Cover
Titel
Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin


Autor(en)
Hegner, Victoria
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Marian Burchardt, Institut für Soziologie, Universität Leipzig

Dass religiöse Praktiken bestimmte Orte und Räume hervorbringen, die aus ihrer Umgebung herausgehoben und sakralisiert werden, ist seit den Arbeiten von Durkheim und Eliade weithin anerkannt. Erst in jüngerer Zeit finden sich jedoch zunehmend Studien, welche religiöse Hervorbringungen urbaner Räume in den Blick nehmen und damit die modernistische Definition von Stadträumen als per se säkular hinterfragen. Der Großteil dieser Studien widmet sich vornehmlich migrantisch geprägten religiösen Gruppen und vertritt damit – mehr oder weniger explizit – die These, dass die Dynamik religiöser Raumproduktionen im urbanen Kontext in der Gegenwart in erster Linie durch Transnationalisierungsprozesse befeuert wird.

Victoria Hegners kluges und gut lesbares Buch Hexen der Großstadt ist als Einwand gegen diese These geschrieben. Die Fokussierung auf urbane Ausdrucksformen migrantischer Religion in Europa, so das Argument, hat das Forschungsinteresse letztlich auf große monotheistische Religionen, in erster Linie Islam und Christentum, reduziert und vereinseitigte Annahmen über urbane Religiositäten hervorgebracht. In der Tat sind die ihrem Selbstverständnis nach fluiden und anti-institutionellen Spielarten alternativer und neuer Spiritualitäten in der stadtanthropologischen Forschungsliteratur stark vernachlässigt worden. Hegners Studie, in deren Zentrum die religiösen Praktiken neuheidnischer Hexen in Berlin stehen, markiert somit eine wichtige Forschungslücke.

Das Buch, das zugleich die an der Universität Göttingen im Bereich der Europäischen Ethnologie angenommene Habilitationsschrift der Autorin darstellt, untersucht das Wechselverhältnis von Religion und Urbanität. Auf welche Weise schreiben sich die Charakteristika der konkreten Stadt – Berlin – in religiöse Praktiken und Narrative ein? Und wie wird der Stadtraum umgekehrt durch die Rituale der Hexen geprägt? Hegner entfaltet ihre Betrachtungen und Überlegungen in fünf Kapiteln. Nach der Einleitung, in der die Autorin gekonnt das Forschungsfeld urbaner Religion und ihre konzeptuellen Orientierungen darstellt, zeichnet das erste Kapitel zunächst die Entstehungsgeschichte der neuheidnischen Religiosität nach. Diese ist eingebettet in das sogenannte Occult Revival, im Zuge dessen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein zunehmendes, zunächst von Großbritannien ausgehendes Interesse an übersinnlichen Phänomenen und der Beschäftigung mit okkulten Wissenschaften wie Magie, Alchemie und Astrologie zu beobachten ist sowie die Gründung von Gruppen, die sich diesen Wissenschaften verschreiben. Es kommt dann zu vielfältigen Umdeutungen der entstehenden Narrative, unter anderem in der kalifornischen Hippie-Bewegung der 1960er-Jahre, die der Hexenreligion eine feministische Wende ermöglicht. Wie die Autorin deutlich aufzeigt, ist die Geschichte der Hexenreligion ein transregionales Phänomen, und sie ist zuallererst eine Geschichte intellektueller Produktion. Ähnlich wie die sogenannten Weltreligionen entstehen neue Spiritualitäten aus der Erfahrung des Numinosen und der Systematisierung von Wissen darüber: aus dem Schreiben von Büchern, dem Lesen und der Errichtung von Weltbildern. Allerdings führen die vielfältigen Bezüge zu germanischen Gottheiten, Symbolen und Ritualen gerade im deutschen Kontext in eine Problematik, die die Hexenreligion bis in die Gegenwart hinein begleitet, nämlich die Verwendung ebendieser germanischen Mythen- und Ritualwelt zur Begründung rassischer Überlegenheit im Nationalsozialismus.

Im anschließenden zweiten Kapitel untersucht die Autorin nun, auf welche Art und Weise sich das neuheidnische Milieu im spezifischen Kontext Westberlins seit den 1980er-Jahren entwickelt hat. Dabei differenziert sie kenntnisreich unterschiedliche Strömungen innerhalb dieses Milieus, benennt die zentralen Akteuren und beschreibt deren biographische Prägungen. Es wird deutlich, auf welche Weise der vor allem von Kirchenvertretern propagierte (Anti-)Sektendiskurs, das nur ansatzweise begriffene nationalsozialistische Erbe nordischer Religiosität, aber auch aufkommende alternative politische Ideen zu ideologischen Schauplätzen wurden, auf denen Vertreterinnen der Hexenreligion aktiv wurden. Zentral ist laut Hegner, dass die Hexenreligion zunehmend als feministisches Emanzipationsprojekt gedeutet wurde, mit dem Frauen ihren Widerstand gegen die entfremdenden Institutionen der patriarchalischen Moderne zum Ausdruck bringen und alternative Lebenskonzepte erarbeiten könnten. Interessanterweise sind jedoch gerade Männer wichtige Protagonisten der Hexenreligion in den 1980er- und 1990er-Jahren und es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie sich deren Präsenz zu feministischen Diskursen und Selbstverständnissen in der Bewegung verhielt.

