B. Rother u.a. (Hrsg.): Willy Brandt and International Relations

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Titel
Willy Brandt and International Relations. Europe, the USA, and Latin America, 1974–1992


Herausgeber
Rother, Bernd; Larres, Klaus
Erschienen
London 2018: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XI, 237 S.
Preis
€ 91,53; $ 114.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Seiberlich, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Wer sich mit Willy Brandts Rolle in den internationalen Beziehungen jenseits von Entspannungspolitik und Ost-West-Beziehungen beschäftigt, findet gerade für seine Zeit als „elder statesman“ bisher eine recht karge Forschungslandschaft vor.1 Der von Bernd Rother und Klaus Larres herausgegebene Sammelband untersucht nun Brandts Wirken nach seinem Rücktritt 1974 anhand dreier bedeutender Felder: den Beziehungen zu den USA, Fragen europäischer Integration und Sicherheit sowie der Zusammenarbeit mit lateinamerikanischen Linken. Auf diese Weise beleuchtet er neben der Schlüsselfigur Brandt etwa auch die deutsche Sozialdemokratie, US-Administrationen, linke lateinamerikanische Parteien oder die Sozialistische Internationale (SI). Er trägt damit nicht zuletzt zur Diskussion über die 1970er-Jahre als Umbruchphase der internationalen Beziehungen bei.

Einleitend diagnostizieren Rother und Larres ab Mitte der 1970er-Jahre eine „Globalisierung“ (S. 2) der Aktivitäten von Brandt und der SI sowie sein Bestreben, die Sozialdemokratie und Westeuropa als Akteure der internationalen Politik aufzuwerten. Der analytische Mehrwert des Globalisierungsbegriffs gegenüber „Internationalisierung“ oder „Ausweitung“ bleibt jedoch unklar.

Der Band fragt nach den verschlechterten Beziehungen zwischen europäischer Sozialdemokratie und den USA sowie, wenngleich weniger prominent, nach sozialdemokratischen Reformvorstellungen für das internationale System (S. 5). Diese beiden Leitfragen sind klug gewählt, tragen sie doch der grundlegenden Neuausrichtung der Sozialdemokratie in der internationalen Politik – oder dem Nachdenken darüber – seit den späten 1960er-Jahren Rechnung. Sie ergänzen sich, da ein ausgeweitetes internationales Engagement der Sozialdemokratie und deren Vorstellungen einer internationalen Neuordnung auf die transatlantischen Beziehungen rückwirkten. Somit können grundlegende Verschiebungen, die als „globalizing international politics“ gewertet werden (S. 3), untersucht werden.

Der Ausgangspunkt 1974 wird mit Brandts Rücktritt und der Forschungslage begründet, ergibt sich aber auch aus dem Gegenstand. Die erfolgreichen politischen Transitionen auf der iberischen Halbinsel ab 1974 – so Krause, Pedrosa, Fonseca und Rother – waren Schlüsselereignisse für die internationale Ausweitung sozialdemokratischer Aktivität. Auch die Entspannungspolitik beförderte ein größeres Engagement. Unter anderen Vorzeichen gilt das ebenfalls für die Erklärung über eine Neue Weltwirtschaftsordnung durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1974, die außer im Beitrag von Schmidt und zwei Notizen bei Rother auffällig abwesend ist.

Im ersten Teil des Bandes werden die Beziehungen Brandts und der Sozialdemokratie zu den USA in den Blick genommen. Verbindet man die Aussagen der Beiträge, so ergibt sich das Bild eines kritischen Sympathisanten. Brandt fühlte sich den USA zwar verbunden und profitierte gerade in seiner Berliner Zeit stark von seinen Netzwerken und US-Hilfen. Andererseits sah er sich nach seinem Rücktritt nicht länger durch die Staatsräson verpflichtet, seine Kritik zurückzuhalten. Zudem entfernten sich seine Deutungen von den realen oder potenziellen Konflikten über den NATO-Doppelbeschluss, die europäische Sicherheit oder Nord-Süd-Fragen zunehmend von denen der US-Außenpolitik. Die Beiträge vermeiden schematische Einordnungen Brandts als Transatlantiker oder Antiamerikaner und zeichnen stattdessen ein facettenreiches Bild. Gleichwohl wird deutlich, dass Brandt und die SPD sehr darum bemüht waren, Vorwürfe des „Antiamerikanismus“, die politische Gegner vorbrachten, zu entkräften. Scott H. Krause und Jan Hansen verdeutlichen, dass von einer monolithischen Einstellung gegenüber „Amerika“ ohnehin nicht gesprochen werden kann, da Brandts Positionen vom jeweiligen Thema, seinem Amt, seinem Gegenüber oder dem „discoursive other“ (Hansen, S. 139) abhingen. Wolfgang Schmidt demonstriert Brandts zunehmend distanzierte Beziehungen zu US-Regierungen am Beispiel der Nord-Süd-Beziehungen. Mit den Vorschlägen der von Brandt geleiteten Nord-Süd-Kommission skizziert er gleichzeitig eine sozialdemokratisch geprägte Vorstellung internationaler Neuordnung.

