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Titel
"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland


Autor(en)
Knauer, Wolfram
Erschienen
Ditzingen 2019: Reclam
Anzahl Seiten
528 S., 60 SW-Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Department of English, German and Romance Studies, University of Copenhagen

Der Jazz hat eine bedeutende Rolle in der deutschen Kulturgeschichte gespielt: bei der Adaption US-amerikanischer Populärkultur, als Reflexionsgegenstand und Feld musikalischer Praxis insbesondere unter Jugendlichen und jungen Intellektuellen, als Objekt staatlicher Eindämmungs- und Erziehungsbemühungen. Teilaspekte dieser von einem ganzen Kult umgebenen musikalischen Form afro-amerikanischen Ursprungs sind häufiger behandelt worden – auch aus historiographischer Perspektive –, aber eine konzise Geschichte des Jazz in Deutschland fehlte bisher.1 Nun hat Wolfram Knauer, seit 1990 Direktor des Jazzinstituts Darmstadt, eine lebendig geschriebene Gesamtdarstellung vorgelegt, die es in sich hat.

Knauer durchmustert die Geschichte des Jazz in Deutschland chronologisch vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, wobei die Frühzeit naturgemäß weniger stark ausgebildet ist. Die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ werden in angemessener Breite dargestellt. Am ausführlichsten jedoch werden auf 300 Seiten die Jahre des Nachkriegs und der deutschen Teilung beschrieben – die Bundesrepublik intensiver als die DDR. Für Jazz-Aficionados ist Knauers Buch eine Goldgrube, weil es nicht nur umfängliches Wissen zu einer Vielzahl von Musikern und Mediatoren bietet, sondern überdies intelligent über Dynamiken und Entwicklungslinien reflektiert. Als Informationsquelle, aber auch konzeptionell ist „Play yourself, man!“ für Historikerinnen und Kulturwissenschaftler interessant, denn Knauer erzählt die Geschichte des Jazz als Geschichte der Musik. Das ist insofern neu, als in den Sound Studies die Frage nach der Bedeutung der musikalischen Gestalt für die Zeitgeschichte zwar oft aufgeworfen, aber selten wirklich beantwortet wurde – vielleicht auch, weil sie manche Historiker überforderte.

Da Knauer den Jazz von der Entwicklung seiner musikalischen Form und Praxis her verstehen will, beruht die Analyse in sehr viel stärkerem Maße als üblich auf Tonaufzeichnungen. Daraus ergeben sich einige Probleme; zum Beispiel, dass der Ansatz nur praktikabel ist, soweit Aufnahmen – in der Regel auf Schallplatte – vorliegen. Weil dies etwa für die DDR bis Mitte der 1950er-Jahre kaum der Fall ist, hat man sich hier mit den nicht-klanglichen Narrationen zu begnügen. Weiterhin ergibt sich daraus nolens volens ein Fokus auf professionelle Musikerinnen und Musiker. Amateurjazz kommt in Knauers Darstellung schon aufgrund der selten überlieferten Aufzeichnungen kaum zur Sprache – jedenfalls nicht in der Intensität, die dieses Phänomen verdient hätte.

Der im Vergleich dazu weitaus größere Gewinn besteht allerdings darin, dass der Gegenstand nicht nur, wie so oft, in erster Linie über Diskurse angegangen wird. Perzeption und Deutung durch Fans, Staat oder Medien spielen durchaus eine Rolle, aber im Mittelpunkt steht die Sache selbst. Nun ist das nichts völlig Neues: Kunsthistoriker, Literatur- oder Musikwissenschaftler haben schon immer die Werke in das Zentrum ihrer Arbeit gestellt. Aber in einer historischen Darstellung die exemplarische Werkbetrachtung als analytischen Anker zu verwenden und mit biografie-, generations- und gesellschaftsgeschichtlichen Perspektiven zu einer Gesamtschau zu verbinden, das entwickelt doch erheblich mehr Überzeugungskraft als die alleinige Rekonstruktion über Bande – eben weil es die Kunstform, um die sich Debatten und Praktiken gruppieren, wirklich ernstnimmt.

