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Titel
The Cigarette. A Political History


Autor(en)
Milov, Sarah
Erschienen
Cambridge, MA 2019: Harvard University Press
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 31,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Bonengel, Sammlungs- und Forschungsverbund Gotha, Universität Erfurt

Die Zigarette ist politisch. Es ist noch nicht allzu lange her, dass in deutschen Bundesländern Rauchverbote in Gaststätten beschlossen wurden, teils gegen erbitterten Widerstand. Die Gesundheit von Nicht-Raucher/innen müsse geschützt werden, erklärten Befürworter/innen; Gegner/innen sahen die Freiheit und die Rechte von Raucher/innen durch Verbote bedroht. Nur wenige Jahre später erscheinen rauchfreie Restaurants selbstverständlich. In den USA ist der öffentliche Raum für Raucher/innen inzwischen mit starken Einschränkungen belegt. Eine politische Geschichte darüber, wie es überhaupt dazu kam, dass sich Bürger/innen auf ihre Rechte als Nicht-Raucher/innen beriefen – sich also, was bemerkenswert ist, über das Nicht-Tun als politische Interessengemeinschaft definierten –, legt nun Sarah Milov vor.

In ihrer politik- und wirtschaftsgeschichtlichen Studie geht Milov jedoch noch weiter in der Geschichte zurück, nämlich bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie verspricht: „By looking at the cigarette, we see ourselves and our state.“ (S. 8) Sie stützt sich dabei auf Medienberichte, Unterlagen politischer Behörden, interne Dokumente der Tabakkonzerne (an der University of California in San Francisco zugänglich), Gerichtsurteile und wissenschaftliche Veröffentlichungen.

Die Frage, wessen Interessen der Staat eigentlich zu schützen hat, ist der Dreh- und Angelpunkt in dieser Geschichte, in der es um partizipative Demokratie, um Farmer, die Tabakindustrie, Raucher/innen und Nicht-Raucher/innen geht und darum, wie diese Gruppen versuchten, ihre gegenläufigen Interessen durchzusetzen. Dabei, das vorweg, spricht auch Milov gelegentlich die tatsächlich äußerst fragwürdigen Lobby- und PR-Strategien der Tabak-Konzerne an, ohne sich aber sensationsheischend daran abzuarbeiten. Stattdessen geht es ihr um eine breiter angelegte Rekonstruktion, welche die Zigarette durch Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert verfolgt und sie so in die jüngere Politikgeschichte der USA einbettet.

Ihren Aufstieg zum populären Konsumprodukt in der ersten Hälfte des. 20. Jahrhunderts verdankte die Zigarette demnach der Agrarpolitik der Bundesregierung, die in der Progressive Era zunächst die Rechte der Tabak-Farmer gegenüber dem „Big Business“ der Hersteller stärkte. Durch die anschließende, für den New Deal typische, staatliche Regulierung der Produktion wurde die Regierungsbürokratie zu einem Partner der Privatwirtschaft: Mit Preisgarantien für die Farmer sowie Obergrenzen für die Produktion nahm die Bundesregierung eine starke Rolle dabei ein, die Interessen von Farmern und Herstellern zusammenzubringen und Tabak, im Dienst des wirtschaftlichen Aufschwungs, zu fördern: „Everybody wanted higher prices for tobacco.“ (S. 59)

In der Nachkriegs-Ära der 1950er-Jahre, einer Zeit scheinbar unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums, macht Milov eine Expansion der Tabakunternehmen in den globalen Markt aus, da die New-Deal-Politiken nun als limitierend betrachtet wurden. Dies fiel mit dem massiven Ausbau von PR-Strategien der Zigarettenhersteller zusammen. Gleichzeitig führten die durch die protektionistische Politik hoch gehaltenen Tabakpreise heimischer Anbauer dazu, dass US-amerikanische Zigaretten-Hersteller in anderen Ländern einkauften. Die Regierungssubventionen für Farmer verwandelten sich so zunehmend von einem praktikablen Instrument zu einem „welfare state for rural white people“ (S. 106), die im Gegensatz zu Sozialhilfe für Afroamerikaner/innen als verdient betrachtet wurde und dementsprechend nicht im gleichen Ausmaß unter Beschuss geriet – einer der wenigen Momente, in denen Milov eine rassistische Schieflage thematisiert, über die es im Zusammenhang von Landwirtschaft und New Deal wohl noch mehr zu sagen gegeben hätte.