Die Beiträge zur „europäischen Dimension“ verbinden Brandts Wirken in den transatlantischen Beziehungen mit seinen sozialdemokratischen Ideen zur Neuordnung Europas. Ähnlich wie Schmidt führen sie die Entfremdung von den USA und abweichende Positionierungen auf unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen, intellektuelle Hintergründe und politische Agenden zurück. Harold Mock deutet die anvisierte Stärkung der europäischen Gemeinschaft als Streben nach einer „postnationalen“ Alternative zur NATO und zur Abhängigkeit von den USA. Oliver Bange diskutiert am Modell der „common“ oder „transbloc security“, wie Brandts Sicherheitsdenken in der Bundesrepublik, Osteuropa und den USA wahrgenommen wurde. Er betont zudem den Einfluss des Berichts der Palme-Kommission zu Abrüstung und Sicherheit auf die bundesdeutsche Debatte. Hansen zeigt, dass die Reagan-Regierung Brandt und der Sozialdemokratie als Kontrastfolie bei der Konturierung ihrer Positionen und Identität diente. Nikolas Dörr beleuchtet die genannten unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen eindrucksvoll anhand der Annäherung Brandts und der SPD an die Kommunistische Partei Italiens als Vertreterin des Eurokommunismus. Am Beispiel dieser Kontakte kann Dörr Versuche, einen Beitrag zur Überwindungen des Kalten Krieges zu leisten und eine kommunistische Partei bei der Selbstdemokratisierung zu unterstützen, nachzeichnen und demonstrieren, wie die SPD in den 1970er-Jahren auf der internationalen Bühne selbstbewusst, wenngleich nur bedingt erfolgreich auftrat.

Im Abschnitt zur „lateinamerikanischen Dimension“ wird die internationale Komponente des sozialdemokratischen Umdenkens besonders deutlich. Die Artikel zeichnen die komplizierten Annäherungsprozesse an neue Partner in Lateinamerika nach und leisten dadurch einen Beitrag zum Verständnis der Sozialdemokratie als internationale Akteurin, sei es durch die SI, persönliche Netzwerke oder bi- beziehungsweise multilaterale Parteizusammenarbeit. Rother betont in diesen Prozessen die lateinamerikanische agency, da die Initiativen oft von diesem Kontinent ausgegangen seien. Ana Mónica Fonseca belegt anhand von SI-Initiativen in Lateinamerika den Einflussverlust der USA und deren Misstrauen gegenüber den sozialdemokratischen Offensiven. Fernando Pedrosa untersucht Brandts Vorstoß, den Eurozentrismus der SI zu überwinden. Er kontrastiert Brandts Präsidentschaft mit früheren SI-Aktivitäten und deutet sie als „global leadership“, die durch ein „new global social democratic program“ (S. 170) den Kalten Krieg zu überwinden und den eigenen Einfluss zu vergrößern suchte. Hieran lässt sich der Verlust des zuvor mit den USA geteilten Deutungsrahmens exemplifizieren. So führte die europäische Linke beispielsweise die Konflikte in Lateinamerika wie ihre neuen Partner auf soziale Ungleichheit zurück, während die US-Regierungen sie im Rahmen des Kalten Kriegs begriffen.

Brandt tritt in den Beiträgen in unterschiedlichen Rollen auf, teils als herausgehobener Akteur, teils als Vermittler und Netzwerker, teils als Perspektivfigur für die Sozialdemokratie. Manche neigen dazu, ihn als besonders prägend und hellsichtig zu bewerten, z. B. als „prophet unheard“ (S. 80), obwohl sich dies nicht zwingend aus den Untersuchungen ableiten lässt. Über den Austausch mit anderen sozialdemokratischen Akteuren in Europa hätte man gerne mehr gelesen, um besser beurteilen zu können, inwiefern Brandt als Exponent von länderübergreifenden Trends, als Multiplikator von Ideen oder als Vordenker zu deuten ist. Dies hätte vereinzelte unzutreffende Zuschreibungen vermieden, beispielsweise wenn in der Einleitung behauptet wird, sozialdemokratische Parteien hätten in Lateinamerika erstmals mit »Befreiungsbewegungen« zusammengearbeitet, obwohl die niederländische und schwedische Sozialdemokratie bereits Jahre zuvor antikoloniale Bewegungen, beispielsweise in den portugiesischen Kolonien, offiziell unterstützt hatte.2 Ohnehin bleiben das südliche Afrika – für die SI und die Internationalisierung sozialdemokratischer Parteien eine entscheidende Region – oder Asien weitgehend ausgespart.

Zudem hätte die Zäsur durch Brandts Rücktritt 1974 stärker ausgelotet werden können. Schlüpfte Brandt lediglich in neue Rollen oder dachte er grundlegend um? In Zusammenhang mit seiner Hinwendung zu Nord-Süd-Fragen wäre es zudem aufschlussreich gewesen, ausführlicher nach der Genese dieser Ideen zu fragen.

Dessen ungeachtet bietet der Band in komprimierter Form aktuelle Forschungsergebnisse. Er trägt zu einem nuancierten Verständnis von Brandt sowie der europäischen parteipolitischen Linken als internationale Akteure bei, deren Bedeutung bisher oft konstatiert, aber selten erforscht wurde. Gerade der Blick nach Lateinamerika oder auf den hoch veranschlagten Einfluss der Palme- und Brandt-Kommission auf öffentliche Debatten liefert anregende neue Perspektiven und Erkenntnisse. Zudem dürfte der Band sich als Impulsgeber für Studien verdient machen, die sich Brandts Weg nach 1974, dem internationalen Engagement der europäischen Sozialdemokratie und den politischen Kräften widmen, die versuchten, den Kalten Krieg zu transzendieren. Ihm ist daher eine breite Rezeption zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Ausnahmen: Giuliano Garavini, After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South, 1957–1986, Oxford 2012; Bernd Rother (Hrsg.), Willy Brandts Außenpolitik, Wiesbaden 2014; Fernando Pedrosa, La otra izquierda. La socialdemocracia europea en América Latina, Buenos Aires 2012.
2 Tor Sellström, Sweden and National Liberation in Southern Africa (Volume 2). Solidarity and Assistance 1970–1994, Uppsala 2002.

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