N. Domeier u.a. (Hrsg.): Homosexualität am Hof

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Titel
Homosexualität am Hof. Praktiken und Diskurse vom Mittelalter bis heute


Herausgeber
Domeier, Norman; Mühling, Christian
Reihe
Geschichte und Geschlechter 74
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lücke, Freie Universität Berlin

Es kommt selten genug vor, dass es eine Publikation zur Geschichte der Homosexualitäten in eine etablierte Reihe eines deutschen Wissenschaftsverlags schafft. Das allein verdient bereits Anerkennung und sollte zugleich eigentlich längst selbstverständlich sein. Der Band von Norman Domeier und Christian Mühling ging aus der Tagung „Hof und Homosexualität“ im Oktober 2017 in Hannover hervor. Die Herausgeber setzen sich und ihren Autor:innen ein großes Ziel: Sie möchten einen Beitrag zu einer „umfassende(n) politische(n) Kulturgeschichte der Sexualität an fürstlichen Höfen vom Mittelalter bis in das 21. Jahrhundert“ (S. 10) leisten. Ihre Fokussierung auf die Bedeutung von gleichgeschlechtlicher Sexualität, von Domeier und Mühling als „erstmals international und diachron vergleichend“ (ebd.) angekündigt, soll das Feld einer Kulturgeschichte der höfischen Sexualität also exemplarisch erschließen. Mehr noch: Es soll im Band nicht nur darum gehen, im Zuge einer Rekonstruktion des Redens über gleichgeschlechtliche Sexualität an Höfen die Diskursebene eines Phänomens zu analysieren, das in unserer Gegenwart als „Homosexualität“ bezeichnet wird. Darüber hinaus sollen auch Praktiken gleichgeschlechtlicher Sexualität und gleichgeschlechtlichen Begehrens rekonstruiert werden.

Insgesamt liegen im Band viele für Historiker:innen fruchtbare Ansätze und Begriffe auf dem Tisch, die die Herausgeber in ihrer Einleitung ordnen und systematisieren. So verwenden sie in Anlehnung an Achim Landwehr den Begriff der Homosexualität „gerade wegen seiner weitgehenden Quellenferne besonders als produktiven und reflektierten Anachronismus“ (S. 10), also als eine heuristische Folie, die den Blick nicht auf ein gegenwärtiges Identitätskonzept verengt, sondern eben auch auf Formationen gleichgeschlechtlicher Sexualität und Begehren vor (z.B. „Sodomie“) und nach (z.B. „queer“, dies vor allem im programmatischen Fazit des Bandes von Franz X. Eder) der Ära des Homosexualitätskonzeptes erkennbar werden lässt.

Insgesamt soll im Band viel miteinander verglichen werden: räumlich sollen neben europäischen auch außereuropäische Höfe betrachtet werden, zeitlich geraten Hofgesellschaften vom englischen Mittelalter bis zur queeren Gegenwart der britischen Windsors in den Blick, und disziplinär werden diskurstheoretische und praxeologische Ansätze für den Bereich der „engeren“ Geschichtswissenchaften sowie literaturwissenschaftliche Ansätze für interdisziplinäres Arbeiten in Anschlag gebracht. Wer sich von einem Tagungsband wie diesem eine größere Stringenz erhofft, etwa im Hinblick auf Epochen, Methoden oder Fragestellung, mag enttäuscht sein. Was genau mit welcher Zielführung verglichen wird und vergleichbar erscheint, hätten die Herausgeber in der Einleitung noch deutlicher akzentuieren können.

Die Heterogenität des Bandes erweist sich jedoch insgesamt nicht als Schwäche, sondern als großer Gewinn. In der ersten thematischen Sektion zeigen Heide Wunder und Charlotte Backerra unter explizit geschlechterhistorischer Perspektive am Beispiel von Höfen des Heiligen Römischen Reiches, dass die in der Moderne so selbstverständliche Dichotomie von Homo- und Heterosexualität für die Analyse frühneuzeitlicher Hofkonstellationen nicht trägt. Hier kann insbesondere Heide Wunders Gegenüberstellung etwa mit dem Phänomen der weiblichen Mätressen des männlichen Fürsten überzeugen: In Sorge geriet der Hof, wenn „die Bedeutung normativer Heterosexualität für dynastische Herrschaft“ (S. 26) in Frage gestellt wurde.

Mit expliziten Praktiken befassen sich in einer zweiten Sektion die Beträge von Günther Wassilowsky, Lucien Bély, Julie Peakman und Wolfgang Burgdorf. Hier wird durch eine Rekonstruktion von homosexuellen Netzwerken gezeigt, wie (ebenfalls) an frühneuzeitlichen Höfen ganz unterschiedliche In- und Exklusionsmechanismen wirken konnten – sowohl bei der Abgrenzung von Höfen nach außen, als auch in ihrer Funktionsweise zur Herrschaftsorganisation nach innen.

Während diese zweite Sektion also auch nachzeichnet, wie jeweils zeittypische Praktiken von mann-männlicher Sexualität und Begehren quasi als eine Art Herrschaftskitt in Höfen fungierten, widmet sich der dritte Abschnitt des Buches dem destruktiven Potenzial von Homosexualität als Diffamierungsstrategie im Herrschaftsgefüge. Hier überrascht die epochale Bandbreite der Beiträge: der mittelalterliche Edward II. von England (im Beitrag von Djro Bilestone Romeó Kouamenan) und die so genannte Eulenburg-Kamarilla am Hof des deutschen Kaisers Wilhelms II. wurden gleichermaßen von Machenschaften in Mitleidenschaft gezogen, die wir heute als homophob bezeichnen würden. Sie waren aber in ihren jeweiligen Zeiten nicht nur ein Ausdruck anderer normativer Leitvorstellungen von Männlichkeit und Sexualität, sondern lassen sich auch aus den jeweils anderen Machtlogiken des politisch-höfischen Systems erklären. Hier ist der Beitrag von Klaus von Eickels hervorzuheben, der das in der Einleitung kurz erwähnte Konzept des „reflektierten Anachronismus“ überzeugend und programmatisch aufgreift, und auf den Hof Friedrichs II. von Preußen anwendet. Man würde sich wünschen, dass dieser Beitrag, der grundlegender argumentiert als die meisten anderen Texte, an prominenterer Stelle des Bandes seinen Ort gefunden hätte – und dass sich die anderen Texte expliziter(er) auf ihn bezogen hätten.

