G. Warland: Experience and Memory of the First World War in Belgium

Cover
Titel
Experience and Memory of the First World War in Belgium. Comparative and Interdisciplinary Insights


Herausgeber
Warland, Geneviève
Reihe
Historische Belgienforschung
Erschienen
Münster 2018: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Brandt, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Sammelband bietet sieben Aufsätze, die analysieren, wie in Belgien der Erste Weltkrieg erlebt und seither erinnert wurde. Dabei werden nationale, regionale und lokale Perspektiven miteinander verbunden. Die 14 Autor/innen haben fünf Jahre gemeinsam in einem interdisziplinären Forschungsprojekt gearbeitet, dessen Ziel es war, eine Verbindung herzustellen zwischen der Kriegserfahrung und dem Gedenken und damit das belgische Weltkriegserbe zu stärken. Die Besonderheit des Projektes – und auch der Beiträge – ist die „gearbeitete“ Interdisziplinarität. Denn sowohl im Forschungsprojekt als auch für die Aufsätze haben mindestens zwei Wissenschaftler/innen meist unterschiedlicher Disziplinen zusammengearbeitet, und das mit zum Teil überwältigenden Ergebnissen. Zum Team gehören Historiker, Literaturwissenschaftler und Psychologen. In der Einführung unterstreicht Herausgeberin Geneviève Warland eine weitere Besonderheit der in dem Band versammelten Aufsätze: Sie verbinden nicht nur Emotionsgeschichte mit Methoden, die aus der Psychologie übernommen wurden, sie erforschen auch die Geschichte des kulturellen Erbes und schließlich vermessen sie die Wirksamkeit von Medien und Ereignissen als Bestandteile verschiedener Erinnerungskulturen. Das ist ambitioniert, ertragreich und für den Leser/die Leserin nicht immer ohne Mühen nachzuvollziehen.

Am stärksten beeindruckt hat mich direkt der erste Aufsatz der beiden Historiker/innen Rose Spijkerman und Antoon Vrints sowie dem Psychologen Olivier Luminet über die psychologischen Funktionen des Tagebuchschreibens im Ersten Weltkrieg. Er stellt mein bisheriges Verständnis der Quellengattung vollständig auf den Kopf. Auch ich habe das im Beitrag erwähnte Buch von Norton Cru1, gebannt gelesen. Obwohl er, was heute als anachronistisches Vorgehen gilt, die Einträge auf ihre Stichhaltigkeit und Faktizität hin streng überprüfte, hatte Cru bereits Ende der 1920er-Jahre Tagebücher als Quelle ernst genommen. Und genau wie Cru las ich Tagebücher und Feldpostbriefe in zahlreichen Editionen mit der Hoffnung, dort etwas über das Kriegserlebnis zu finden, in einer Sprache, die den Schrecken nicht verschleiert. Ich suchte nach Quellen, die erklären, warum die Soldaten diesen Horror aushielten und wie sich im Laufe der Jahre ihre Deutungen möglicherweise veränderten. Das fand ich nur punktuell. Kritische Stimmen kamen von Historikern der alten Schule, die betonten, dass diese Quellen eigentlich nur dann valide Erkenntnisse liefern könnten, wenn man sie in großen Mengen auswerte.

Vor diesem Hintergrund ist der Beitrag eine Offenbarung. Die Autor/innen haben insgesamt vier Tagebücher ausgewertet, deren Schreiber nicht unterschiedlicher sein könnten in Bezug auf ihre Ausbildung und soziale Herkunft. Ausgehend von der Prämisse, Tagebücher seien oftmals spontan geschrieben, also noch vor der Phase, in der die Erinnerung sich konstituiere, unterziehen die Verfasser/innen die Texte einem „close reading“. Sie gehen ohne weitere Vorannahmen heran, nur mit der Überzeugung, dass Tagebücher aufgrund ihrer offenen Erzählstruktur, mit Wiederholungen und Widersprüchen Quellen seien, aus denen abzulesen sei, welche Strategien der Bewältigung die Tagebuchschreiber anwandten. Und plötzlich – durch die Erklärung eines Psychologen – wird erkennbar, dass das, was ich für Abgestumpftheit hielt, nämlich etwa das nüchterne Auflisten der täglichen Verluste, eine Möglichkeit war, das Erlebte auf Abstand zu bringen und sich nicht in den Strudel des Schreckens ziehen zu lassen. Eine in den Tagebüchern erkennbare Strategie sei es gewesen, so die Autoren, Schreckliches mit Schönem zu kontrastieren, die eigene Wahrnehmung so zu schulen, dass der Blick auf etwas Schönes fällt – ein gutes Essen, ein Bad, einen Haarschnitt, frische Unterwäsche (nach vier Monaten) oder die Erinnerung an die Familie. Durch die Analyse der Autor/innen wird plausibel, wie der Wechsel vom Niederländischen ins Französische bei einem Tagebuchschreiber Teil der Strategie war, die belastende Sorge um die Bedrohung der Mutter im besetzten Gebiet von sich zu entfernen. Auch der Hinweis, dass Tagebuchschreiber oftmals dann aufhörten zu schreiben, wenn oder weil sie sich an die Erfahrungen gewöhnt hatten, ist eine wichtige Erkenntnis, denn sie führt dazu, dass die Quelle nicht mehr notwendigerweise den gesamten Kriegszeitraum abdecken muss, um „relevant“ zu sein.

