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Titel
Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans


Autor(en)
Wintgens, Benedikt
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 178, Reihe Parlament und Öffentlichkeit 8
Erschienen
Düsseldorf 2019: Droste Verlag
Anzahl Seiten
619 S., 44 Abb.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Wer die frühe Bundesrepublik verstehen will, muss ihre Literatur lesen – so hat es der jüngst verstorbene Axel Schildt einmal formuliert und dabei nicht zufällig auf Wolfgang Koeppens Roman „Das Treibhaus“ aus dem Jahr 1953 hingewiesen.1 In der Tat besitzt dieses Buch über den unglücklichen Abgeordneten Felix Keetenheuve, der als Angehöriger einer „großen linken Partei“ am Bonner Parlamentarismus mehr leidet als teilnimmt (und am Ende von einer Rheinbrücke springt), den Ruf eines paradigmatischen Romans der westdeutschen Gründerjahre, ohne aber in intellektuellengeschichtlicher Hinsicht bislang näher bestimmt worden zu sein. Diesem Manko widmet Benedikt Wintgens nun die vorliegende Studie, eine Bonner Dissertation, welche auf die umfassende Kontextualisierung des „Treibhauses“ im Rahmen der „politischen Kulturgeschichte eines Romans“ abzielt.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wintgens betrachtet den Roman in zuvor unerreichter – man möchte fast sagen: unvorstellbarer – Vergrößerung. Der Stoff wird dabei in drei Hauptteile gegliedert: Auf das erste, ganz dem Werk, seiner Entstehung und seinem Urheber gewidmete Kapitel folgt eine Untersuchung der Metaphorik des Gläsernen und Transparenten als Teil einer Architektur der Demokratie; in einem dritten Kapitel wird schließlich die umfangreiche Rezeption des Buches analysiert und in die politischen Kultur der frühen Bundesrepublik eingeordnet. Entsprechend vielfältig ist das Spektrum der herangezogenen Quellen, die Wintgens nicht nur dem Greifswalder Nachlass von Wolfgang Koeppen oder der zeitgenössischen Presse entnimmt, sondern ebenso im Archiv des Deutschen Bundestags oder der Bundespressekonferenz findet.

Um mit dem Roman selbst zu beginnen: Beim „Treibhaus“ handelt es sich um einen typischen Vertreter der literarischen Moderne, in dem es weniger um die Handlung geht als um innere Motivlagen, Beobachtungen und Emotionen. Erzählt werden zwei Tage aus dem Leben des fiktiven Abgeordneten Keetenheuve, der nicht nur an einem privaten Eheunglück laboriert, sondern dessen demokratische Ideale in der Realität des wiederbegründeten Parlamentarismus mit seinen Machtkämpfen, Parteiloyalitäten und Kommissionsfehden zu verkümmern drohen. Das war unmittelbar nach dem Zeitempfinden vieler Intellektueller, Literaten und Publizisten gestaltet, die sich vom demokratischen Aufbruch seit 1945 mehr erhofft hatten und nach Etablierung der Bundesrepublik bald die „Restauration“ einer überkommenen Politik beklagten. Als sarkastischen Schlüsselroman der Bonner Politikmenagerie lässt sich „Das Treibhaus“ gleichwohl nicht lesen, trotz mannigfacher Anleihen an tagesaktuelle Debatten wie etwa zur Wiederbewaffnung. Wenn es eine Vorlage für Keetenheuves düstere Gestimmtheit gab, so zeigt Wintgens überzeugend auf, dann bestand sie in erster Linie wohl aus Koeppens eigenem Zeitpessimismus (S. 105).

Die schwer greifbare Unzufriedenheit mit dem Bonner Parlamentarismus prägte auch die titelgebende Metapher, in der sich vielerlei Bilder überkreuzten: „Das Treibhaus“ transportierte ambivalente und geradezu gegensätzliche Vorstellungen, vom zerbrechlichen Glashaus über die Transparenz einer demokratischen Volksvertretung bis hin zu einer in schwüler Atmosphäre künstlich aufgezüchteten Politik. In weiten kulturhistorischen Exkursionen skizziert Wintgens einerseits die Hintergründe der Treibhaus-Metapher seit Mitte des 19. Jahrhunderts, bleibt aber andererseits nahe an der Baugeschichte des Bundeshauses in der Gronau. Aus der Pädagogischen Akademie erwachsen, in der schon der Parlamentarische Rat zusammengekommen war, verdankten sich die neusachlichen, maßgeblich von Hans Schwippert gestalteten Ausdrucksformen des neuen Bundestags nicht zuletzt dem Gedanken eines Provisoriums: Angesichts einer nur temporären Niederlassung am Rhein glaubte man, auf eine die Solidität des Staates repräsentierende Architektur im klassischen Parlamentsstil Westminsters verzichten zu können (S. 154, S. 201).