Auch Herangehensweisen der Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaften werden erschlossen. Das zeigen Andreas Kraß, Michael Zywietz und Dominic Janes, die eine ganze Bandbreite von mittelalterlicher höfischer Dichtung bis hin zu queeren Imaginationsweisen zur britischen Monarchie am Beispiel von Prinzessin Diana eröffnen.

Dass sowohl gleichgeschlechtliche Sexualität als auch geschlechtlich-sexuelle Identitätskonzepte nicht durch die Brille eines gegenwärtigen Homosexualitätenkonzeptes angeschaut werden sollten, zeigt vor allem die fünfte Sektion des Bandes, in der Christian Mühling homosoziale Liebe am preußischen Hof des 18. Jahrhunderts analysiert, während Viginia Hagn anhand der Briefe von Isabella von Parma an ihre Schwägerin über den zeitgenössischen Freundschaftskult schreibt und sich Anna Bers am Beispiel von August von Sachsen-Gotha-Altenburg mit dem Topos der Homoerotik deutscher Schäferdichtung in ihren höfischen Zusammenhängen befasst. Hier liegen also mit Liebe, Freundschaft und Erotik gleich drei Alternativkonzepte zum Substantiv der (Homo-)Sexualität vor.

Im sechsten Kapitel kommt es zu außereuropäischen Vergleichen. Miguel Ángel Lucena Romero nimmt die Praktik des dabb als „unforeseen penetration of a dormant mate“ (S. 347) in islamisch-arabischen Texten des Zeitraums von 800 bis etwa 1250 in den Blick. In diesem erkenntnisreichen Einblick in Sexualität als herrschaftsbezogener (männlicher) Praktik könnte jedoch noch deutlicher der Quellenwert von literarischen Texten für die Konstruktion gesellschaftlich relevanter Diskurse herausgearbeitet werden. Ebenso anregend ist der Beitrag von Stephen J. Roddy zu chinesischen Höfen etwa im Zeitraum von 1780–1900.

Der Band bietet also ein facettenreiches Abbild des Themas „Hof und Homosexualität“ – das Franz X. Eder mit einem programmatischen Fazit abrundet. Dabei stellt er heraus, dass das Thema Ausgangspunkt sowohl für kulturhistorische als auch sozial- und politikgeschichtliche Zugriffe sein kann. Eders Warnung gilt zudem einer ahistorischen Verwendung des Homosexualitätenbegriffes, dem die Einzelbeiträge des Bandes ja aber ohnehin nicht erliegen, sondern im Gegenteil produktiv mit der Idee von Homosexualität als einem reflektierten Anachronismus umgehen.

Eine der Thesen des Bandes insgesamt ist es, dass die „Praktiken“ der Homosexualität im Kern „verhältnismäßig konstant“ (S. 20) blieben, während die dahinterstehenden Weltbilder und Ideologien es nicht waren. Die Ergebnisse der Einzelbeiträge zeigen jedoch, dass auch das, was wir rekonstruierend als Praktiken bezeichnen können, eben auch immer in ihre jeweils speziellen höfischen Machtzusammenhänge eingebunden war. Dass solche Praktiken manchmal „Freundschaft“, manchmal „Erotik“ und manchmal auch „Liebe“ hießen, zeigt ja bereits, dass auch die Praktiken in diesem Sinne mindestens sehr variable Konstanten darstellen.

Vor diesem Hintergrund lohnt sich abschließend ein Blick auf das Umschlagmotiv: Was – jenseits eines augenscheinlichen Kusses – die genaue Bedeutung der Praktik ist, die die beiden Männer auf dem Umschlagmotiv von Clément-Pierre Marillier vollziehen, bleibt unklar beziehungsweise ist historisch genau zu interpretieren. Franz X. Eder weist in seinem Fazit darauf hin „dass heute erotisch und sexuell eingefärbte Handlungen im damaligen Kult der Empfindsamkeit und Seelenverwandtschaft keineswegs in diesem Sinne assoziiert und konnotiert sein müssen.“ (S. 379) Selbst ein Kuss ist eben nicht immer nur ein Kuss.

Das Umschlagmotiv zeigt aber noch etwas Anderes: Viel zu spät gerät die offenbar weibliche Person am linken Bildrand in das Auge des Betrachters. Sie wendet ihren Blick vom männlichen (Freundes?)Paar ab und distanziert sich auf diese Weise von der gezeigten männlichen homosexuellen Praktik. Zumindest erscheint sie als eine randständige Figur, die darzustellen jedoch in der zeitgenössischen höfischen Bildpolitik notwendig erscheint, um die Praktik der Männer verstehbar werden zu lassen. Das deutet auch auf ein Defizit des insgesamt wirklich anregenden Bandes hin: noch deutlicher hätte der Band ein noch explizit geschlechterhistorisches Buch werden können, das weiblichen homosexuellen Praktiken und Diskursen größeren Raum gibt.

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