J. Bähr u. a.: Industrie, Politik, Gesellschaft

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Titel
Industrie, Politik, Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919–1990


Autor(en)
Bähr, Johannes; Kopper, Christopher
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
376 S., 31 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms Universität Bonn / Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Nach einem regelrechten Boom der Verbandsgeschichte vor allem in den 1970er-Jahren war es historiographisch lange ruhig um ökonomische Interessenorganisationen. Die damalige Verbandsforschung untersuchte primär den Einfluss von Interessengruppen auf politische Entscheidungen im Kaiserreich und zur Weimarer Zeit. Die – nach innen gerichtete – Funktion von Verbänden als Dienstleister für ihre Mitglieder spielte hingegen kaum eine Rolle. Die nun vorliegende, erste Gesamtdarstellung des industriellen Spitzenverbands, eine Auftragsarbeit, knüpft an die bewährte Forschungstradition an und fragt nach dem interessenpolitischen Einfluss unter sich wandelnden Rahmenbedingungen (S. 13).

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Johannes Bähr untersucht die Zeit von der Gründung des Reichsverbands der deutschen Industrie 1919 bis zur Wiedergründung als Bundesverband der deutschen Industrie inklusive der personellen und organisatorischen Weichenstellungen Ende der 1940er-Jahre. Christopher Kopper widmet sich der Zeit von 1950 bis zur Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Bähr strukturiert seinen Teil entlang ökonomischer Zäsuren, z.B. der Inflations-, Stabilisierungs- und Krisenphase der Weimarer Republik, während Kopper sich vornehmlich an den bundesdeutschen Legislaturperioden orientiert.

Es ist nicht ersichtlich, ob diese Setzung eine inhaltliche Aussage treffen sollte. Dies wäre aber durchaus nachvollziehbar, da der RDI vor 1933 aktiv wirtschafts- und sozialpolitische Themen setzte, Regierungen und Ministerien in Zugzwang brachte und die Regierungsbildung mit finanziellen und propagandistischen Mitteln maßgeblich beeinflusste. In der Bundesrepublik agierte der BDI hingegen deutlich diskreter. Ein maßgebliches Ergebnis der Studie ist, dass sich über das 20. Jahrhundert das Verhältnis von „Wirtschaft“ und „Politik“ von einer konfliktreichen Frontstellung hin zu partnerschaftlichen Modi veränderte. Der Bundesverband habe die Erfahrungen vor allem aus der Weltwirtschaftskrise gezogen und sich „loyal zur Verfassungsordnung der Bundesrepublik“ verhalten, wie überhaupt eine zunehmende Interessenkongruenz sowohl bei der internen Willensbildung als auch hinsichtlich der wirtschafts- und außenpolitischen Ziele der Bundesregierung zu konstatieren sei – im Wesentlichen nur mit Ausnahme der Ära Willy Brandt (S. 348 f.).

Historisch ist die Geschichte von Verbänden jedoch in erster Linie Konfliktgeschichte. Die Uneinigkeit der Industrie spiegelte sich etwa dadurch wider, dass es lange nicht nur einen, sondern zwei industrielle Spitzenverbände gab, den Centralverband deutscher Industrieller, der die „alten“ Industrien organisierte (Montan-, Textilindustrie), und den jüngeren Bund der Industriellen, der von der chemischen und elektrotechnischen Industrie getragen wurde. Das Gegeneinander vornehmlich binnenmarktorientierter Interessen im Centralverband und den Exportinteressen der BdI-Mitglieder bestand freilich auch fort, nachdem 1919 ein einheitlicher Spitzenverband, der Reichsverband der deutschen Industrie, gegründet worden war. Besonders sozialpolitische und außenwirtschaftliche Fragen blieben bis in die junge Bundesrepublik hinein umstritten, wie etwa noch die Debatten um die Mitbestimmung oder um das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verdeutlichen.

