B. Sait: The Indoctrination of the Wehrmacht

Cover
Titel
The Indoctrination of the Wehrmacht. Nazi Ideology and the War Crimes of the German Military


Autor(en)
Sait, Bryce
Erschienen
Oxford 2019: Berghahn Books
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
$ 135.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annika Hartmann, Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster

Inwieweit bietet politische Indoktrination eine Erklärung für die Kriegsverbrechen, die im Zweiten Weltkrieg von Wehrmachtssoldaten begangen wurden? Dieser Frage geht der Historiker Bryce Sait in seiner Untersuchung nach, die auf seiner 2013 an der Cambridge University eingereichten Dissertation Ideological Education in the Wehrmacht basiert. Sait nimmt die ideologische Ausbildung der Wehrmacht in den Blick: Dazu analysiert er militärische Anweisungen und Korrespondenzen sowie Materialien, die für die politisch-weltanschauliche Schulung von Wehrmachtsangehörigen vor und während des Zweiten Weltkrieges genutzt wurden. An einigen Stellen zieht Sait außerdem Feldpostbriefe heran, anhand derer er die Wirkung der Indoktrination aufzuzeigen versucht.

Sait macht zu Beginn deutlich, dass in militärischen Kreisen bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme antidemokratische Denkweisen sowie antisemitische und anti-slawische Vorurteile verbreitet waren und in der Armee schon während des Einsatzes im Ersten Weltkrieg „colonial-style condescension and casual brutality“ (S. 22, 86) in Mittel- und Osteuropa sichtbar wurden. Wie er erläutert, stand ein einflussreicher Teil des Offizierskorps dem Nationalsozialismus positiv gegenüber und das Militär konnte 1933 ohne nennenswerte Schwierigkeiten auf der NS-Ideologie basierende weltanschauliche Schulungsmaßnahmen für Soldaten sämtlicher Dienstgrade einführen. Dabei hatten die Soldaten, die seit Ende der Dreißigerjahre in die Wehrmacht eintraten, bereits die weltanschauliche Erziehung in Hitlerjugend und Reichsarbeitsdienst durchlaufen, die Sait ebenfalls in einem Kapitel genauer betrachtet.

Sait gibt den Leserinnen und Lesern außerdem einen Überblick über die Erkenntnisse aus Soziologie, Politikwissenschaften und Psychologie zu politischer Indoktrination in militärischen Organisationen. Bestimmte Wesensmerkmale politischer Indoktrination wie die Entmenschlichung der Soldaten selbst sowie ihrer Gegner, die simplistische Repräsentation von Feinden und die Förderung von Schwarz-Weiß-Denken findet Sait in den Schulungsinhalten und der Literatur wieder, die in der Wehrmachtsausbildung verwendet wurden. Unterrichtet wurden pseudowissenschaftliche Rassetheorien und nationalsozialistische Grundsätze, wiederholt wurde die Bedeutung der Soldaten für den „Kampf um Lebensraum“ und gegen angebliche biologische und politische Feinde des deutschen Volkes bekräftigt. Ein großer Teil der weltanschaulichen Schulung widmete sich der sogenannten „Judenfrage“ und der Gefahr, die laut nationalsozialistischer Vorstellungen von Juden, Slawen und Bolschewiken ausging. Dabei wurden Völker aus Mittel- und Osteuropa entmenschlicht und Juden darüber hinaus dämonisiert.