Einen ähnlichen Effekt hat der Beitrag über Briefmarken als Medien des Gedenkens von Chantal Kesteloot und Laurence van Ypersele. Die Verfasserinnen lenken den Blick auf ein kleines Objekt, das millionenfach gedruckt, gekauft und versendet wurde. Sie bezeichnen die Marken als ein „kraftvolles Instrument“ der Mobilisierung (S. 192). Mit dem Aufschlag, der auf viele Briefmarken im und nach dem Krieg über den Nennwert der Marken hinaus erhoben wurde, konnten Hilfsprojekte und Institutionen unterstützt werden. So waren die Briefmarken ein fester Teil der Kriegsanstrengung. Sie waren aber auch Instrumente der Propaganda oder zumindest der Mobilisierung: Bereits im Jahr 1915 wurden von der belgischen Exilregierung Briefmarken der zerstörten Orte Löwen (Bibliothek), Dinant (Kirche Notre Dame) und Ypern (Tuchhalle) gedruckt. Allerdings zeigten die Briefmarken die zerstörten Sehenswürdigkeiten im intakten Zustand der Vorkriegszeit. Während im besetzten Belgien die Briefmarken mit deutschem Aufdruck kenntlich gemacht wurden, wurden diese Postwertzeichen als Versprechen eines freien und in alter Schönheit wiederaufgebauten Landes verschickt.

Besonders aufschlussreich gerät der Beitrag, da er eine lange, bis an die Gegenwart reichende Perspektive anlegt. Bis zu den Hundertjahrfeiern des Beginns des Ersten Weltkrieges im Jahr 2014 gab es zwar etliche Marken, die an den Krieg erinnerten, doch Gewalt bildeten sie nicht ab. Mehrfach hatten sich Motive – etwa ein versehrter Soldat – als wahres Kassengift erwiesen, und die Marken blieben in den Postämtern liegen. König Albert hingegen war der unumstrittene Held und Verkaufsschlager. Sein Abbild in Uniform zierte belgische Briefmarken auch nach seinem Tod. Umsichtig wurden seine Porträts „gealtert“, aber erst anlässlich seines 100. Geburtstages zeigte ihn eine Marke als Zivilisten. Seit den 1970er-Jahren, so die Interpretation der Autorinnen, wurde der König auch als Demokrat und Schirmherr der Künste erinnert, doch diese Deutungen ersetzten nie den Kriegerkönig Albert. Zwischen 2014 und 2018 erschienen fünf Bögen mit Briefmarken, auf denen Motive wie Flüchtlinge, Widerstand, die Exilregierung, aber auch Brieftauben und anderes abgebildet wurden. Die Vielfalt der Erinnerungskulturen sowie der Forschungsthemen spiegelt sich in den Motiven.