Die unterschiedlichen Brancheninteressen erschwerten zur Weimarer Zeit die interne Willensbildung. Die sozioökonomischen Krisen taten ein Übriges, dass weder der RDI noch die Politik konstruktiv an Zukunftsprogrammen arbeiten konnten. Stattdessen suchte vor allem die – in sich uneinige – Großindustrie nach Möglichkeiten, die eigene wirtschaftliche Position auf politischem Wege zu sichern – nicht selten zu Lasten der mittelständischen Industrie und der Arbeitnehmer:innen. In den RDI-Gremien waren vor allem Großindustrielle vertreten, denen es letztlich trotz aller persönlichen Reputation – zu denken ist etwa an Carl Duisberg – nicht gelang, die Verteilungskonflikte zu befrieden: In der Wirtschafts- und Staatskrise der Weimarer Republik war der RDI zerstritten und als Interessenverband eher schwach, zumal zahlreiche Großindustrielle auch andere, direktere Einflusskanäle nutzten, um politische Entscheidungen zu beeinflussen.

Die Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft und die Gleichschaltung der Interessenorganisation nahm der geschwächte RDI, seit 1931 unter Leitung von Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, trotz interner Kritik u.a. an der Ausschaltung jüdischer Vorstandsmitglieder, mehr oder minder hin. Die Umwandlung zunächst in den Reichstand (1933) und dann in die Reichsgruppe Industrie (1934) reduzierte den ehemaligen RDI auf Dienstleistungsfunktionen für seine Mitglieder bzw. den NS-Staat und die Kriegswirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zukunft des Verbands zunächst offen, doch schließlich gelang es dem bis dahin wenig bekannten Fritz Berg, den Bundesverband der deutschen Industrie – weitgehend ohne personelle Altlasten – neu zu gründen und innerhalb der Tektonik des neuen Verbands mittelständische Interessen stärker als bislang zu berücksichtigen.

Bähr arbeitet vor allem mit der umfangreichen Literatur, argumentiert verlässlich und umsichtig. Bei der Darstellung des RDI in der Endphase der Weimarer Zeit folgt er allerdings vornehmlich Reinhard Neebe und übernimmt auch einige umstrittene Deutungen (S. 107), die durch Henry Turner widerlegt oder stark relativiert worden sind.1 Freilich handelt es sich dabei vornehmlich um Deutungsfragen, die nicht geeignet sind, die Verdienste des ersten Teils zu schmälern. Bähr profitiert erkennbar von seiner profunden Kenntnis der Akteure und der ökonomischen Problemlagen von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen. Wenn er auch in sachlicher Hinsicht wenig Neues zu Tage fördert, so zeigt er doch personelle, ideelle und institutionelle Verbindungen auf, die so klar bislang in der Forschung noch nicht dargelegt wurden.

Im Gegensatz zu Bähr konnte Christopher Kopper nur auf wenig geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur zurückgreifen. Gleichwohl überrascht, dass er ausweislich des Literaturverzeichnisses von den wenigen einschlägigen Arbeiten einige nicht herangezogen hat.2 Kopper wertete vor allem Gremienprotokolle und Verbandsschriftgut aus. Er arbeitet die wirtschaftspolitischen Positionen des BDI klar und verständlich heraus und konstatiert für die 1950er- und 1960er-Jahre Einvernehmen mit der Bundesregierung. Gelegentlicher Dissens in Detailfragen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass BDI und (Wirtschafts-) Politik in grundlegenden Fragen übereinstimmten. Da Kopper sich auf diese großen wirtschaftspolitischen Linien (z.B. Soziale Marktwirtschaft, Kartellgesetz, Konjunkturpolitik, europäische Integration) konzentriert, eröffnet seine Darstellung auch Möglichkeiten für die künftige Forschung, anhand von Einzelfällen zu überprüfen, ob sich tatsächlich die Konflikte reduzierten oder ob diese nicht doch eher durch Vorarbeiten auf unteren Hierarchieebenen antizipiert und mediatisiert wurden, bevor sie im BDI-Vorstand diskutiert oder gar nach außen kommuniziert wurden.

