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Titel
Leerstelle(n)?. Der deutsche Vernichtungskrieg 1941–1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989


Herausgeber
Klei, Alexandra; Stoll, Katrin
Erschienen
Berlin 2019: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
263 S., 42 SW- u. farb. Abb.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Nagel, Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Neun der elf Beiträge des Sammelbandes behandeln die Wahrnehmung und Erinnerung an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die „blinden Flecken“ in der bundesdeutschen Geschichtskultur. Inhaltliche Klammer aller Texte ist die Feststellung der Herausgeberinnen Alexandra Klei und Katrin Stoll, dass „die Dimensionen des Vernichtungskriegs […] in dem Land, das die Täter/innen gestellt hat, immer noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen [… werden]. Kurzum: Der Vernichtungskrieg ist im ‚negativen Gedächtnis’ nicht verankert“ (S. 7). Der Opfer werde, wenn überhaupt, nur punktuell anlässlich von Jahrestagen gedacht, wie 2016 zum 75. Jahrestag in Babi Jar. In Deutschland bedürfe es „einer bestimmten Anzahl an Toten und eines runden Jahrestages, damit ein Bundespräsident ‚in den Abgrund unserer eigenen Geschichte’ blickt“ (S. 8f.) und einen Tatort des „Holocaust by bullets“ besucht. Klei und Stoll machen an diesem und weiteren Beispielen deutlich, dass die Wahrnehmung und Darstellung des millionenfachen Mordes in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten der Sowjetunion in Deutschland nach wie vor marginal ist. Verbrechen, Tatorte, Erinnerungsorte und öffentliche Rezeption in den postsowjetischen Staaten sind weitgehend blinde Flecken, eben „Leerstelle(n)“ im Schatten von Auschwitz, dem dominierenden Synonym für den nationalsozialistischen Massenmord.

Janine Fubel setzt sich in ihrem Beitrag mit „Entstehung, (Be-)Deutungen und Handel fotografischer Aufnahmen von Gewaltmärschen sowjetischer Kriegsgefangener 1941–1942“ auseinander. Sie zeigt, dass die von Wehrmachtssoldaten angefertigten Erinnerungsfotos maßgeblich durch die mit Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion einsetzende anti-slawische „Untermenschen“-Propaganda geprägt waren. Die Motivwahl war von Propagandabegriffen wie „asiatische Horde“ oder „Flintenweiber“ bestimmt, die sich in zeitgenössischen Bildbeschriftungen wiederfinden und bis heute beim Verkauf der Fotos über Onlineplattformen als Schlagworte fortwirken.

Fotos stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Ulrike Jureit. Ausgehend von den Auseinandersetzungen um die beiden „Wehrmachtsausstellungen“ erläutert sie, welche Wahrnehmungsblockaden in Bezug auf die Wehrmacht gerade in den alten Bundesländern bestanden und welche Impulse für die Forschung zum Thema „Foto als historische Quelle“ aus den Konflikten um die erste Ausstellung folgten. Neben dem Umgang mit historischer Fotografie nehmen die Genese der beiden „Wehrmachtsausstellungen“ und die daraus folgenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Nachwirkungen in dem Aufsatz breiten Raum ein. An der zweiten Ausstellung war Jureit selbst maßgeblich beteiligt.

In „Forests and the Final Solution“ von Konrad Kwiet geht es um den „Wald“ als zentralen Tatort des Massenmordes an Jüdinnen und Juden im Rahmen des „Holocaust by bullets“ sowie als Ort ihrer Flucht, als Ort des Überlebens und des Widerstandes. Zunächst zeichnet Kwiet die Topographie und die geographische Lage der weitgehend nicht durch Gedenkzeichen markierten Verbrechensorte des Wiener Polizeibataillons 322 nach, das für rund 11.000 Morde verantwortlich war. Im zweiten Teil folgt die Auswertung des 1945 entstandenen Berichts eines Überlebenden, der Einblick in das Leben der Flüchtlinge und Partisanen in den Wäldern während der deutschen Besatzung gibt. Kwiet zeigt, welch vielfältige Rekonstruktionen von Ereignissen, Räumen und Lebensbedingungen in den Waldverstecken dadurch möglich sind.

