A. Schwell u.a. (Hrsg.): Der Alltag der (Un-)Sicherheit

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Titel
Der Alltag der (Un-)Sicherheit. Ethnografisch-kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Sicherheitsgesellschaft


Herausgeber
Schwell, Alexandra; Eisch-Angus, Katharina
Erschienen
Berlin 2018: Panama
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Böick, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Ein farbenprächtiger Paradiesvogel und eine signalgelb angezeigte Überwachungskamera, fotografisch eingefangen am Eingangsbereich eines englischen Kindergartens: Mit diesem spannungsträchtig inszenierten Alltags-Kontrast zwischen kindlich-bunter Vogel-Verspieltheit und technisch-nüchterner CCTV-Sicherheitstechnik eröffnen die beiden Herausgeberinnen Katharina Eisch-Angus und Alexandra Schwell ihren interdisziplinär orientierten und überaus anregenden Sammelband. Aus einer kulturwissenschaftlich-ethnologischen Grundperspektive möchten sie den Widersprüchen zwischen „alltäglicher Sicherung und Verunsicherung“ nachgehen, um so die „ambivalent erfahrenen (Un-)Sicherheiten lebensweltliche[r] Diskurs- und Handlungsweisen und gouvernementale Einflussnahmen“ in ihrer „wechselseitigen“ Durchdringung herauszuarbeiten (S. 7). Eine derartige Verknüpfung von „gesellschaftlich-institutioneller Security“ auf einer Makro- sowie einer auf der Mikro-Ebene „von Körper, Familie und sozialer Existenz“ zu verortenden „Safety“ (S. 8) stellt eine methodische Herausforderung dar, die die in jüngerer Zeit florierende historische Sicherheits- bzw. Versicherheitlichungsforschung intensiv umtreibt: übergeordnete Diskurse versus konkrete Praktiken, „harte“ Strukturen versus „weiche“ Emotionen, Kollektiv-Objektives versus Individuell-Subjektives.1 Kann also gerade die zeithistorische Sicherheitsforschung in diesem Schnittfeld abermals von kulturwissenschaftlich-ethnologischen Meta-Zugriffen profitieren?

Der skurrile Kontrast von Paradiesvogel und Kamera soll emblematisch ein verwickelt-verwobenes Themenfeld aufschließen. In der Einleitung erarbeiten Eisch-Angus und Schwell, in einer bisweilen vielleicht etwas zu erwartbaren Foucault-Lastigkeit, bedenkenswerte Grund- und Gegensatzbegriffe: Im Anschluss an die „Anthropology of Security“ soll es um die subjektiv erfahrenen sowie erzählerisch vermittelten Verschaltungen von „Ausnahmezustand“ und „Alltäglichem“ gehen (S. 15), die als „Narrative alltäglicher Unsicherheit“ (S. 18) ein „Vexierspiel von Alltagssicherung und Verunsicherung“ (S. 19) ergäben. Fokussiert werden sollen mithin Erzählungen von „Unglückserleben und Unfallgefahr, Kriminalität, Terror und häuslicher Sicherheit, von Gesundheit, Körper und Verwundbarkeit, die permanent in der alltäglichen Kommunikation zirkulieren“ und damit einer „paradoxen Gleichzeitigkeit von Sicherheit und Unsicherheit“ Vorschub leisteten (ebd.). Derlei widersprüchliche Dynamiken ergäben sich nicht zuletzt aus den kommunikativen Großtrends einer digitalen Gegenwart, in denen (un)sicherheitsbezogene Narrative mit eindrucksvollen Bildern in Form „explosiver Vervielfältigung“ eine „fortlaufende […] Beunruhigung durch tägliches Nach- und Weitererzählen in den sozialen Communities und Begegnungsräumen“ erzeugten. Demgegenüber sähen sich Akteure in Verwaltung und Politik durch immer neue „Krisen und Katastrophen“ zum konsequenten (und oft sicherheitssymbolpolitischen) Handeln herausgefordert (S. 20). Dieser „paradoxe Dauerzustand permanenter Verunsicherung“ habe sich inzwischen normalisiert und verwische letztlich, so die bedenkenswerte Pointe der Herausgeberinnen, die „Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Lokalität und Globalität, Fiktion und Tatsächlichkeit“. Er verlange dem „sicherheitsbewussten Individuum“ in der Praxis „immer neue Entscheidungen zwischen persönlicher Betroffenheit und Distanzierung“ ab (ebd.).

