgegeben und die politischen Ereignisse sind ausgiebig historisch erforscht 2. Einzig eine Anekdote über den Freischärlerführer Blenker aus Worms bestätigt den bereits von Zeitgenossen geäußerten Verdacht, dieser habe sich während der Reichsverfassungskampagne in Baden persönlich bereichert. Loehr berichtet seiner Frau von den Schätzen, die man in den Kisten des sich als mittellos ausgebenden Blenker in Le Havre fand, und kommentiert dies mit den Worten: „Man möchte sich in die Erde verkriechen“ (266). Interessant sind die Briefe dagegen für Wirtschafts- und Sozialhistoriker. Man erfährt einiges über das Leben und Überleben im Exil. Von Loehr übermittelt seiner Frau geradezu akribisch die Preisstruktur der besuchten Orte. Auch was für die Überfahrt nach Amerika zu beachten ist, wird in den Briefen penibel dargelegt. Außerdem enthalten die Briefe ausführliche detaillierte Landschaftsbeschreibungen. Den höchsten wissenschaftlichen Wert der Briefe stellt der bereits erwähnte Individualismus dar. Seine revolutionären Mitstreiter betitelt Loehr als „Gecken“, „Schweineigel“ und „Esel“, die man hängen sollte (157). Besonders die badischen Liberalen hält er für ein erbärmliches Gesindel (198). Den Fortgang der Revolution sieht er zunächst euphorisch, nach der Niederlage der ungarischen Aufständischen im August 1849 resignierend. Letztlich hat Ferdinand von Loehr die weitere politische Entwicklung in seiner Heimat nicht mehr interessiert: er ist zur Auswanderung nach Amerika entschlossen, er will die Gunst der nachrevolutionären Stunde nutzen, um mit seinem alten Leben zu brechen. Obwohl er sich zunächst noch um ein Mandat in der hessischen Ständeversammlung bemüht, „es ist unbedingt notwendig, dass ich hineingewählt werde“ (169), bittet er noch im selben Brief, seine Frau solle an den Schwager herantreten, „er möge mir die nötigen Papiere von Doktor Wiegend [Mitglied der Wormser Loge, JS] verschaffen, um mich als Freimaurer zu legitimieren. Im Fall [dass] ich nach Amerika käme, wäre mir dies von allergrößtem Nutzen“ (169 f.). Die Vorsehung (177) habe ihn auf den neuen Weg geführt, die Leiden der letzten Jahre seien notwendig gewesen, um eine neue Laufbahn zu beginnen (181). Beruflich glaubt Loehr in den USA gute Bedingungen vorzufinden, in St. Louis lasse sich während der Cholerazeit ein kleines Vermögen verdienen (174). Immer wieder mahnt er seine Frau, ihm seine Doktorurkunde, die medizinischen Instrumente und wissenschaftlichen Bücher nach Le Havre zu schicken. Das Verhältnis zu ihr scheint ambivalent gewesen zu sein. Obwohl er in jedem Brief erwähnt, wie sehr er sie und sein Kind vermisse, wollte er seine Familie erst nachkommen lassen, wenn eine reichliche Existenz gesichert sei: „Ehe ich [nicht] 2-3 Sklaven habe, i[ns]b[e]s[ondere] einige Sklavinnen, schreibe ich nicht“ (249). Stets schwankt er zwischen Geld oder Liebe: „Ich bitte nur den Himmel, mir Gelegenheit zu geben, Dich noch einmal zu sehen, ehe ich weggehe. Kosten dürfen wir dadurch keine verursachen“ (184).

Köhler erwähnt eingangs, dass weitere Briefe von Ferdinand von Loehr an seine Frau aus dem amerikanischen Exil aus der Zeit von 1850 bis ca. 1870 existieren. Es bleibt zu hoffen, dass auch diese bald der Öffentlichkeit gedruckt vorliegen, weil sie die mentalitätsgeschichtlichen Hinweise, in denen der Hauptwert der hier vorliegenden Briefe liegt, erheblich verbessern würden.

1 Eine Zusammenfassung der in der Sektion „Die Revolution von 1848/49 in der Erinnerung“ gehaltenen Vorträge von Lothar Gall, Wolfram Siemann, Karin Schambach, Dieter Langewiesche und Rüdiger Hachtmann findet man in: Recker, Marie-Luise u.a. (Hrsg.), Intentionen – Wirklichkeiten. 42. Deutscher Historikertag in Frankfurt am Main, 8. bis 11. September 1998, Berichtsband, München 1999, S. 130-136.

2 Den Reigen der revolutionsverarbeitenden Schriften eröffnete kein geringerer als Friedrich Hecker bereits im Sommer 1848 nach der Niederschlagung der ersten badischen Erhebung. Seinem Beispiel folgten im Jahr 1849 viele der führenden Revolutionäre, beispielhaft seien erwähnt:
Becker, Joheann Philipp/Esselen, Christian: Geschichte der süddeutschen Mairevolution des Jahres 1849, Genf 1849.
Fenner von Fenneberg, Ferdinand: Zur Geschichte der rhein-pfälzischen Revolution und des badischen Aufstands, Zürich 1849.
Goegg, Amand: Rückblick auf die Badische Revolution unter Hinweisung auf die gegenwärtige Lage Teutschlands, Paris 1850.
Heinzen, Karl-Peter: Einige Einblicke auf die badisch-pfälzische Revolution, Bern 1849.
Mieroslawski, Ludwig: Berichte des Generals Mieroslawski über den Feldzug in Baden, Bern 1849.
Mördes, Florian: Die deutsche Revolution mit besonderer Rücksicht auf die badische Revolutions-Episode, Herisau 1849.
Struve, Gustav: Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden, Bern 1849.
Als Literatur zur Einordnung der Revolutionserlebnisse von Loehrs empfiehlt sich u.a.:
Wettengel, Michael: Die Revolution im Rhein-Main-Raum, Wiesbaden 1989.
Hippel, Wolfgang v.: Revolution im deutschen Südwesten. Das Großherzogtum Baden 1848/49, Stuttgart 1998.
Bauer, Sonja-Maria: Die Verfassungsgebende Versammlung in der Badischen Revolution von 1849: Darstellung und Dokumentation, Düsseldorf 1991.

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