Die Verbrechen während des deutschen Rückzugs aus der Ukraine 1943/44 und die Folgen der „Politik der verbrannten Erde“ stehen im Zentrum des Beitrags von Johannes Spohr. Militärische Niederlagen sowie den immer bedrohlicher werdenden Partisanenkrieg benennt er als Ursachen für den rapiden Anstieg kollektiver Vergeltungsmaßnahmen gegen ganze Dörfer. Die einheimische Bevölkerung wurde allerorten Opfer von „schrankenlosen Mord- und Zerstörungsaktionen“ (S. 97). Die Endphase des Krieges in der Ukraine war für die verbliebene Bevölkerung geprägt von ausufernder Gewalt, deren Folgen das Land auf Jahrzehnte prägten. In der deutschen Erinnerung spielen diese Verbrechen laut Spohr hingegen überhaupt keine Rolle.

Die Debatten um die Zahlung von Anerkennungsleistungen für überlebende sowjetische Kriegsgefangene bis zum viel zu späten entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundestags 2015 bilden den Rahmen für die Darstellung des schwierigen Gedenkens an die größte Gruppe unter den vergessenen Opfern des Vernichtungskrieges, den sowjetischen Kriegsgefangenen. Andreas Hilger zeigt, dass ihr Schicksal bis dahin mehrheitlich als „Kriegsschaden“ bewertet wurde, bei dem irrelevant war, ob dieser unvermeidbar gewesen war oder gar im Widerspruch zum Kriegsvölkerrecht gestanden hatte (vgl. S. 124f.). Die Korrektur dieser Bewertung ist langjährigem zivilgesellschaftlichem Engagement zu verdanken, das in die aktuellen Bemühungen um ein Berliner Denkmal für die sowjetischen Kriegsgefangenen oder die Opfer der NS-Eroberungspolitik mündete. Der Ausgang ist offen, wie Hilger resümiert.

Aliaksandr Dalhouski beschreibt in seinem Beitrag, wie das weißrussische Malyj Trostenec vom sowjetischen zu einem europäischen Erinnerungsort transformiert werden konnte. Ausgehend von der vergessenen größten Vernichtungsstätte auf sowjetischem Territorium beschreibt Dalhouski, wieso der in dieser Gegend ermordeten mitteleuropäischen Juden lediglich als Sowjetbürger gedacht wurde und welche Schwierigkeiten sich seit der Wiederentdeckung des Vernichtungsortes in den Herkunftsländern der Getöteten (wie Deutschland und Österreich) ergaben. Deutlich wird, wie wichtig zivilgesellschaftliche und ausländische Impulse für die heute bestehende postsowjetische Gedenkstätte waren und sind.

Um Weißrussland geht es auch in dem Beitrag von Anna Engelking, die die Ergebnisse ihrer Feldforschungen vorstellt – gestützt auf kollektive, ausschließlich mündlich tradierte Erzählungen über die deutschen Verbrechen während der Besatzung in Polesien, einem Gebiet entlang der Grenze zwischen Weißrussland und der Ukraine. Demzufolge beziehen sich die überlieferten Erzählungen auf den Holocaust und die sogenannten Pazifizierungen, die Vernichtung ganzer Dörfer. Hier geht es weniger um die deutschen Täter und die unschuldigen Opfer als vielmehr um die Rolle, die die Dorfbewohner/innen dabei gespielt haben: Waren sie Opfer, Zeugen oder gar selbst Täter? Der Kern der polesischen Erzählungen betrifft den „Krieg der Einheimischen“ gegeneinander, verursacht durch das deutsche Besatzungsregime. Engelking kommt zu der These, dass „in der letzten Konsequenz […] die Erzählung über das ausgelöschte Schtetl von der totalen Vernichtung und jene über die niedergebrannten Dörfer vom Tod und [von] Wiedergeburt [handelt]“ (S. 179).