Fast so umfangreich wie die beiden ersten Teile zusammen fällt schließlich das dritte Kapitel aus. Anhand der Rezensionen zum „Treibhaus“ lotet Wintgens die intellektuelle Öffentlichkeit der frühen Bundesrepublik und ihre mediale Verfasstheit aus. Er kann vor allem zeigen, dass die in der Koeppen-Literatur gedankenlos fortgeschriebene Annahme, der Roman sei bei Erscheinen wütend verrissen oder ignorant übergangen worden, kaum zu halten ist. Sicherlich war „Das Treibhaus“ kein Erfolgsbuch. Bei den rund 80 Rezensionen, die Wintgens ermittelt hat, hielten sich Ablehnung und Zustimmung trotzdem die Waage, und auch wer kritische Töne anschlug, setzte sich meist intensiv mit dem Roman auseinander. Wintgens gruppiert diesen „Selbstverständigungsdiskurs“ (S. 302) um einzelne Besprechungen und ihre Autoren (wie Curt Bley oder Fritz René Allemann, Karl Korn oder Alfred Andersch), deren Hintergründe sorgfältig rekonstruiert werden. Der Nachhall der Weimarer Republik und ihres Endes ist dabei allerorten zu spüren, und zwar nicht allein dort, wo mit Ernst von Salomon ein alter Bekannter und Kollege Koeppens das Buch in höchsten Tönen lobte. Als das Hauptthema zahlreicher Rezensionen entpuppt sich die Bewertung des Bonner Parlamentarismus und damit auch, in weiterer Perspektive, der bundesrepublikanischen Staatlichkeit, der Kanzlerdemokratie, der Westbindung. Wintgens kann plausibel zeigen, dass nicht wenige Verrisse auf der Sorge vor einer Bestätigung antiparlamentarischer, ja antipolitischer Affekte durch „Das Treibhaus“ gründeten, und dass man in der heimatlosen Unzufriedenheit Keetenheuves vor allem Larmoyanz und Unverständnis für demokratische Spiegelregeln erblickte. Auf Seiten der Fürsprecher des Romans stand hingegen ein breites Milieu aus linken wie rechten Skeptikern, denen Koeppens Vorbehalt gegenüber dem mediokren Konformismus und der biederen Geschäftsmäßigkeit des Bonner Politikbetriebs aus dem Herzen sprach, ohne dass daraus ein klares ideologisches Bekenntnis oder gar ein politischer Aktivismus abzuleiten war.

Benedikt Wintgens hat ein kluges, elegant geschriebenes und überdies reich illustriertes Buch vorgelegt, welches das methodische Bemühen der Intellektuellengeschichte um eine Kontextualisierung von Personen und Werken auf eine neue Stufe hebt. Allerdings verlangt die über 600 Seiten starke Studie ihrer Leserschaft auch einiges ab. Die vom Autor verfolgten Verästelungen, Querbezüge und untergründigen Zusammenhänge sind zwar oft lehrreich und mitunter kurzweilig, hier und da aber auch erschöpfend. Im Ganzen ist das Panorama, welches um das Koeppen’sche Werk herum arrangiert wird, eindrucksvoll, ohne dass damit jede biographische Vignette oder kulturhistorische Episode zugleich von zwingender Erklärungskraft wäre.

Die Bilanz fällt trotzdem nicht schwer: Es handelt sich um eine beeindruckende Studie, und es ist unnötig zu sagen, dass fürderhin keine Beschäftigung mit dem „Treibhaus“ an diesem Buch vorbeigehen kann. Auch der politischen Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik verleiht Wintgens einen kräftigen Impuls. Gegen eine kurzschlüssige Betrachtung, welche die Gründungsjahre der westdeutschen Demokratie auf eine Auszählung von „Belasteten“ und „Unbelasteten“ reduziert, werden die langen Kontinuitätslinien von Weimar über die NS-Diktatur nochmals herausgestellt, in ihrer Bedeutung für die besondere Atmosphäre des neubegründeten Parlamentarismus am Rhein dechiffriert und auf innovative Weise mit architekturgeschichtlichen Perspektiven verbunden. Wer „Das Treibhaus“ sorgfältig liest, so lässt sich resümieren, kann zugleich eine Archäologie der mentalen Überhänge aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betreiben.

Anmerkung:
1 Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999, S. 191f.