F. Jaeger: Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft

Titel
Amerikanischer Liberalismus und zivile Gesellschaft. Perspektiven sozialer Reform zu Beginn des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Jaeger, Friedrich
Reihe
Bürgertum 19
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
468 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Welskopp, Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences, Stanford, CA

Friedrich Jaeger geht es in seiner Bielefelder Habilitationsschrift von 1998 um zweierlei: Erstens zeichnet er ein historisches Porträt des Progressive Movement als eines intellektuellen, gesellschaftstheoretischen Strangs in der amerikanischen Gesellschaft. Dabei geht er, was die theoretische Entwicklung anbelangt, über die Kernperiode des Progressivism zwischen etwa 1890 und 1920 zeitlich weit hinaus. Zweitens ist es ihm ein Anliegen, die philosophische Hauptströmung des Progressivism, den Pragmatismus, als zusammenhängenden Denkansatz zu rekonstruieren, ihn sich quasi durch historische Exegese wieder anzueignen, um ihn für die europäische Debatte über die „Zivilgesellschaft“ als wichtiges Korrektiv verfügbar zu machen. Dabei hebt Jaeger die kommunitaristische Seite des Pragmatismus, die er als eine permanent anwesende dialektische Spannung zum individualistischen und zweckrationalen Liberalismus herausarbeitet, als besonderen Beitrag dieser amerikanischen Denkschule hervor. Dieser Aspekt sei in der europäischen Diskussion unterbelichtet, weil „Gemeinschaftsbildungen“ hier pauschal unter den Verdacht traditionalistischer Überreste fielen und Liberalismus einseitig als interessengeleitet gelte. Der Pragmatismus verankere „Gemeinschaft“ dagegen als erfahrungsgeleitete, diskursive Praxis, für die zeitgenössisch die Wissenschaften und Professionen Modell standen. Ein „gemeinschaftliches“ Gegengewicht gegen einen allzu egoistischen und kalten Liberalismus sei also durchaus ein genuines Strukturmerkmal auch der „modernen“ Gesellschaft.

Friedrich Jaeger beansprucht, in seiner Studie Sozialgeschichte und Ideengeschichte zusammenzuführen. Zum einen fülle die gesellschaftstheoretische Reflexion einen bestimmbaren sozialen Ort im Gemeinwesen aus, über dessen Probleme sie nachdenkt. Während dieser Ort in den europäischen Nationalstaaten die ältere, bürgerliche Gesellschaft war, mussten sich die Intellektuellen jenseits des Atlantik einen solchen Ort erst erarbeiten oder erstreiten. Erfolgreich modellierten sie sich zu Verkörperungen des „public intellectual“, der in den Professionen und in den nach europäischem Vorbild modernisierten amerikanischen Universitäten mit Graduate Schools und Promotionsrecht seit Ende des 19. Jahrhunderts einen beruflichen Stützpunkt fand oder, wie der Journalist Walter Lippmann, eher eine Rolle als „intellectual publicist“ ausfüllte. Die gesellschaftstheoretische Reflexion avancierte also zur Domäne einer klar benennbaren sozialen Gruppe von Intellektuellen, von denen Friedrich Jaeger vor allem Charles und Mary Beard, Herbert Croly, John Dewey, Horace M. Kallen, Walter Lippmann, James H. Robinson, Thorstein B. Veblen und Walter Weyl in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt. Mit Ausnahme der Beards, beides führende Vertreter der Progressive History, gehörte diese Gruppe zu den Gründern der renommierten New School for Social Research in New York.

Zum anderen sieht Friedrich Jaeger diese gesellschaftstheoretische Reflexion nicht als wirklichkeitsfremdes Gedankengespinst im Elfenbeinturm vereinsamter Gelehrter, sondern ihre Existenz und Form ist ihm Indiz dafür, dass sie eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, nämlich die, grundsätzliche Selbstreflexivität als Modus im gesellschaftlichen Zusammenleben zu institutionalisieren. Dafür sind ihm die amerikanischen Pragmatisten nicht nur wegen ihrer (Selbst-)Bezeichnung geeignete Demonstrationsobjekte. Ihr Kredo galt immer programmatisch der politischen Einmischung, der Erziehung, der Formulierung konkreter Reformprojekte und generell der Einwirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung. Ihre Selbstsicht entsprach der von „überparteilichen Vertretern des Common Good“. Ein wenig gewagt postuliert Jaeger, dieses Selbstverständnis habe unter den besonderen Bedingungen in den USA eine „objektive Aufgabe der Professionen wider[gespiegelt], denen angesichts eines bis ins späte 19. Jahrhundert durch das Fehlen einer funktionierenden Bürokratie geprägten ‚state of courts and parties’ eine Schrittmacherfunktion für den Aufbau eines Wohlfahrts- und Interventionsstaates zuerkannt wurde“ (S. 27). Methodisch zieht Jaeger daraus den Schluss, dass eine solche Exposition gerade in der Absicht, zur Sozialgeschichte anschlussfähig zu sein, ein ideengeschichtliches, hermeneutisches Vorgehen rechtfertigt, da es, anders als diskursgeschichtlichen Abmessungen eines sozialen Umfeldes oder Milieus einer Theorieschule, auf die Rekonstruktion der Inhalte ankomme.

