T. Ito: Militarismus des Zivilen in Japan 1937–1940

Cover
Titel
Militarismus des Zivilen in Japan 1937–1940. Diskurse und ihre Auswirkungen auf politische Entscheidungsprozesse


Autor(en)
Ito, Tomohide
Erschienen
München 2019: Iudicium-Verlag
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tino Schölz, Japanologie, Freie Universität Berlin

In den 1930er-Jahren stand das japanische Imperium vor der fundamentalen Herausforderung, ab 1931 (Mandschurischer Zwischenfall) und insbesondere ab 1937 (Zweiter Chinesisch-Japanischer Krieg) auf dem asiatischen Kontinent einen lang andauernden totalen Krieg zu führen. Dies erzwang eine Anpassung der militärischen, ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen des Landes an die Notwendigkeiten der Kriegführung. Die überkommene polykratische Herrschaftsstruktur, welche aus unterschiedlichen Machtzentren wie Tennō, Hof, den verschiedenen Ministerien, Heer und Marine, Parlament und den Parteien usw. bestand, hemmte und verzögerte die Anpassungsprozesse jedoch erheblich. Diese Situation wurde durch Rivalitäten, Verschwörungen und Putschversuche einzelner Gruppierungen des Militärs und Attentate auf Parteipolitiker noch verschärft. Der perzipierte Reformstau wurde erst durch eine weitere Bedeutungszunahme der Streitkräfte in der Innenpolitik und deren Bündnis mit reformorientierten Bürokraten und Politikern aufgelöst. Der Aufbau eines Systems des totalen Krieges (Yamanouchi Yasushi) gipfelte schließlich in der Errichtung der sog. „Neuen Ordnung“ (shin-taisei) kurz vor Ausbruch des militärischen Konfliktes mit den Westmächten im Pazifischen Krieg ab 1941.

Militarismus des Zivilen in Japan 1937–1940 von Tomohide Ito, als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn entstanden, ist vor diesem historischen Hintergrund angesiedelt. Sie setzt sich das Ziel, die „konstruktiven Rollen der nicht-militärischen Elemente im Herausbildungsprozess des Militarismus“ im Japan der 1930er-Jahre zu analysieren (S. 8). Hierzu zieht Ito zwei Fallbeispiele heran: Zum einen die „Studiengruppe für Staatspolitik“ (Kokusaku kenkyū-kai) und zum anderen die „Shōwa-Studiengruppe“ (Shōwa kenkyū-kai). Erstere existierte zwischen 1936 und 1945, letztere zwischen 1933 und 1940. Beide fungierten als halbstaatliche Denkfabriken, sie unterstützten staatliche Stellen und politische Gruppierungen, indem sie Gesetzesvorhaben, politische Programme und Strategien formulierten und versuchten, Einfluss auf das politische System zu nehmen. Konkret fragt Ito danach, erstens, welche Ideologien und Dispositionen dem Handeln der beiden Forschungsgesellschaften zugrunde lagen; zweitens, welche Handlungsmuster zu erkennen sind; und drittens, welche Wirkungen dieses Handeln auf den Aufbau militaristischer Strukturen in Japan in den 1930er-und 1940er-Jahren hatte. Der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit liegt auf den Jahren zwischen 1937 und 1940, da in diesen Jahren beide Studiengruppen auf politische Entscheidungsprozesse einwirkten.