Nach dieser fulminanten, beunruhigend-alarmistischen Einleitung ist die Neugier auf die nachfolgenden Beiträge freilich immens. Wie lassen sich solche spannungsreichen und widersprüchlichen Alltagskonstellationen empirisch einfangen? Das ambitionierte Programm wird nun sowohl ethnologisch als auch historisch ausbuchstabiert. Stefan Groth exemplifiziert das Spannungsfeld von alltäglicher Sicherheit und Kontrolle in einem instruktiven Beitrag zu entsprechenden Praktiken im Krupp-Konzern um 1900. Seine „rekonstruktive Genealogie“ (S. 60) arbeitet auf drei ausgewählten Feldern – der Zugangskontrolle durch Fotografie, dem betrieblich-technischen Arbeitsschutz sowie verräumlichten Freizeit- und Bildungsangeboten – das Wechselspiel zwischen paternalistischen Unternehmenspolitiken „von oben“ sowie eigen-sinnigen Aneignungen und Distanzierungen durch die Belegschaften „von unten“ heraus. Das Spannungsfeld zwischen paternalistischer Kontrolle und wohltätigem Schutzversprechen treibt auch Kai Nowak in seinem Beitrag über die „Verkehrssicherheitsarbeit“ um, der die verschiedenen Kommunikationsstrategien zum Sicherheitsverhalten im Straßenverkehr analysiert. Vor dem Hintergrund einer umfassend konstatierten „Verkehrskrise“ mit explodierenden Todes- und Unfallzahlen habe die bundesdeutsche Massenmotorisierung den „Straßenraum“ seit den 1950er-Jahren in einen „öffentlichen Raum der (Un-)Sicherheit“ transformiert (S. 65). Nowak untersucht dabei die (bemerkenswert persistenten) Grundmuster der hier ansetzenden sicherheitsdidaktischen Versuche zur gezielten „Implementierung von Selbstkontrolle“ (S. 84) durch Verkehrssicherheitskampagnen mit Blick auf Geschlechter-, Familien- wie Sozialrollen.2

Während diese Beiträge das Thema gewinnbringend im genuin historischen Längsschnitt vermessen, wenden sich die nachfolgenden Texte gegenwartsbezogen urbanen Räumen sowie touristischen Bewegungen zu: Johanna Rolshoven schildert die zunehmende Moralisierung öffentlicher Stadträume in Europa, die in der urbanen Praxis gravierende soziale wie politische Konsequenzen zeitige. Das kommerziell induzierte „Herrichten und Schönmachen“ der Innenstädte gehe mit einer radikalen „Entfernung des Schmutzigen“ in materieller, aber auch sozialer Hinsicht einher (S. 93). Diese Gemengelage aus „Sanierung“ und „Säuberung“ offenbart für Rolshoven die „Ambivalenz der Diskursüberschneidung“, durch die sich im Stadtdiskurs „Menschenangelegenheiten, Sachangelegenheiten und Moral zu einem Sauberkeits-, Ordnungs- und Sicherheits-Diskurs-Knäuel“ verwickelten (S. 95). Alexandra Schwell eröffnet ihren Text mit einem Bericht des umstrittenen BILD-Kolumnisten Franz Josef Wagner. Dieser beschreibt eine nächtliche U-Bahn-Fahrt durch Berlin in Begleitung der damaligen SPD-Justizministerin Brigitte Zypries, die beide völlig diametral erlebten und bewerteten – für sie eine urbane Normalität, für ihn eine Kaskade an Angst- und Bedrohungsszenarien. Dem an diesem Beispiel entfalteten „Nexus zwischen Sicherheit und Angst“ geht Schwell anschließend mithilfe eigener Unsicherheits-Erfahrungen bei einem Urlaub im Nahen Osten nach. Als „missing link“ zwischen beiden Polen plädiert sie für eine akteurszentrierte und kontextsensible Analyse von Emotionen als „Praxisform“, die als Schnittstelle zur Untersuchung von „Mikropraktiken der Angst“ (S. 130) dienen könnte.

Auch die nachfolgenden Beiträge erweisen sich als gegenwartsbezogene Beobachtungen in Form „ethnografischer Vignetten“ (Schwell, S. 129): Katharina Eisch-Angus beschreibt am Beispiel des Germanwings-Absturzes im Jahr 2015 die komplexen Überblendungen von medialen Katastrophen-Diskursen und individuellen Angst-Erzählungen im „liminalen Dazwischen von Kultur und Alltagserleben, in dem Sinnentleerung und Bedeutungsfülle, Irrealität und Realität, Tod und Leben ununterscheidbar zusammenfließen“ (S. 149). Christoph Paret untersucht an drei textlichen bzw. sozio-experimentellen Beispielen konkrete Praxisformen eines „ironischen Autoritarismus“, der die gezielte Provokation und Empörung von vermeintlich passiven Subjekten als „emanzipative Psychotechnik“ begreift (S. 170); in einem provokanten Gedicht von Baudelaire aus dem Jahr 1869 werde auf diese Weise ein attackierter Wohnungsloser aus seinem passiven Objektstatus herausgelöst und in ein sich aktiv verteidigendes Subjekt transformiert. Niklas Barth und Antonius Schneider widmen sich den niedergelassenen Hausärzten, deren diagnostische Unsicherheit in der diffusen wie heterogenen Alltagspraxis von den Autoren nicht etwa als Unterlegenheit gegenüber hochspezialisierten Fachärzten, sondern gerade als generalistische „Ressource“ positiv gedeutet wird (S. 178). Dies trage zu einer permanenten produktiven Verunsicherung im konkreten Arbeitsalltag bei, die im Sinne der Patienten zu einem offenen Umgang mit den Grenzen der eigenen Kompetenzen und Möglichkeiten führe.