Das Hauptaugenmerk von Saits Arbeit liegt auf der Sozialisation der Wehrmachtssoldaten im Vorfeld des Polenfeldzugs und während des Krieges gegen die Sowjetunion. Denn bereits vor den berüchtigten „criminal orders“ (wie dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass) während des „Unternehmens Barbarossa“ 1941 und der „Kriegsverrohung“ begingen Soldaten Kriegsverbrechen. Sait sieht einen wichtigen Grund dafür in der politischen Indoktrination innerhalb der Wehrmacht, die schon im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges radikalisierte Ausprägungen aufgewiesen habe. So sei in der Schulungsliteratur von Juden als „Parasiten“ gesprochen und ihre Vernichtung als Aufgabe der Wehrmacht beschrieben worden (S. 71f.). Sait konstatiert, dass die politische Ausbildung antisemitische und anti-slawische Vorurteile verstärkt habe „making them part of military doctrine, as well as a duty of soldiers at the lowest level“ (S. 85). Die politisch-weltanschauliche Unterweisung wurde im Krieg mithilfe von Meldungen an die Truppen und Offiziere fortgeführt, in welchen sogar offen zum Massenmord ermutigt wurde (S. 151).

Anhand von Feldpostbriefen und unter Rückgriff auf Untersuchungen zu Abhörprotokollen deutscher Kriegsgefangener verdeutlicht Sait, dass die nationalsozialistische Ideologie bis in die untersten Ränge der Wehrmacht Aufnahme fand. Der Einfluss der ideologischen Ausbildung wird im beiläufigen Berichten über Kriegsverbrechen deutlich, aber vor allem in der Art und Weise, wie Soldaten die Lebensverhältnisse und Menschen in Mittel- und Osteuropa beschrieben. In den Briefen spiegelten sich anti-serbische, anti-sowjetische und antisemitische Vorurteilen und die genutzten Begriffe deckten sich mit der Sprache, die in den NS-Schulungsmaterialien verwendet wurde (S. 81). Die Verbrechen, die die Wehrmacht während des Balkanfeldzuges und in der Sowjetunion beging, können laut Sait deshalb nicht von der ideologischen Ausbildung der Soldaten losgelöst werden. Diese habe den Boden für die Kriegsverbrechen in Osteuropa bereitet und dazu beigetragen, dass in der Behandlung nicht mehr zwischen Zivilisten und Soldaten unterschieden wurde. Sait stellt heraus, dass die nationalsozialistische Propaganda besonders erfolgreich war, wenn sie auf lang etablierten Vorurteilen aufbaute. Zwar weist er Daniel Goldhagens These zum „deutschen“ Antisemitismus als wenig überzeugend zurück, zeigt aber auf, dass antisemitische und anti-bolschewistische Vorurteile bereits vor und während der Weimarer Republik in Militär und Gesellschaft verbreitet waren.1

Sait macht ebenfalls deutlich, dass Indoktrination nicht der alleinige Erklärungsansatz für die Verbrechen der Wehrmacht sein könne. Ein weiterer Faktor liege in der nach seinen Einschätzungen spezifisch deutschen Aversion gegen „irregular warfare“, die zu dem brutalen Vorgehen gegen Partisanen und gegen jeglichen zivilen Widerstand beigetragen habe. Besondere Bedeutung sei darüber hinaus dem in der deutschen Armee vorherrschende Grundsatz der „Auftragstaktik“ beizumessen. „Auftragstaktik“ bedeutete, dass Befehle knapp und vage formuliert wurden und somit Offizieren und Soldaten viel Interpretationsraum und Verantwortung in der Implementation gelassen wurde. In Kombination mit der weltanschaulichen Ausbildung, die die Soldaten durchliefen, habe sich so eine grausame Dynamik entfalten können, in der Befehle besonders radikal ausgelegt wurden: „Years of systematic ideological education, even if it did not convince troops to adopt the National Socialist world-view, gave an indication of the unspoken expectations that went with the orders.” (S. 182)

Wie stark die nationalsozialistische Propaganda von den einzelnen Offizieren und Soldaten rezipiert und in ihr Handeln überführt wurde, sei jedoch letztlich individuell unterschiedlich. Es sei von den religiösen Einstellungen, dem sozialen Hintergrund sowie der Dauer abhängig gewesen, in welcher die Soldaten in militärischen oder NS-Organisationen eingebunden waren. Gerade anti-christliche und anti-kirchliche Inhalte seien oftmals nicht übernommen worden. Sait zeigt in einem Kapitel zum Umgang der Wehrmacht mit Militärgeistlichen auf, dass Rücksicht auf religiöse Vorstellungen und Bedürfnisse genommen wurde.