Dem „private-interest government“, das aus dem Geist des New Deal heraus die Interessen von Regierung und Industrie zusammen dachte, stellt Milov das seit den 1960er-Jahren erstarkende „public interest“ gegenüber: Umwelt- und Verbraucherschützer formierten sich bald auch für den Bereich des Schutzes von Nicht-Raucher/innen: Auf Basis eines wachsenden wissenschaftlichen Kanons, der die Verbindung zwischen Rauchen und Krebs sowie, etwas später, auch zwischen Passiv-Rauchen und Krebs darlegte (und den Tabak-Lobbyist/innen immer wieder zu verwässern suchten), versuchten Aktivist/innen und Public-Interest-Anwält/innen, Maßnahmen im Sinne der öffentlichen Gesundheit, des Verbraucherschutzes und der betrieblichen Gesundheitsfürsorge durchzusetzen: Warnhinweise auf Zigarettenpackungen, Anti-Tabak-Aufklärungsspots im Fernsehen, Nicht-Raucher/innen-Bereiche, Rauchverbote am Arbeitsplatz. So geriet die Regierung zunehmend in den Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen und der öffentlichen Gesundheit.

Dabei bedienten sich diese Aktivist/innen – meist Weiße aus der Mittelklasse, die zum Großteil diese „Quality-of-Life“-Bewegung bildeten – häufig der Sprache von Bürgerrechtler/innen und unterdrückten Minderheiten: Sie bezeichneten sich als Nicht-Raucher und stellten sich als diskriminierte Gruppe dar, deren Bürgerrechte der Staat nicht konsequent genug gegen die Interessen der Tabakindustrie schütze. Auftrieb bekam diese Bewegung, weil sie sich, besonders um rauchfreie Arbeitsplätze durchzusetzen, mithilfe von Epidemiolog/innen auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung stützte, die Raucher/innen als ökonomische Risikofaktoren für Unternehmen und das Gesundheitssystem beschrieb. Während sich in den 1980er-Jahren die Bundesregierung, wie auch in anderen Bereichen, zurückzog, zeitigten lokale Initiativen Teilerfolge im Kampf für die Interessen der Nichtraucher, während die Tabakindustrie sich neu sortierte.

Milov verfolgt konsequent die skizzierte politische Dimension der Zigarette. Sie verortet diese Debatten um gegensätzliche Interessen in einem demokratischen, auf die Rechte von Bürger/innen rekurrierenden Diskurs (was die Interessen von Unternehmen einschließt) und vollzieht so eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verschiebung der USA im 20. Jahrhundert nach, die freilich nicht nur am Beispiel der Zigarette zu beobachten ist. Wie aber, ist man versucht zu fragen, kann man diese lange politische Geschichte der Zigarette synthetisieren? Was bedeutet sie in einem größeren politisch-philosophischen, staatstheoretischen Kontext? Denn die Fragen nach der Teilhabe in einer demokratischen Gesellschaft, nach verschiedenen Interessen(gruppen), nach begründetem Schutz von wirtschaftlicher Prosperität und von Gesundheit schwingen in Milovs Studie eher unterschwellig mit. Sie herauszudestillieren bleibt mitunter Aufgabe der Leserin. Schlagworte wie „private“ und „public interest“, Bürgerrechte und -pflichten tauchen höchstens gelegentlich auf – was für einen empirischen Teil sicher nachvollziehbar ist. Um diesem kohärenten, hervorragend recherchierten Buch einen pointierten Abschluss zu gönnen, wäre allerdings ein analytischer angelegtes Schlusskapitel wünschenswert gewesen. Stattdessen verfolgt dieses den Faden eher chronologisch weiter, ohne die Klammer zur Einleitung zu schließen, in der Milov ja gerade tiefer gehende Einsichten in „ourselves and our state“ (S. 8) versprochen hatte.

Und dennoch: Milovs Studie fügt der Geschichte des Tabaks beziehungsweise der Zigarette einige äußerst wichtige und interessante Facetten hinzu. Sie historisiert auf gelungene Art ein Phänomen, dessen geschichtliche Dimension erstaunlicherweise kaum präsent ist, und zeigt uns, weshalb es ebenso politisch ist, sich als Nicht-Raucher zu bezeichnen wie sich in der Mittagspause eine Zigarette anzustecken – auch oder gerade wenn man dazu inzwischen vor die Tür gehen muss.

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