Im folgenden untersucht Jaeger die Denkansätze der oben genannten Intellektuellengruppe in sieben gesellschaftlichen Problembereichen. Jedes der entsprechenden Kapitel ist in drei Unterabschnitte gegliedert, von denen jeweils der erste am ehesten auf die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Zustände in den Vereinigten Staaten zur Zeit des Progressivism eingeht. So widmet sich Kapitel 2 den Problemlagen der Urbanisierung und der städtischen Reform, zu denen die Gründung der New School in Beziehung gesetzt wird. Kapitel 3 zeichnet ein in seiner Kürze und Prägnanz zupackendes Porträt der Progressive Historians und ihrer Fortschritts- und Zivilisationskonzeptionen. Hier wird zugleich erkennbar, in welcher Form, nämlich als diskursiver Austausch zwischen Politik und Wissenschaft, „gesellschaftliche Erneuerung“ von diesen Intellektuellen gedacht wurde. Kapitel 4 erhebt die Pragmatisten zu einer „sozialstaatlichen Avantgarde“, zu den eigentlichen Trägern der Sozialstaatsidee in den USA zwischen Progressive Era und New Deal. Sie agierten nicht nur als Diagnostiker amerikanischer Modernisierungskrisen, die, etwa im „muckraking journalism“ aber auch in frühen Ansätzen einer in großem Umfang publizierten Sozialforschung (z.B. The Pittsburgh Survey von 1908) den Finger in die Wunde eklatanter sozialer Übelstände in den Vereinigten Staaten legten. Sie entwickelten auch praktische Reformkonzepte und strebten an, eine gesellschaftstheoretische Fundierung für wohlfahrts- und sozialstaatliche Perspektiven in den USA zu formulieren. Das Progressive Movement war, wie schon am Beispiel der Historikerin Mary Beard ersichtlich, mit der Frauenbewegung eng verflochten. Diese Wechselbeziehungen lotet Kapitel 5 aus, das die „Geschlechterdimension sozialer Reform“ zum Thema hat. Hervorzuheben ist hier zum einen die wichtige weibliche Beteiligung an der sozialstaatlichen Reformarbeit, die für aktive Frauen, die in den freiwilligen sozialen Organisationen eine politische Sozialisierung erfahren hatten, lange vor dem Erringen des Frauenwahlrechts (1919) einziger direkter Zugang zur Politik war. Zum anderen überlagerte sich diese Tendenz zum „maternal welfare state“ mit stärker feministisch ausgerichteten Strömungen innerhalb der heterogenen amerikanischen Frauenbewegung.

Kapitel 6 verengt die Sicht stärker auf die Auseinandersetzung mit dem Werk John Deweys, der in Friedrich Jaegers Buch fraglos die „graue Eminenz“ abgibt, wenn er nicht gar die Rolle der letzten Autoritätsinstanz spielt. Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei um eine Verengung, weil Jaegers normative Stoßrichtung, die er verfolgt, um den Theoriekorpus der Pragmatisten in den heutigen Diskurs einzuspeisen, die Bandbreite der ideengeschichtlichen Rekonstruktion einzuschränken beginnt. Es geht in diesem Kapitel um die Rolle der Wissenschaft als Trägerin sozialen Wandels und als „unparteiischem“, nur einem „Gospel der Effizienz“ verpflichteten Gegenmodell zur korrupten amerikanischen Parteienherrschaft. Das Progressive Movement ging sehr weit, den „sachlichen“ Experten zu einem neuen Gott des Fortschritts und der gesellschaftlichen Reform zu idealisieren. Das mündete, wie in Europa auch, schnell in technokratischen Herrschaftsmodellen, die sozial elitär waren und im Sinne einer dem politischen Diskurs entzogenen und durch geeignete Sozialtechnologie „planbaren“ Gesellschaft autoritäre Züge annahmen. Jaeger führt hierfür das Beispiel Walter Lippmanns an, kontert dies aber mit Deweys weit egalitäreren Überlegungen. Dewey ging es nicht um die Ersetzung von Demokratie und Öffentlichkeit durch Wissenschaft, sondern um die diskursive, selbstreflexive und experimentelle Neumodellierung von Demokratie und Öffentlichkeit nach dem Beispiel einer (idealen) Wissenschaft.

