A. Pehnke (Hrsg.): Willy Steiger (1894–1976)

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Titel
Willy Steiger (1894–1976). Biografie und Werkauswahl. Vom Zeitzeugen des Völkermords an den Armeniern zum Reformpädagogen und Schriftsteller


Herausgeber
Pehnke, Andreas
Erschienen
Markleeberg 2019: Sax-Verlag
Anzahl Seiten
712 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jörg-W. Link, Department Erziehungswissenschaft, Universität Potsdam

Quelleneditionen gehören zum Kerngeschäft in historisch arbeitenden Disziplinen, eröffnen uns die Quellen – als Gegenwart der Vergangenheit – doch Wege in vergangene Zeiten und Welten. Aber wissen wir nicht längst alles über die Reformpädagogik? Benötigen wir wirklich eine weitere Quellenedition zur Reformpädagogik – noch dazu über einen Reformpädagogen, dessen Namen man – so der Klappentext – in aktuellen Nachschlagewerken zur Geschichte und Gegenwart der Reformpädagogik vergeblich suche? Allein dieser Befund wäre schon ein guter Grund für die Notwendigkeit der vorliegenden Quellenedition. Aber es gibt noch gewichtigere Gründe.

Der Greifswalder Bildungshistoriker Andreas Pehnke ist bereits mehrfach mit biographisch orientierten Editionen zur Reformpädagogik hervorgetreten, vornehmlich aus dem Umfeld der sächsischen Reformpädagogik. So z.B. zu Fritz Müller (2002), Waldus Nestler (2004), Kurt Schumann (2004) oder zu Johanns Tews (2011); aber auch zu den friedenspädagogischen Publikationen des Hamburger Reformpädagogen Wilhelm Lamszus (2006, 2016). Diese Reihe hat er nunmehr ergänzt durch die vorliegende Werkausgabe und Biographie zu Willy Steiger. Alle Bände sind im Sax-Verlag erschienen. Unschwer erkennbar ist, dass Andreas Pehnke die reformpädagogischen Akteur/innen der zweiten Reihe in den Fokus rückt. Sie sind für die Geschichte von Schulreform vermutlich aufschlussreicher als die hinlänglich bekannten Protagonist/innen der Reformpädagogik. Pehnke spricht hier von „basispädagogische[r] Pionierarbeit“ (S. 17) bzw. von „basispädagogischen Initiativen“ (S. 577). Willy Steiger gehörte zu einer Generation von reformpädagogisch engagierten Menschen, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer schulischen Reformarbeit aktiv wurden. Er hat die für seine Generation charakteristischen Sozialisations- und Lebenserfahrungen gemacht: Wandervogel, Jugendbewegung, Lebensreform, Erster Weltkrieg, politische und pädagogische Aufbruchsstimmung in der ersten deutschen Demokratie, die Verwerfungen der NS-Zeit (mit einer Strafversetzung) und des Zweiten Weltkrieges, die Veränderungsprozesse und die Konkurrenz der politischen Systeme nach 1945. Seinen Zeitgenossen überregional bekannt wurde Steiger Mitte der 1920er-Jahre als Autor zweier größerer Erfahrungsberichte über seine reformpädagogische Arbeit an der Versuchsschule der Gartenstadt Hellerau bei Dresden. Hellerau war schon vor dem Ersten Weltkrieg „ein Mekka der Lebensreformbewegung“ (S. 12).

Bei der Rezeption der Reformpädagogik kann man – vereinfacht gesprochen – zwischen einer historischen und einer pädagogischen Lesart unterscheiden. Die historische Lesart interessiert sich primär für historisch verortete gesellschaftliche und pädagogische Handlungsräume und -bedingungen der historischen Akteur/innen sowie für deren Konzepte und Praxen. Einer pädagogischen Lesart der Reformpädagogik geht es demgegenüber systematisch um pädagogische Motive und Formen professionell-pädagogischen Handelns auf der Grundlage reformpädagogischer Konzepte und Praxen. Pehnke favorisiert für Steigers Werkedition eine pädagogische Lesart: „Gewiss geht es auch darum, wichtige geschichtliche Dokumente der Pädagogik des zwanzigsten Jahrhunderts wieder zugänglich zu machen, in denen eine faszinierend einfallsreiche Schulreformarbeit dargestellt und begründet wird. Wichtiger aber ist für die Edition dieses Bandes die Überzeugung des Herausgebers, dass Steigers Schulschriften für die heutige Schulpädagogik in Theorie und Praxis nach wie vor bedeutsam sind“ (S. 19). Dabei sei es „von Vorteil“, dass „Steiger kein mehr oder weniger geschlossenes Konzept […], sondern ein aus seiner pädagogischen Praxis gewonnenes offenes und impulsgebendes Schulreformmodell“ (S. 19) hinterlassen habe.