Die Ergebnisse eines qualitativ-inhaltsanalytischen Vergleichs der Darstellung des Vernichtungskrieges in neueren Geschichtsschulbüchern aus fünf Ländern (Weißrussland, Deutschland, Frankreich, Polen und Ukraine) stellt Christine Chiriac vor. Vier Kategorien werden dabei betrachtet: „a) wo der Krieg jeweils lokalisiert wird (‚Orte’), b) wer die am Krieg beteiligten Akteure sind (‚Akteure’), c) welche kausalen Zusammenhänge (‚Gründe’) skizziert und d) welche Kriegsfolgen (‚Nachwirkungen’) thematisiert werden“ (S. 184f.). Fehlende Studien über den Umgang mit dem Vernichtungskrieg in Geschichtsschulbüchern allgemein und besonders im internationalen Vergleich waren der Ansatzpunkt für Chiriacs Untersuchung. Maßgeblich für die teils ähnliche, teils deutlich verschiedene Schwerpunktsetzung bleibe das jeweilige nationale Narrativ über den Zweiten Weltkrieg.

Wie ein solches Narrativ in Deutschland museal präsentiert wird, analysiert Laura Haendel. Detailliert beschreibt sie die Dauerausstellungen des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden (MHM), dessen Außenstelle für die Luftwaffe in Berlin-Gatow (MHM-Gatow) sowie das private Deutsche Marinemuseum in Wilhelmshaven (DMW) in Bezug auf die Zusammenarbeit der Wehrmacht mit SS und Polizei beim Holocaust und bei der Ausbeutung von KZ-Häftlingen in der Kriegswirtschaft. Trotz vielfältiger Anknüpfungspunkte für die Integration in die drei Dauerausstellungen sieht Haendel dieses Thema derzeit nur im MHM angemessen umgesetzt. Sie bemängelt, „dass die kritische und multiperspektivische Auseinandersetzung mit der deutschen Militärgeschichte noch immer nicht […] akzeptiert wird“ (S. 206). Leider unterlässt sie es aber, die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen unter der Verwaltung der Wehrmacht zu erwähnen, insbesondere der sowjetischen Kriegsgefangenen, deren Lebensbedingungen der Deutsche Bundestag 2015 als vergleichbar mit denen in Konzentrationslagern einstufte. Das Kriegsgefangenenwesen der Wehrmacht war vom ersten bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkrieges integraler Bestandteil der Arbeitskräfteversorgung der deutschen Kriegswirtschaft, was entsprechend in militärhistorischen Museen dargestellt werden müsste, aber bis heute weitgehend fehlt. Der von der Autorin richtigerweise angemahnte engere Austausch mit Gedenkstätten könnte Abhilfe schaffen.

Der Sammelband endet mit einem positiven Beispiel. Andrea Kamp und Babette Quinkert beschreiben, wie es gelang, das 1967 eröffnete „Kapitulationsmuseum“ der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in der DDR von einem „der damals zeittypischen sowjetischen Erinnerungskultur“ (S. 254) entsprechenden und der ideologischen Erziehung dienenden Geschichtsmuseum in einen gemeinsamen Erinnerungs- und Informationsort mit internationaler Trägerschaft zu transformieren, der als einziger in Deutschland explizit dem deutsch-sowjetischen Krieg gewidmet ist. Voraussetzung dafür, dass das Museum in Berlin-Karlshorst nicht als ein deutsches, sondern ein internationales funktioniert und als solches insbesondere bei Besucher/innen aus den postsowjetischen Staaten auch wahrgenommen wird, ist der multiperspektivische Ansatz, der die 2013 eröffnete zweite Dauerausstellung prägt (nach der vorherigen Ausstellung von 1995). Kamp und Quinkert waren beide an der heutigen Ausstellung beteiligt. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass trotz der „in den letzten Jahren in Osteuropa zu beobachtende[n] (Re-)Nationalisierung von Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“ (S. 255), verschärft durch den Krieg in der Ostukraine, die Herausforderungen für die historisch-politische Aufarbeitung des Vernichtungskrieges gewachsen seien, aber nicht von einer „Leerstelle“ der Erinnerung die Rede sein könne.

Dieser Befund unterscheidet sich von demjenigen der anderen Autor/innen dieses wichtigen Sammelbandes, die die im Titel implizierte Frage „Leerstelle(n)?“ mehrheitlich bejahen sowie die in der Einleitung der Herausgeberinnen formulierten Thesen bestätigen. Der gut lesbare und sehr lesenswerte Band veranschaulicht eindrucksvoll, warum in der deutschen Erinnerungskultur an die nationalsozialistischen Verbrechen die Opfer des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion kurz vor dem 75. Jahrestag des Kriegsendes nach wie vor in einem Erinnerungsschatten stehen.