Deweys Pragmatismus steht ganz allein im Mittelpunkt des folgenden Kapitels (7). Hier entfaltet Jaeger Deweys gesellschaftstheoretische Konzeption, die um den Begriff der „Erfahrung“ herumgebaut ist. „Erfahrung“ vermittelt zwischen gesellschaftlichen Problemen und den Versuchen, sie zu lösen. Sie stellt nach Dewey eine Art Problemlösungskapazität dar, die nicht fix ist, sondern im Fluss, die stets bereit ist, Veränderungen wahrzunehmen, aufzunehmen und aufzugreifen, und die sich der permanenten Aufgabe stellen muss, geeignete Reaktionen immer neu zu entwickeln, zu testen und ihre Wirkungen in den Kreislauf der eigenen reflexiven Überlegungen einzubeziehen. Diese aufmerksame Offenheit, Flexibilität, Experimentierfreudigkeit und Orientierung an der (kulturellen wie politischen) Praxis sind die Merkmale, die Deweys Pragmatismus aus- und nach Jaegers Ansicht auch für die heutige Debatte interessant machen.

Kapitel 8 arbeitet am Beispiel der Immigrationsproblematik das Konzept des „kulturellen Pluralismus“ heraus, das vor allem Horace M. Kallen, ein New Yorker jüdischer Abstammung, den beiden gängigen zeitgenössischen Paradigmen des „Melting Pot“ oder des Assimilationsdiktats („100 percent Americanism“) entgegengestellt hat. Das leitet zugleich zur Frage der nationalen Identität in den Vereinigten Staaten über, die seit jeher, in Abwesenheit einer Staatsreligion und unter Reklamierung einer besonders strengen Trennung von Staat und Kirche, eine zivilreligiöse Dimension besessen hat. Kallen und andere Pragmatisten, wie erneut Dewey, haben versucht, diese zivilreligiösen Unterströmungen in den theoretischen Diskurs einzubringen, sie religionsphilosophisch zu hinterfragen und einer Legitimationskritik politischer Herrschaft zugänglich zu machen.

Friedrich Jaegers abschließendes neuntes Kapitel bietet zusammenfassende Überlegungen, die darauf zugeschnitten sind, die Bedeutung des amerikanischen Pragmatismus zu würdigen, ihn in den theoriegeschichtlichen Rahmen einzuordnen und seinen potentiellen Beitrag in der gegenwärtigen europäischen Debatte über die Chancen und Grenzen der „Zivilgesellschaft“ zu unterstreichen. Die Hauptthesen hierbei habe ich am Anfang der Rezension benannt. Friedrich Jaeger hat ein Buch geschrieben, das mit dem Titel „Der gesellschaftstheoretische Pragmatismus innerhalb der amerikanischen Reformbewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts“ vielleicht besser gefahren wäre als mit dem jetzigen. Denn dieser weist auf die doppelte Aufgabe der Studie hin, das Verhältnis zwischen Liberalismus und (kommunitärer) Zivilgesellschaft in der pragmatistischen Theorietradition zu klären und deren Bindung an die Pragmatik der amerikanischen Reformbewegung nachzuzeichnen. Doch sind beide Fragestellungen nicht gleichgewichtig. Die zweite wirkt eher nachgeordnet und leistet in erster Linie eine Hilfestellung für die Beantwortung der ersten. Sie soll eine Illustration liefern, wie pragmatisch „aktivistisch“ und realpolitisch „geerdet“ – und damit, wie man dreißig Jahre früher man wohl gesagt hätte: „gesellschaftlich relevant“ – diese Theorietradition in den USA der Progressive Era gewesen ist. Denn ein solcher Nachweis ist unverzichtbar, um das Argument für die (theoretische) Relevanz dieser Denkschule für heute zu stärken, und das ist Friedrich Jaegers übergeordnetes Erkenntnisinteresse.