Die 711-seitige Werkedition ist chronologisch entlang der Biographie Steigers in insgesamt vier Kapitel gegliedert: Ausbildungsjahre im Wilhelminischen Deutschland sowie Militärzeit im Ersten Weltkrieg (1, S. 23–192), Friedens- und reformpädagogisches Engagement in Hellerau bei Dresden während der Weimarer Republik (2, S. 193–540), Innere Emigration im Nationalsozialismus und Einberufung zur Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg (3, S. 541–566), Im Ost-West-Dialog der Nachkriegsjahre (4, S. 567–701). Ein Anhang mit einer Werkbibliographie und einem umfangreichen Personenregister ergänzt die kommentierte Werkedition. Die Kapitel sind jeweils so aufgebaut, dass auf biographische Ausführungen und bildungshistorische Kontextualisierungen und Kommentierungen seitens des Herausgebers die ausgewählten Quellen folgen. Dies geschieht in unterschiedlich dichter Form, einmal natürlich aufgrund der Überlieferung, zum anderen aber auch wegen der mehr oder minder bekannten historisch und bildungshistorisch relevanten Kontexte. Die erläuternden Abschnitte des Herausgebers sind insgesamt, aber vor allem in Kapitel 2, ausgesprochen informativ, kenntnisreich und klug ausgearbeitet, etwa wenn die sächsischen Versuchsschulen als Impulsgeber für Schulreformen oder die zeitgenössische Reformpädagogik-Rezeption dargestellt werden. Pehnke zeichnet mit seinen Kommentaren ein lebendiges, differenziertes und facettenreiches Bild eines offenbar faszinierenden und vielseitigen Menschen. Die Bibliographie Willy Steigers (S. 702–706) verzeichnet insgesamt 14 Monographien, 79 Buchbeiträge und Aufsätze, 4 Lehr- und Unterrichtsmaterialien, 4 Rezensionen, 7 Tageszeitungs- und 6 Rundfunkbeiträge (Steiger gestaltete unter anderem 57 Rundfunkbeiträge zum Themenkomplex „Reformpädagogik und Schulreformen“, S. 568). Insgesamt 37 von Steiger publizierte Texte hat Andreas Pehnke für die vorliegende Quellenedition ausgewählt, ergänzt durch unveröffentlichte Dokumente wie Fotos und Briefe aus dem Nachlass. Die Auswahlkriterien erschließen sich indirekt durch die Chronologie der Biographie und der Arbeitsschwerpunkte Steigers. Explizit benannt werden die Auswahlkriterien jedoch nicht.