Maria Schwertl arbeitet mit Blick auf kommerziell-staatlich-hybride Techno-Militarisierungen bei der Überwachung der EU-Außengrenzen die „Multiplizität von Akteuren, Praxen und damit verbundenen Ideologien“ heraus, „durch die Grenzen gefördert, entwickelt, vermarktet“ würden (S. 198). Nils Zurawski beschreibt die polizeistrategischen Verräumlichungen von urbanen Un-Sicherheiten am Beispiel des staatlichen Mappings linker bzw. globalisierungskritischer Proteste während der 2010er-Jahre in Hamburg, wo diese Praxis zur umfassenden „Kolonialisierung“ vermeintlich geschützter Räume geführt habe (S. 219). Mark Maguires Beitrag zu expandierenden Anti-Terror-Maßnahmen an westeuropäischen Flughäfen seit 1990 beschließt den Band. Der routinisierte „counter-terrorism“ und das hier tätige Personal werden als „security laboratories“ einer voranschreitenden „securitization“ gedeutet, in denen neue Technologien und Strategien einer umfassenden Kontrolle von Menschenmassen erprobt und eingeübt würden (S. 241).

Der Gegensatz von buntem Vogel und kühler Überwachungstechnik findet eine Entsprechung auf dem Bochumer Weihnachtsmarkt, wo massive Anti-Terror-Betonblockaden an den Zufahrtswegen seit einigen Jahren liebevoll in weihnachtliches Geschenkpapier eingeschlagen werden. Auch hierin fänden die sicherheitspolitischen Paradoxien im „Alltag der (Un-)Sicherheit“ ein ausdrucksstarkes Motiv. Doch inwiefern tragen diese ethnographischen Annäherungen, so sei abschließend gefragt, transdisziplinär zu einer produktiven Verunsicherung der zeithistoriografischen Praxis bei? In jedem Falle erscheint das hier eröffnete Spannungsfeld zwischen rahmenden medial-politischen Diskursen und kulturellen Imaginationen sowie alltäglichen Praktiken und individuellen Erzählungen als enorm fruchtbarer Ansatzpunkt für weitere Forschungen. Diese bedürften jedoch künftig einer noch stärkeren Historisierung, wie sie die Beiträge von Groth und Nowak exemplarisch vorführen.

Auf diese Weise ließe sich die konstatierte „Durchdringung des Alltags mit den Diskursen und Praktiken von Überwachung und Kontrolle“ in der „Zwiespältigkeit und Absurdität“ von „Sichtbarmachung und Subjektivierung“ zeigen (so die Herausgeberinnen, S. 28): Erstens könnten gerade historische (Sicherheits-)Akteure sowie in hohem Maße Quellenmaterial produzierende Organisationen auf einer mittleren Ebene einen fruchtbaren empirischen Ansatzpunkt für weitere Methoden-Debatten bieten, da diese in der perspektivischen Makro-Mikro-Dichotomie zwischen Diskurs und Subjekt oft regelrecht verschwinden. Zweitens erscheinen transnationale Perspektiven jenseits oftmals noch stark nationalstaatlich geführter und gedachter Sicherheitsdiskurse als ein enorm lohnendes, aber zugleich auch immens anspruchsvolles Unterfangen. Drittens könnte eine konsequente Historisierung der oft unhinterfragt zugrundeliegenden Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster einer kritischen Sicherheitsforschung im Anschluss an Michel Foucault dabei helfen, den bisweilen stark aufscheinenden alarmistisch-normativen Drall bzw. die untergründig-dystopische Teleologie dieses Diskussionszusammenhangs etwas gegen den Strich zu bürsten. Denn der „Alltag der (Un-)Sicherheit“ erscheint, wie Katharina Eisch-Angus und Alexandra Schwell zu Recht bemerken, oftmals nicht als endzeitlicher Ausnahmezustand von immer perfekterer Observation und finsterer Kontrolle, sondern als banale, unspektakuläre Normalität.3

Anmerkungen:
1 Vgl. Sven Reichardt, Einführung. Überwachungsgeschichte(n). Facetten eines Forschungsfeldes, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 5–33, https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2010-2/Reichardt_2016.pdf (19.12.2019); Martin H. Geyer, Wie wir mit dystopischen, utopischen und technokratischen Diagnosen von Sicherheit zu leben gelernt haben, in: Ariane Leendertz / Wencke Meteling (Hrsg.), Die neue Wirklichkeit. Semantische Neuvermessungen und Politik seit den 1970er-Jahren, Frankfurt am Main 2016, S. 281–315.
2 Vgl. demnächst: Franziska Kuschel, Sicherheit als Versprechen. Verkehrsregulierung und Unfallprävention in der DDR, Göttingen 2020 (angekündigt für Februar).
3 Als beispielgebende Pionierstudie auf diesem Feld vgl. auch Maren Richter, Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970–1993), Frankfurt am Main 2014.