Die sich anschließenden Kapitel 3, 4 und 5 sind dann im Aufbau auf elegante Weise über eine dialektische Choreographie organisiert. Während es im mit dem Titel „Unsichtbar bleiben“ überschriebenen dritten Kapitel um private Religiosität und subjektive Innerlichkeit geht, behandelt das vierte Kapitel die Ritualpraxis der Hexen: ihr „Liminal sein“, wie es die Autorin unter Verweise auf Victor Turners Ritualtheorie beschreibt. Das fünfte Kapitel untersucht hingegen, wie die Hexen „öffentlich werden“ und wie der Wunsch nach öffentlicher Anerkennung zu neuen Institutionalisierungsdynamiken führt. Diese Kapitel bilden gewissermaßen das ethnographische Herz des Buches. So führt uns Hegner zunächst in die Wohnungen der Protagonistinnen und beschreibt die herausragende Rolle von Wohnungen als Kultorte einer privatisierten religiösen Praxis. Behutsam beschreibt sie die Anordnung verschiedener Gegenstände in selbstentworfenen und selbstgeschaffenen Altaren, deren Herkunft und Bedeutung für die Bewohnerinnen. Fasziniert und verblüfft habe ich hier zur Kenntnis genommen, wie vertraut ich als Mitteleuropäer mit vielen dieser Gegenstände war, ohne sie indes als Ritualobjekte einer privaten Religion wahrgenommen zu haben. Hegner beschreibt die Treffen der Hexen und die Art und Weise, in der Freundschaft und Verbundenheit eine bestimmte Intimität und Vertrautheit schaffen, in der der Glaube an die Magie eines Moments, die Hingabe an ein Gefühl und der Versuch des Eins-Seins mit der Welt Teile eines Geheimnisses, ja einer Geheimwelt werden, die die Hexen bewohnen und deren Wirkungsweise sich nur ihnen eröffnet. Über Beschreibungen der Biographien der Hexen zeichnet Hegner soziologische Hochauflösungsportraits, in denen die verschlungenen Wege in die Hexenreligion sichtbar und verständlich werden.

So fließend wie die Wege in die Gruppe der Hexen, so uneindeutig und flexibel gestaltet sich die Ausformung der Rituale. Orte und Zeiten sind kaum vorab festgelegt, sondern folgen Intuititionen, Eingebungen, Gefühlen und dem behutsamen Einschätzen der energetischen Potentiale bestimmter Momente und bestimmter Orte. Geheimes Wissen spielt dabei eine genauso wichtige Rolle wie das verallgemeinerte Virtuosentum, wodurch alle Beteiligten prinzipiell an der Ausgestaltung der Rituale mitwirken können. Keine andere Ethnographie im Forschungsfeld urbaner Religion bringt meines Erachtens die fundamentale Fluidität, das Fließen und Offensein als Grundmerkmale der Weltsichten, Lebensform und Ritualpraxis einer religiösen Gruppe so gekonnt auf den Punkt wie „Hexen der Großstadt“. Dabei mobilisiert die Autorin gekonnt und auf bewusst eklektische Weise soziologische und anthropologische Theorien, die ihr dabei helfen, ihren Gegenstand zu durchdringen. Im Ergebnis entsteht dabei das Portrait einer religiösen Praxis, das zugleich vielfältige Aufschlüsse über den stadtgesellschaftlichen Kontext von deren Entstehung mitliefert.

Man kann sich gewiss die Frage stellen, ob das argumentative „sowohl-als-auch“ – die Hexenreligion ist privatisiert, aber auch öffentlich; unsichtbar, aber auch sichtbar; diffus, aber nicht institutionalisierungsresistent – eine stärkere Zuspitzung der Thesen des Buches verhindert hat. So verständlich der Wille zu nuancierten Darstellungen und dem Gerecht-Werden der soziologischen Komplexität des Gegenstandes ist, so sehr hätte man sich an manchen Stellen ein stärkeres Interesse am Vergleichen der verschiedenen Befunde und eine globale Einschätzung gewünscht. Gleichwohl kann man es der Autorin auch zugutehalten, dass sie der Leserin den Raum zugesteht, die Befunde selbst zu bewerten.

Bei aller Begeisterung, mit der ich das Buch gelesen habe, kann ich (lediglich) einen Befund nicht teilen, nämlich die Einschätzung, dass die Hexenreligion Teil eines umfassenden Postsäkularisierungsprozesses ist, innerhalb dessen der Berliner Stadtraum zunehmend religiös besetzt und Berlin selbst dabei diskurssetzend wirkt. Die von der Autorin beschriebenen interreligiösen Foren werden außerhalb der kleinen Zirkel der beteiligten Akteure von fast niemandem wahrgenommen. Selbst das „House of One“, ein ikonisches, an exponierter Stelle in Berlin-Mitte derzeit im Bau befindliches multireligiöses Gebäude, das die Autorin diskutiert, kennt in Berlin selbst nach Jahren großangelegter Öffentlichkeitsarbeit so gut wie niemand. Und auch die Hexenreligion ist sicher ein (populär)kulturelles Randphänomen. Umso überzeugender erscheint die präzise Analyse der Privaträume der Hexenreligion wie auch ihre fließende und vergängliche Sichtbarkeit, die in den für Uneingeweihte kaum wahrnehmbaren, aber an öffentlichen Orten stattfindenden Ritualen aufscheint. Und vielleicht liegt gerade darin, in diesem Moment des unerwarteten Auftauchens und Verschwindens, das spezifisch Berlinische. Mit „Hexen der Großstadt“ hat Victoria Hegner einen immens wichtigen Beitrag zum ethnologischen Verständnis dieser Metropole geschrieben.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/