Weil Steigers Arbeits- und Publikationsschwerpunkte in der Weimarer Zeit und in der Reformpädagogik lagen, ist Kapitel 2 mit rund 350 Seiten auch das umfangreichste. Hier sind es vor allem seine Berichte über die Versuchsschulpraxis in Dresden-Hellerau, die sowohl unter der Perspektive der historischen als auch unter der Perspektive der pädagogischen Lesart interessant und aufschlussreich sind, rücken sie doch die praktische Seite der Reformpädagogik ins Zentrum. Publiziert werden nicht nur Steigers schulpädagogisches Hauptwerk „S‘ blaue Nest. Erlebnisse und Ergebnisse aus einer vierjährigen Arbeit mit einer Volksschuloberstufe“ (1925, S. 251–235), sein Praxisbericht „Fahrende Schule“ (1924, S. 218–250) sowie der Schülerbriefwechsel „Unsere Alpenfahrt“ (1925, S. 326–344), sondern auch Texte zur Technikdidaktik („Die Benzinkutsche“, 1931) und zur Gesundheitspädagogik („Praktische Menschenkunde“, 1930). Eine besondere bildungshistorische Quelle ist zweifellos der 1931 erschienene Titel „Müllers und die weite Welt“, auf den Seiten 436 bis 482 im Faksimile abgeduckt. Hier stellt Steiger die alltägliche Verflochtenheit eines kleinen Ortes mit der gesamten modernen Welt in kindgerechter Sprache dar – ein Thema, das in anderen städtischen und ländlichen Reformschulen der Weimarer Zeit ebenfalls behandelt wurde. Pehnke sieht hierin eine „didaktische Pionierarbeit zum Themenkomplex der Globalisierung“ (S. 217). Wer wissen möchte, was „pädagogisches Verstehen“ (Klafki) bedeutet, wie man mit einer Pädagogik der Anerkennung und Wertschätzung Inklusion fördert und Selektion vermeidet, möge Steigers Beitrag „Sorgenkinder – Sitzenbleiber“ (1929, S. 513–518) lesen. Steiger argumentiert hier nicht nur überraschend modern mit pädagogisch-psychologischen Fallanalysen, er bringt auch gute systematische Argumente für die Unsinnigkeit des Sitzenbleibens. Ebenfalls erstaunlich modern ist Steigers früher (1925) Verweis auf die soziale Determiniertheit von Bildungserfolg: „Alle Berufswahl hängt nur vom Gelde ab. Alle Bildung ist käuflich. Trotz aller gegenteiligen Beteuerung – freie Bahn dem Tüchtigen – hat sich bei diesem Jahrgange ganz deutlich gezeigt, dass des Vaters Geldbeutel allein entscheidet. – Die Zugänge zu den oberen Stockwerken sind nur gegen Kasse geöffnet.“ (S. 311) Machen solche Ausführungen schon deutlich, dass Steiger auch ein sehr kritischer Beobachter und Kommentator gesellschaftlicher Entwicklungen war, so ist sein Nachwort zum pädagogischen Hauptwerk „S‘ blaue Nest“ (1925) auch unter der systematischen Frage nach Gelingensbedingungen von Schulreform aufschlussreich. Hier formuliert Steiger eine gewisse Verbitterung über das, was Hellmut Becker rund 30 Jahr später die „verwaltete Schule“ 1 nannte und was Horst Rumpf rund 40 Jahre später als „die administrative Verstörung der Schule“ bezeichnete 2, nämlich darüber, dass die sächsische Schulverwaltung den Schulversuch und seine pädagogische Arbeit einschränkte: „Das Bauhaus in Weimar, das neue Wege in Kunst und Handwerk wies, weit über Deutschlands Grenzen hinaus, wurde geschlossen. Eigene Wege werden nicht geduldet. Uniform ist Vorschrift! – Rufe ertönen nach Lehrplänen, nach verbindlichen Zielen, nach Einheit der Methode. Man will Stoffgebiete abgrenzen und die Zeit bestimmen, in der sie durchzuhecheln sind. Damit wird allem Schulleben der Garaus gemacht. Liebe wird im Keim erstickt.“ (S. 317) Ist diese Klage nicht immer noch aktuell in Zeiten, in denen Schulpädagogik nicht selten auf die Vermittlung international vergleichbarer Lernleistungen reduziert wird, wie Pehnke zu Recht fragt (S. 19)?

Pehnkes inspirierende voluminöse Quellenedition provoziert aber auch kritische Nachfragen – bei über 700 Seiten nicht wirklich überraschend. Als Leser/in kann man nämlich eine zusammenhängende Darstellung der Quellenüberlieferung durchaus vermissen: Welche Überlieferung zu Steiger gibt es insgesamt? In welchen Archiven sind welche Quellen zu Steiger und seinen biographischen Kontexten zu finden? Wie lässt sich der Nachlass Steigers benutzen? Welche Quellen enthält er? Welche Sekundärquellen existieren über die Arbeit und die Biographie Willy Steigers? Welche Literatur wurde zur Kommentierung der edierten Quellen genutzt? Antworten auf diese Fragen werden eilige Leser/innen nur mit Mühe finden, denn sie sind in den Herausgeberkommentaren und in den Fußnoten verborgen. Ein eigenes Kapitel über die Quellengrundlage, das für eine solche Edition eigentlich Standard sein sollte, gibt es nicht. Ebenso wenig gibt es ein Verzeichnis der von Pehnke für die Kommentierung verwendeten Quellen und Literatur. Sie sind ebenfalls nur in den Fußnoten nachgewiesen. Eine digitale Ausgabe der Edition, die die Rezeption des Werkes und der Biographie Willy Steigers zweifellos erleichtern würde, bietet der Verlag leider nicht an. Zur formalen Kritik gehört auch ein Hinweis auf das Layout des großformatigen, voluminösen Bandes. Sowohl die Erläuterungen des Herausgebers als auch die Quellen sind – bis auf wenige Ausnahmen im Faksimile – jeweils zweispaltig gesetzt. Optische Unterscheidbarkeit im Satz hätte Orientierung erleichtert und der Rezeption gutgetan.