Man muss das Buch meiner Ansicht nach aus Sicht dieser selbstgewählten Perspektive beurteilen, und unter dieser Voraussetzung erscheint die Rekonstruktion des unübersichtlichen pragmatistischen Theorieuniversums streckenweise brillant, die Argumentation überwiegend plausibel und das Einklagen spezifisch moderner „Gemeinschaftselemente“ für die gegenwärtige Zivilgesellschaftsdebatte notwendig und überzeugend.

Wenn man die Untersuchung hauptsächlich als Beitrag zu einem Kapitel amerikanischer Sozial- und Politikgeschichte liest oder auch als enger gefasstes Porträt des Progressive Movement, wird man dagegen eher enttäuscht sein. Die neuere amerikanische Literatur zum Progressivism betont viel stärker seine Heterogenität und Inkohärenz als seine Integrität in der Form eines in Konzepten fassbaren Reformprogramms.1 Er sei keine einheitliche Strömung gewesen, sondern eine Ansammlung zum Teil sehr breiter und merkwürdiger Koalitionen, die sich um eine Reihe mobilisierungsfähiger Einzelprobleme herum gruppierten, schnell aber auch wieder auseinander fielen. Bestes Beispiel ist die Temperenzbewegung, die 1920 das nationale Alkoholverbot durchsetzte, die in vielerlei Hinsicht folgenreiche Prohibition, die 1933 kläglich endete. In ihrer Phalanx standen ursprünglich militante evangelikale Protestanten und südstaatliche Rassisten neben progressiven Reformpolitikern Schulter an Schulter, die das Verbot des Alkohols mit Evolutionsargumenten forderten, während Darwin für die Kirchen Anathema war und die weißen Südstaatler die liberalen „Eierköpfe“ aus dem Norden buchstäblich „zum Teufel wünschten“. Über die Notwendigkeit, das Land „trockenzulegen“, bestand aber Einmütigkeit, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.2

Überhaupt zeichnete den Progressivism eine Sprunghaftigkeit aus, in die Deweys Rationalisierungsversuche nur zeitweise und partiell hineinpassten. Sie war der Preis kurzzeitiger Begeisterungsfähigkeit für alles „Moderne“, die verschiedene Strömungen zum Beispiel zwischen Darwin, Mesmer und Freud hin- und herpendeln ließ. Die kurzlebigen ideologischen Moden verweisen eher auf einen parallelen „Erfahrungsprozess“ der Theoretiker und der weiteren gesellschaftlichen Kreise, die sich in einem oder mehreren Bereichen progressiven Themen zuwandten, als auf eine wirklich funktionierende didaktische Vermittlungsleistung der Intellektuellen. Schließlich ist in der neueren Forschung die Ambivalenz des Progressive Movement immer deutlicher herausgearbeitet worden. Die Prohibition entsprach einer repressiven Verkürzung des „Social Gospel“. Progressive Politiker sahen in der gesetzlichen Segregation eine Lösung für die gewaltsamen Rassenkonflikte im Süden. Die andere Seite des Wissenschaftsidealismus bildeten rasch wissenschaftlicher Rassismus und Eugenik. Die restriktive Einwanderungspolitik der 1920er Jahre war nicht zuletzt ein Werk des Progressivism. Die geforderte soziale Gesetzgebung trug recht ungeschminkte autoritäre Züge. Die frühen 1920er Jahre sahen – wieder im Zeichen der Prohibition – eine vorübergehende, erstaunlich weitgehende Einschränkung individueller Freiheitsrechte, bei der der Supreme Court federführend war.

Religion, Recht, Parteienkorruption, „neue“ Immigration, Ku Klux Klan und Prohibitionsbewegung, um nur eine Reihe brennender zeitgenössischer Streitthemen zu nennen, bleiben in Friedrich Jaegers Studie ausgeklammert bzw. in der Summe der Modernisierungsprobleme oder im pauschalen Feindbild des „state of courts and parties“ verborgen. Das ließe sich mit Hinweis auf die spezifische Fragestellung seines Buches rechtfertigen, wenn der Anspruch auf die Verknüpfung von Sozial- und Ideengeschichte und die These von der besonderen Realitätstauglichkeit und gesellschaftlichen Wirksamkeit des Pragmatismus nicht so weit gespannt wäre. So mag das Werk Deweys heute alles andere als überholt wirken, damals aber vielleicht doch nur für eine elitäre und marginale Strömung im Wirbel des Progressivism gestanden haben.

Anmerkungen:
1 McGerr, Michael, A Fierce Discontent. The Rise and Fall of the Progressive Movement in America 1870-1920, New York 2003.
2 Morone, James A., Hellfire Nation. The Politics of Sin in American History, New Haven 2003.

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