Der BDI, von 1949 bis 1971 durchgängig von Fritz Berg geführt, griff anfangs auf etablierte Instrumente der Einflusspolitik zurück, deren Adressaten im Wesentlichen Vertreter von Parteien, vor allem von CDU und FDP, sowie Abgeordnete waren, noch selten jedoch die Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht stellte die Gründung des Deutschen Industrie-Instituts (heute: Institut der deutschen Wirtschaft) 1951 die wichtigste institutionelle Neuerung dar. Es fundierte interessenpolitische Positionen fortan wissenschaftlich und regte auch interne Diskussionen an. Hingegen waren der Ost-Ausschuss, der Kulturkreis und die auf den Mittelstand ausgerichtete Industriekreditbank keine genuin neuen Organisationen, sondern knüpften ideell an die Weimarer Zeit an, letztere etwa an die Bank für deutsche Industrieobligationen, die nach dem Wegfall ihrer ursprünglichen Geschäftsgrundlage 1931 unter maßgeblicher Beteiligung des RDI zu einer Förderbank für Landwirtschaft und industriellen Mittelstand umgestaltet worden war.3

Seit dem Ende der 1960er-Jahre stand der BDI vor einer umfassenden Neuorientierung. Die Politik der sozialliberalen Koalition, vor allem die Ausweitung der Staatsquote, betrachtete er zunehmend kritisch. Die Kanzlerschaft Brandts stellte interessenpolitische Selbstverständlichkeiten in Frage, und die deutschen Unternehmer sowie ihre Verbände gerieten öffentlich unter Legitimationsdruck – eine Entwicklung, die sich durch die Wirtschaftskrisen der 1970er-Jahre und offenkundige Schwierigkeiten von Unternehmen, angemessen auf die ökonomischen Herausforderungen der Zeit zu reagieren, noch verstärkte. Vor allem das gescheiterte Misstrauensvotums 1972, bei dem sich der BDI mit allen erdenklichen informellen Mitteln für Rainer Barzel stark gemacht hatte, wirkte mittelbar auf die Strukturen des Verbands ein. Der BDI versuchte fortan, die öffentliche Meinung für seine Positionen einzunehmen, und stellte seine Interessenpolitik breiter auf: Im vorparlamentarischen Raum nahmen Referenten und (Haupt-)Geschäftsführer fortan eine wichtigere Rolle ein, nachdem bis dahin vor allem die Vorsitzenden, häufig durch persönliche Beziehungen zu Politikern, Grundsatzfragen sondiert hatten. Zudem gewannen Vertreter mittelständischer Unternehmen weiter an Gewicht. Bereits während der Kanzlerschaft Schmidts, der für wirtschaftliche Interessen ohnehin ein offenes Ohr hatte, spielten sich rasch wieder tragfähige Beziehungen ein, was den BDI seitdem vor allem als politischen Berater erscheinen lässt, der seine Einflusspolitik, anders als der RDI zur Weimarer Zeit, auf wirtschaftliche Fragen beschränkte.

Den Anspruch, eine Gesamtdarstellung des BDI vorzulegen, löst das Buch ein, wenngleich vor allem in wirtschaftspolitischer Hinsicht. Die Überlegungen zur internen Willensbildung, zur Delegation von Verfügungsrechten, zum Verhältnis von Verbandsbürokratie und Leitung, zu Verbandsressourcen wie Mitgliederentwicklung und Budget, gehen über Ansätze nicht hinaus bzw. werden nicht systematisch analysiert. Die wenigen methodischen bzw. konzeptionellen Zeilen (S. 10 ff.) wirken daher letztlich pflichtschuldig. Zudem rekurrieren sie nur auf politikwissenschaftliche Ansätze, berücksichtigen verbandsökonomische Überlegungen aber nicht.4 Der Wert des gut lesbaren Buches liegt deshalb vor allem im empirischen Gehalt und in der Syntheseleistung – was keineswegs gering zu schätzen ist.

Anmerkungen:
1 Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930–1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981; Henry Ashby Turner jr., Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, Berlin 1985.
2 So vor allem die Dissertation von Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007, und Volker Ebert, Korporatismus zwischen Bonn und Brüssel. Die Beteiligung deutscher Unternehmensverbände an der Güterverkehrspolitik (1957–1972), Stuttgart 2010.
3 Siegfried C. Cassier, Unternehmerbank zwischen Staat und Markt 1924–1995. Der Weg der IKB Deutsche Industriebank, 3. Auflage. Frankfurt a.M. 1996.
4 Klassisch Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 1968; synthestisierend Frank Daumann, Interessenverbände im politischen Prozeß. Eine Analyse auf Grundlage der Neuen Politischen Ökonomie, Tübingen 1999.

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