Es ist ein Glücksfall, dass mit Wolfram Knauer ein exzellenter Kenner der Materie sich dieser Aufgabe angenommen hat. Daher ähneln aber auch jene Passagen, in denen der studierte Musikwissenschaftler die Details der Gestaltung analysiert, mitunter „Erklärungen, die sich deutlich nicht an den musikalischen Laien, sondern an den Kenner richten“ (S. 273) – so der Autor selbst in einem anderen Zusammenhang. Das macht gar nichts, denn wo das musikologische Detail dem Kundigen zusätzliche Erkenntnisebenen erschließt, wird auch dem Laien immer klar, worauf Knauer hinauswill. So kontrastiert der Autor beispielsweise die deutsche Fassung des Benny-Goodman-Stückes „Goody Goody“ in Teddy Stauffers Interpretation von 1936 mit dem Original, um zu konstatieren, jene Interpretation sei „schon im einleitenden Themenstatement merklich steifer, etwa in den Blechakzenten im letzten Achttakter vor der Modulation zum Gesangsteil“ (S. 86). Auch anderes (ebenso detailliert Beschriebenes) überzeugt Knauer nicht. Dann aber Walter Dobschinskis kurzes Posaunensolo, das zeigt: In dieser Band, die „nach wie vor mit dem so fremden Phänomen des swing zu kämpfen hat, [gibt es] mindestens einen Musiker, der es verstanden hat, der ohrenfällig nicht abliest, sondern seinen Beitrag aus dem Bauch heraus spielt“ (ebd.). Allerdings ist der Vergleich mit den US-Vorbildern auch ungerecht, so Knauer, weil in Deutschland eben unter anderen Bedingungen gespielt wurde. Hier musste man sich den Stil erst erarbeiten, einen Weg finden, „der den Spagat ermöglicht: Jazz à la Swing zu spielen und doch die Reichsmusikkammer nicht zu sehr herauszufordern“ (S. 107). Ein anderes Beispiel: Der Posaunist Werner Müller transformierte seine 1942 aufgenommene, ziemlich gebremste Fassung von „That’s My Rhythm“ nur vier Jahre später, 1946, in ein wildes Stück von „swingendem Drive“ mit „Armstrong-mäßig heiser intonierte[n] Shouts“, das „wenige Jahre zuvor so keiner zugelassen hätte“ (S. 132f.).

In der Bundesrepublik bezog sich der Jazz analog des groben Entwicklungsmusters von der Imitation über die Assimilation zur Innovation ab Anfang der 1960er-Jahre immer weniger auf die US-Vorbilder, sondern arbeitete an einem eigenen Stil, der den individuellen Ausdruck ganz ins Zentrum rückte. Dies führte im Laufe des Jahrzehnts teilweise zu Annäherungen an die Neue Musik, aber auch zu Adaptionen der boomenden Popmusik – eine Dehnung des Spektrums, die Künstler wie Peter Brötzmann auf der einen, Klaus Doldinger auf der anderen Seite personifizierten. Für die DDR zeigt Knauer, dass die Vorstellung, dort habe man in erster Linie traditionellen Jazz gespielt, einem genaueren Blick nicht standhält. Schon Mitte der 1950er-Jahre gab es auch ostdeutsche Bands, die sich am Cool Jazz orientierten, allerdings in einer bereits anklingenden Spezifik. Doch erst der Mauerbau führte zur Herausbildung eines eigenständigen DDR-Jazz mit Radiosendungen, Tagungen, Buchpublikationen, Preisen und gleichzeitig einer internationalen Einbindung etwa durch Tourneen von Louis Armstrong oder Albert Mangelsdorff sowie Verbindungen zur polnischen und tschechischen Szene.2 Um die Mitte der 1960er-Jahre kam es auch in der DDR zu einer „Art von Emanzipation“, zur „Entwicklung eines eigenen ‚Dialekts‘“, der dort „auf eine seltsame Art geradezu lyrisch wirkt, deutlich virtuos und mit freier Improvisation, die weit entfernt ist vom ‚Kaputtspiel‘-Modus“ westdeutscher Kolleginnen und Kollegen (S. 333f.). Ähnlich detailliert werden die musikalischen Entwicklungen der folgenden Dekaden – Fusionen mit der Rockmusik, kontemplative Formen – gezeigt, zugleich verbunden mit der Darstellung lokaler Szenen und der ganzen Infrastruktur aus Schallplattenlabels, Clubs, Festivals, Rundfunksendungen und Interessenvertretungen bis hin zur Akademisierung. Ein Ausblick auf das 21. Jahrhundert mit seiner nicht nur musikalisch, sondern auch im Geschlechterverhältnis vielfältigeren und international strahlkräftigen deutschen Jazz-Szene schließt den Band ab.

Für Knauer ist das von der Notation gelöste freie Improvisieren das Ideal, und er kann historisch konkret zeigen, wann und in welchen Schattierungen sich der Jazz in Deutschland von der reinen Adaption des amerikanischen Vorbilds löste und etwas Eigenes entwickelte – teilweise unter fortwährendem Bezug auf die US-Größen, teilweise weit darüberhinausgehend in der Neugier auf musikalische Formen aus anderen Teilen der Welt (etwa Indien oder Südafrika), wie sie allen voran Joachim-Ernst Berendt schon seit den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik vorangetrieben hat. Wolfram Knauer hat mit seinem Standardwerk zum Jazz in Deutschland eine Gesamtschau dieses für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutenden Phänomens vorgelegt, die durch die gekonnte Verbindung von musikalischer Analyse und biografischen Studien mit sozial-, kultur- und politikgeschichtlichen Faktoren besticht.

Anmerkungen:
1 Aus der Geschichtswissenschaft z.B. Michael H. Kater, Different Drummers. Jazz in the Culture of Nazi Germany, New York 1992 (dt.: Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bernd Rullkötter, Köln 1995); Uta G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000. Außerdem Andrew Wright Hurley, The Return of the Jazz. Joachim-Ernst Berendt and West German Cultural Change, New York 2009. Vgl. als wichtige ältere Darstellung Horst H. Lange, Jazz in Deutschland. Die deutsche Jazz-Chronik 1900–1960, Hildesheim 1996, 2., verbesserte und ergänzte Aufl. [1. Aufl. Berlin 1966].
2 Siehe etwa Christian Schmidt-Rost, Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers, Frankfurt am Main 2015.

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