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Titel
Berlin. Biographie einer großen Stadt


Autor(en)
Bisky, Jens
Erschienen
Anzahl Seiten
974 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

„Und zum Spazierengehen genügt das Sonnenlicht / Doch um die Stadt Berlin zu sehn genügt die Sonne nicht“, dichtete Bertolt Brecht 1928 zur Musik von Kurt Weill für die stadtweite Werbeaktion „Berlin im Licht“. „Det ist keen lauschiges Plätzchen / Det it ne ziemliche Stadt / Damit man da alles gut sehen kann / Da braucht man schon einige Watt“ (S. 472).1 Berlin, die ziemliche Stadt, wurde nicht erst in den sagenumwobenen 1920er-Jahren, als sie erstmals über vier Millionen Einwohner zählte und das Stadtmarketing erfunden wurde, zum Gegenstand der Lyrik. Schon seit dem 19. Jahrhundert entstanden immer neue Lieder und Gedichte über Berlin, die zusammen mit feuilletonistischen Stadtbeschreibungen und Reiseberichten, mit Romanen und Theaterstücken, Musikrevuen und später Filmen ein eigenes Berlin-Genre hervorbrachten, das bis heute blüht. Auch in der Geschichtswissenschaft wurde Berlin als größte deutsche Metropole immer wieder zum Gegenstand und Ausgangspunkt stadthistorischer Untersuchungen.

Vor dem Hintergrund dieser breiten Literatur und Mythologie wurde in der Vergangenheit des Öfteren das Fehlen einer konzisen Überblicksdarstellung der Geschichte Berlins von den Anfängen bis heute beklagt.2 Eine solche hat der Journalist und Publizist Jens Bisky nun vorgelegt, mit dem schlichten Titel „Berlin. Biographie einer großen Stadt“. Obwohl die Darstellung eigentlich erst nach dem Dreißigjährigen Krieg einsetzt, werden auch die mittelalterliche Doppelgründung von Berlin und Cölln um 1237, deren Vereinigung 1432 und die ersten 200 Jahre als Residenzstadt der Hohenzollern knapp skizziert. Man kann also durchaus von einer Gesamtgeschichte Berlins sprechen, wobei Bisky die flüchtige Behandlung der ersten 400 Jahre damit begründet, dass Berlin erst nach 1650 zu einem Ort von überregionaler politischer und kultureller Bedeutung geworden sei. Den folgenden knapp 400 Jahren widmet sich Bisky dann in zehn Kapiteln, die sich zum Teil an städtebaulichen oder kulturellen Einschnitten, zumeist aber an politischen Zäsuren orientieren (1650, 1740, 1806, 1850, 1890, 1918, 1933, 1945, 1961, 1989) und sich insgesamt auf 900 Textseiten summieren – ein ziemliches Buch.

Wie geht Bisky dabei mit der eingangs erwähnten umfangreichen Berlin-Literatur um? Er lässt sich von ihr wenig beeindrucken. Das hat seine Vor- und Nachteile. Der Verfasser sucht keinen argumentativen Austausch mit bisherigen Berlin-Deutungen oder geschichtswissenschaftlichen Perspektiven auf die Stadtgeschichte. Viele einschlägige Titel der – nicht zuletzt englischsprachigen – Fachliteratur fehlen im Literaturverzeichnis. Stattdessen nutzt Bisky das reichhaltige Berlin-Schrifttum, ergänzt um viele anschauliche Tagebucheinträge und Zeitzeugenberichte von Berlinerinnen und Berlinern, als Fundus für eine eigene Berlin-Erzählung. Ihren Leitfaden findet diese Erzählung vor allen Dingen im Spannungsverhältnis von Bürgerstadt und Residenz- bzw. später Hauptstadt. Dieses Verhältnis war bis ins 19. Jahrhundert hinein zumeist durch die „landesherrliche [...] Gewalt über die Stadt“ (S. 31) dominiert, die sich schon Mitte des 15. Jahrhunderts im ersten Schlossbau des Kurfürsten Friedrich II. manifestierte. Da die Entwicklung Berlins derart stark durch seine Funktion als Residenz- und Hauptstadt geprägt war, kommt Bisky nicht umhin, viel preußische und später deutsche Nationalgeschichte mit zu erzählen. Daneben widmet er sich aber auch ausführlich genuin stadthistorischen Themen wie der Entwicklung des Städtebaus, der Wohnverhältnisse oder der urbanen Infrastruktur und des Verkehrs. Seine Darstellung lebt unter anderem von kurzen biographischen Vignetten einflussreicher Berlinerinnen und Berliner. So lernt man neben den preußischen Herrscherinnen und Herrschern sowie Berliner Kommunalpolitikerinnen und -politikern viele Architekten und Stadtplaner kennen, die Berlin geprägt haben: von Johann Gregor Memhardt über Andreas Schlüter, Karl Friedrich Schinkel, James Hobrecht und Martin Wagner bis hin zu Hans Stimmann.