Das Kapitel über die NS-Zeit (3) ist mit 25 Seiten das kürzeste chronologische Kapitel der Edition – allein der Exkurs zur Geschichte der Armenierverfolgung im ersten Kapitel, deren Zeuge Steiger war, umfasst 23 Seiten. Publiziert werden neben wenigen Fotos und Faksimile-Abdrucken vor allem Briefe über Kriegserlebnisse oder die Zerstörung Dresdens an den Sohn (1942–1945). Als Quellen aus der pädagogischen Arbeit Steigers in dieser Zeit finden sich hier nur drei Schulfotographien. Liegt das an der nicht vorhandenen Überlieferung? Existieren auch im Nachlass kaum Quellen aus dieser Zeit? Der Herausgeber lässt die Leser hier leider im Unklaren. Immerhin behauptet Pehnke mit sehr pauschalen – und nicht belegten – Bezügen zu Zeitzeugenaussagen, dass Steiger auch in der NS-Zeit trotz Strafversetzung an „humanistischen Elementen der Reformpädagogik“ festgehalten habe (S. 14). Schade, dass dies nicht ausgeführt wurde. Denn damit hätte die Edition auch einen Beitrag zur spannenden Debatte über Reformpädagogik im Nationalsozialismus respektive zur Ambivalenz der Reformpädagogik liefern können. Ist das dem Versuch geschuldet, die Biographie Willy Steigers möglichst geradlinig, konsequent und unverdächtig zu konstruieren? Gab es wirklich keine biographischen Brüche und Verwerfungen? Angesichts vergleichbarer Biographien etwa von Adolf Reichwein oder Wilhelm Kircher ist das nur schwer vorstellbar. Hier hat die Edition leider eine schmerzliche Leerstelle. Es gibt indes überhaupt keine Gründe, mit Steiger defensiv umzugehen, vor allem, wenn man sich auf die in Kapitel 2 entfalteten Zusammenhänge stützt. An dieser Stelle wird deutlich, dass ein theoretischer Abschnitt zur Biographieforschung und zu den multiperspektivischen Konstruktionsmechanismen einer Biographie durchaus sinnvoll gewesen wäre, will die Edition doch „Biographie und Werkauswahl“ sein. Gelten biographische Studien in der Erziehungswissenschaft mitunter als altbacken, so ist die vorliegende Edition jedoch ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass biographische Zugänge einen sehr ausdifferenzierten und vielgestaltigen Kosmos der Bildungsgeschichte (und der Reformpädagogik) im 20. Jahrhundert entfalten können.

So gibt es insgesamt mindestens drei gute Gründe für die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit dieser Quellenedition: Die Quellenedition entfaltet die historischen Kontexte und Bedingungen eines gelingenden (pragmatischen) Schulreformprozesses (1). Die Quellenedition präsentiert pädagogische Einsichten, die auch noch 100 Jahre nach ihrem Entstehen in ihrer Scharfsinnigkeit, Klugheit und pädagogischen Klarheit verblüffen und überzeugen. Sie zeigen, wie sich Schule entwickeln lässt und wie sich mit reformpädagogischer Didaktik und Methodik schülerorientierte Lernumgebungen gestalten lassen (2). Die Quellenedition zeigt biographische Zusammenhänge zwischen Kriegserfahrungen und (friedens-)pädagogischem Engagement, die biographische Wandlungsprozesse wie auch Gesellschaftskritik anstoßen konnten (3). Wer wissen will, „wie Reformprozesse in der Pädagogik angestoßen und realisiert oder wie Radikalisierungen in der Politik reflektiert werden, der findet am Fallbeispiel des Schulreformers und Schriftstellers Willy Steiger überaus interessante Antworten“ (S. 20). Hier ist dem Herausgeber uneingeschränkt zuzustimmen.

Anmerkungen:
1 Hellmut Becker, Die verwaltete Schule. Gefahren und Möglichkeiten (1954), in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 41 (1993), 2, S. 129 – 147.
2 Horst Rumpf, Die administrative Verstörung der Schule: Drei Kapitel über den beamteten Erzieher und die verwaltete Schule, Essen 1966.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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