Andere Beiträge des Bandes fordern mehr (oder zu viel?) von den Autor/innen und den Leser/innen. So spannt der Beitrag von Myrthel Van Etterbeeck und Karla Vanraepenbusch einen weiten Bogen über verschiedene Medien, die die beiden Städte Lüttich und Antwerpen als Repräsentanten des „tapferen kleinen“ oder „armen kleinen“ Belgiens erinnern. Am Beispiel des etablierteren Mediums der Literatur belegen die Autorinnen für die Kriegsjahre überzeugend, dass die Belagerung der Stadt Antwerpen vor allem mit Blick auf die internationale öffentliche Meinung genutzt wurde, um Belgien als Opfer deutscher Aggression zu präsentieren und die Kriegsanstrengungen der Alliierten zu rechtfertigen. Das Narrativ des „armen kleinen Belgien“ erwies sich für diesen Zweck als sehr effizient. Doch schon in der Nachkriegszeit wandelte sich das Verhältnis zwischen den beiden Erzählungen: Das Motiv des „tapferen Belgiens“ ließ sich sehr viel besser einfügen in das Selbstbild, das den langen Kampf von der Fremdherrschaft zur Unabhängigkeit als einen opfervollen aber erfolgreichen Prozess zeichnete. Beim Versuch, den Narrativen des Erinnerns nachzuspüren, widmen sich die Autorinnen zudem einer Fülle von Medien wie Monumenten, Plaketten und Straßennamen, die sich zum Teil rasant verändern und, wie die Verfasserinnen betonen, einer ständigen Rekonstruktion unterliegen. Die Herausforderung sei es, derartige Prozesse nachzuzeichnen, ohne sich in Details zu verlieren. Diesen „Text der Stadt“ (S. 97) analysieren die Autorinnen überzeugend und sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Erzählung des tapferen Widerstands der Stadt Lüttich erfolgreicher als die Erinnerung an das Opfer Antwerpens gewesen sei. Letztere blieb fragmentiert, und es konnte sich keine starke Meistererzählung bilden. Damit, so das Fazit, läuft das Erbe des Krieges im Falle Antwerpens Gefahr, vergessen zu werden.

Ähnlich ambitioniert ist der Beitrag von Elke Brems, Reine Meylaerts, Pierre Bouchat und Olivier Klein, die sich mit einer Edition des belgischen Künstlers und Schriftstellers Tom Lanoye aus den Jahren 2002 und 2004 auseinandersetzen.2 Lanoye traf eine Auswahl an zeitgenössischen Gedichten zum Ersten Weltkrieg (etwa von Sassoon über Trakl bis zu Marinetti und Apollinaire) und übersetzte sie. Der Aufsatz widmet sich drei Komplexen auf einmal: dem Übersetzer der Gedichte – das jedoch nur sehr oberflächlich –, dann der Rezeption durch die Literaturkritik und schließlich der Wirkung auf Schüler. Insgesamt möchte man drei unterschiedliche Gruppen von Rezipient/innen betrachten, aber vor allem der letzte Teil zur Wirkung auf Jugendliche steht vor der Herausforderung, gründlich erarbeitete Umfrageergebnisse in einen für ein nicht sozialwissenschaftlich sozialisiertes Publikum verständlichen Text zu übertragen. Wenn dann in diesem Teil beiläufig auch auf Übersetzungsvarianzen (etwa am Beispiel von „Poppies“ – Mohnblumen) eingegangen wird, gerät der Argumentationsgang strukturell durcheinander. Angesichts der zahlreichen verschiedenen Einflussfaktoren ist die Reichweite der Aussagen über die Wirkung bei den Jugendlichen am Ende erwartbar niedrig. So bleibt nach der anstrengenden Lektüre der Eindruck, dass sich die Autoren zu viel vorgenommen haben. Ist die Analyse des Projekts von Lanoye an sich überaus spannend, ist der Ansatz, die Erfahrung mit dem Erinnern verbinden zu wollen, hier nicht so gut gelungen: Die Analyse des Übersetzungsprozesses gerät zu kurz, zu unbefriedigend sind die Ergebnisse hinsichtlich der Wirkung auf die Jugendlichen.

Angesichts der großartigen Erkenntnisse nach der Lektüre einiger Beiträge und auch nach den Mühen bei dem Versuch, andere Ergebnisse nachzuvollziehen, bleibt als Antwort auf die von Herausgeberin Geneviève Warland formulierte Frage „Yet another book on the First World War?“ als Antwort ein klares: ja – mit dem Wissen, dass interdisziplinäre Wege immer etwas steiniger sind als die vertrauten.

Anmerkungen:
1 Jean Norton Cru, Wo ist die Wahrheit über den Krieg? Eine kritische Studie, Potsdam 1932.
2 Tom Lanoye, Niemans land/Overkant. Gedichten uit de Groote Oorlog, Amsterdam 2014. Die beiden 2002 und 2004 erschienenen Bände wurden 2014 in einem Band veröffentlicht.

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