Neben der Politik und der Stadtentwicklung (unter die hier auch die Verwandlung Berlins in eine Industriemetropole während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezählt werden soll) widmet sich Bisky ausführlich dem geistigen und kulturellen Leben der Stadt. Die Anfänge der „von vielfältigen Formen urbaner Geistigkeit“ (S. 102) getragenen Großstadtkultur verortet er in der Berliner Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Aus ihr entwickelte sich jener „urbane [...] Sinn für die Stadt und ihr Wohl“ (S. 107), der die Entwicklung der Bürgerstadt als Gegengewicht zur Residenzstadt prägte. Sie kulminierte in der kulturellen Blüte der 1920er-Jahre, als Berlin die „Fesseln des Residenzdaseins“ (S. 488) dank der Novemberrevolution abgeschüttelt hatte. In der Tatsache, dass diese urbane Freiheit nur gute zehn Jahre währte, bevor der Nationalsozialismus und nach ihm der Kalte Krieg Berlin erneut unter den Druck der großen Politik zwangen, erkennt Bisky „das charakteristische Unglück der Berliner Geschichte“ (ebd.).

Dieser Erzählbogen hat vieles für sich. Er trägt auch bis in die Darstellung der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, in der sich das Verhältnis von Hauptstadtfunktion und Großstadtkultur nach 1990 auf neue Weise austariert hat und weiter austarieren muss. Der Zugang ist allerdings nicht furchtbar originell. Hier offenbaren sich die Nachteile von Biskys Erzählweise. Indem er die explizite Auseinandersetzung mit vorherigen Berlin-Deutungen vermeidet, bleibt er ihnen unwillkürlich verhaftet. Dies zeigt sich nicht zuletzt dort, wo Bisky selbst auf die Problematik der „Mythisierung“ (S. 758) – hier des West-Berliner Inseldaseins – hinweist, nur um die entsprechenden Topoi dann doch größtenteils zu reproduzieren. Eine ausführlichere Beschäftigung mit den Berlin-Mythen als einer spezifischen Form urbaner Erzählungen hätte das vielleicht verhindert.

Zugleich macht sich hier der Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der akademischen Stadtgeschichtsforschung bemerkbar. Das betrifft nicht nur die Metaebene der Stadtdiskurse, sondern etwa auch den Global Turn der Geschichtswissenschaft, der mittlerweile auch die Stadtgeschichte erreicht hat.3 Bisky selbst spricht auf den letzten Seiten seines Buches und unter Verweis auf die aktuelle Bevölkerungsstruktur davon, dass Berlin „vor allem anderen eine internationale Stadt“ sei und „eine lange Einwanderungsgeschichte“ habe (S. 902). Diese Einwanderungsgeschichte wird an verschiedenen Stellen des Bandes auch benannt. Sie erhält in der Darstellung allerdings nicht das ihr gebührende Gewicht und führt nicht zu einem Perspektivwechsel. Wenn Bisky im letzten Kapitel die Loveparade und den Christopher Street Day als die beiden „Bräuche“ vorstellt, in denen die Stadt nach dem Mauerfall „zu sich fand“ (S. 864), so fehlt in dieser Reihe der Karneval der Kulturen, der von Mitgliedern migrantischer Communities in Kreuzberg als Zeichen gegen den Rassismus und Neonationalismus der 1990er-Jahre gegründet wurde. Und schließlich kommt auch das Wilhelminische Berlin als Hauptstadt des deutschen Kolonialreiches nur auf acht Zeilen zur Kolonialausstellung von 1896 im Treptower Park vor (S. 364), obwohl der Zusammenhang von Kolonial- und Stadtgeschichte schon seit längerem diskutiert wird.4

Diese kritischen Bemerkungen machen deutlich, dass Bisky mit seiner Darstellung letztlich kaum Impulse für die weitere Berlin-Forschung setzt. Allerdings war das wohl gar nicht seine Intention. Vielmehr hat er ein Sachbuch für ein breites Publikum vorgelegt, das mit großem erzählerischen Geschick und in präziser Sprache einen guten Überblick zur Geschichte dieser „ziemlichen Stadt“ bietet. Als solches ist es für Berlin-Interessierte unterschiedlichen Kenntnisstandes vorbehaltlos zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Nachzuhören z.B. hier: https://www.youtube.com/watch?v=VXI9F-w5dec (06.06.2020).
2 Als Standardwerk gilt die 1987 erstmals erschienene zweibändige Publikation von Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung; Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, 3., erweiterte und aktualisierte Aufl., Berlin 2002. Spätere monographische Darstellungen wie etwa David Clay Large, Berlin. Biographie einer Stadt, München 2000, behandeln nicht die Gesamtgeschichte Berlins, sondern im Fall Larges nur die Zeit ab 1871.
3 Vgl. dazu nur den Blog https://globalurbanhistory.com (06.06.2020).
4 Vgl. etwa Ulrich van der Heyden / Joachim Zeller (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002.