Im Großen und Ganzen geht Sait in seiner Analyse differenziert vor, allerdings wäre es für eine Einordnung vorteilhaft gewesen, die Befunde zumindest grob zu quantifizieren. Es bleibt unklar, wie stark die Häufigkeit politischer Schulungen im Laufe der NS-Zeit zunahm. Auch wird nicht deutlich, wie viele Feldpostbriefe Sait insgesamt eingesehen hat, wie diese ausgewählt wurden und in wie vielen sich Einflüsse der weltanschaulichen Schulungen zeigten. Stattdessen spricht Sait immer wieder verallgemeinernd von „many soldiers“, die von der Indoktrination beeinflusst worden seien.

Einige Kapitel der Untersuchung bieten keine grundlegend neuen Erkenntnisse, sondern basieren stark auf bisherigen Forschungsarbeiten und -ergebnissen zum Thema Wehrmacht und Vernichtungskrieg. Bedauerlicherweise wurde neuere Forschungsliteratur, die seit Abschluss der Dissertation 2013 erschienen ist, kaum in die Arbeit miteinbezogen.2 Dabei wurden gerade in den letzten Jahren einige Studien veröffentlicht, die sich mit dem Thema weltanschaulicher Erziehung in Organisationen wie SS und Polizei beschäftigt haben.3 Ein Blick auf die Forschungsergebnisse der Kollegen hätte sicherlich nicht geschadet, wie auch Verweise auf aktuellere Studien zu Kriegsverbrechen und Wehrmacht.4 Insgesamt ist das Werk im Vergleich zu Qualifizierungsarbeiten aus dem deutschen Sprachraum knapp bemessen, dafür aber sehr gut lesbar, wobei ein paar Überschriften für Unterkapitel hilfreich gewesen wären.

Trotz der erwähnten Kritik handelt es sich bei Saits Werk um eine spannende Lektüre, die plausibel macht, dass die politische Indoktrination innerhalb der Wehrmacht einen wichtigen Einfluss auf das Handeln der Soldaten im Krieg hatte. Soldaten mussten keine überzeugten Nationalsozialisten gewesen sein, um dennoch Teile der NS-Ideologie für sich zu übernehmen und in ihr Handeln zu übertragen: „They only needed to have regarded certain types of people, by virtue of their racial or political characteristics, as enemies, or even believed that it was part of their duty as soldiers to treat them as such.” (S. 171)

Anmerkungen:
1 Daniel Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners, New York 1996; Wolfram Wette, The Wehrmacht. History Myth, Reality, Cambrdige 2006; Wolfgang Benz / Werner Bergmann (Hrsg.), Vorurteil und Völkermord, Freiburg 1997.
2 Die Ausnahme bildet Ben Shepherd, Hitler’s Soldiers. The German Army in the Third Reich, New Haven 2016.
3 Hans-Christian Harten, Die weltanschauliche Schulung der Polizei im Nationalsozialismus, Paderborn 2018; ders., Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014; Daniel Kuppel, „Das Echo unserer Taten“. Die Praxis der weltanschaulichen Erziehung in der SS, Paderborn 2019; Sven Deppisch, Täter auf der Schulbank. Die Offiziersausbildung der Ordnungspolizei und der Holocaust, Baden-Baden 2017.
4 Thomas Kühne, The Rise and Fall of Comradeship. Hitler’s Soldiers, Male Bonding and Mass Violence in the Twentieth Century, Cambridge 2017; Oliver von Wrochem (Hrsg.), Repressalien und Terror. „Vergeltungsaktionen“ im deutsch besetzten Europa 1939-1945, Paderborn 2017; Michaela Kipp, „Großreinemachen im Osten“. Feindbilder in deutschen Feldpostbriefen im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2014.