Die Gliederung des Buchs orientiert sich an den oben skizzierten Leitfragen. In Anbetracht der unterschiedlichen Analyseebenen und Erkenntnisinteressen verwendet der Autor folgerichtig auch verschiedene methodische Zugänge. Zunächst werden, gewissermaßen als Vorgeschichte, die Formierungsprozesse beider Denkfabriken dargestellt und analysiert (Kap. 2). Kapitel 3 untersucht beide Institutionen als soziale Netzwerke und bedient sich hierzu der historischen Netzwerkanalyse. Dabei verzichtet der Autor auf eine streng analoge systematische Betrachtung. Itos Erkenntnisinteresse zielt an dieser Stelle darauf, die „tonangebenden Personen“ innerhalb der Kokusaku kenkyū-kai zu identifizieren, die organisatorische Entwicklung beider Denkfabriken zu erfassen sowie die Beziehungen der beiden Netzwerke zueinander sichtbar zu machen. Als Ergebnis kann Ito zehn Personen bestimmen, die maßgeblich für den Betrieb der „Studiengruppe für Staatspolitik“ waren, und ihnen auch spezifische Rollen zuschreiben. Unter diesen seien vor allen die Oberhausabgeordneten Baron Ōkura Kinmochi (1882–1968) und Shimomura Hiroshi (1875–1957) zentral gewesen. Das folgende vierte Kapitel ist eine Analyse der diskursiven Grundlagen beider Organisationen. Hierbei unterscheidet Ito systematisch „individuelle“ und „kollektive Diskurse“. Als Gemeinsamkeiten der individuellen Diskurse, die Ito an den Fallbeispielen von führenden Vertretern der „Studiengruppe für Staatspolitik“ herausarbeitet, dienten erstens der sogenannte „Reformismus“ (kakushinshugi), der die Notwendigkeit von Reformen in den unterschiedlichsten Politikfeldern betont und dabei antiindividualistische bzw. antiliberale Züge aufgewiesen habe, und zweitens die Praxisbezogenheit. Den „kollektiven Diskursen“ hingegen sei gemein, dass beide Gruppen letztlich auf eine korporatistische Wirtschaftsordnung gezielt hätten. Die Kokusaku kenkyū-kai habe sich dabei eher an den praktischen Problemen konkreter Politikgestaltung orientiert, während die „Shōwa-Studiengruppe“ verstärkt theoretische Konzepte diskutiert habe.

Im fünften Kapitel fragt Ito schließlich nach der tatsächlichen Einflussnahme der beiden Denkfabriken auf politische Entscheidungsprozesse. Hierfür analysiert er die Rolle der „Studiengruppe für Staatspolitik“ und der „Shōwa-Studiengruppe“ bei der Formulierung von wichtigen Schritten auf dem Weg Japans zum System des totalen Krieges. Konkret handelt es sich um Gesetze zur Kontrolle der Elektroindustrie und zur Einführung einer Krankenversicherung, die Formulierung des „Zehnjahresplanes für integrale Staatspolitik“ (1940), die Etablierung der sog. „Neuen Ordnung“ und schließlich die Gründung der „Unterstützungsvereinigung der kaiserlichen Herrschaft“ (Taisei yokusan-kai). Diese sollte als Einheitspartei an die Stelle der traditionellen pluralistischen Parteienlandschaft treten und damit den Umbau des politischen Systems abschließen. Offen bleibt, warum Ito das zweite „Herzstück“ der Reformmaßnahmen, das „Gesetz zur Generalmobilmachung des Staates“ von 1938, nicht untersucht. Dennoch benennt der Autor die Erfolgsbedingungen wie die Grenzen einer Beeinflussung politischer Prozesse durch beide Denkfabriken. Da ihnen, trotz zum Teil enger personeller Verflechtung, ein institutioneller Zugang zu staatlichen Einrichtungen gefehlt habe, sei ihre Beteiligung von der Bereitschaft politischer Entscheidungsträger abhängig gewesen, eine Beeinflussung zuzulassen. Diese Bereitschaft sei umso größer gewesen, je stärker die Interessenkongruenz ausgefallen sei. Im Gegenzug seien beide Studiengruppen, in unterschiedlicher Intensität, durch Militärs und Ministerialbürokraten auch für die Durchsetzung eigener Interessen instrumentalisiert worden.

Die Studie von Tomohide Ito weist zahlreiche Stärken auf. Dazu zählt die Nutzung eines sehr breiten Quellenfundus etwa von Publikationen und vereinsinternem Schrifttum, ministeriellen Akten, der zeitgenössischen Presseberichterstattung, Tagebüchern oder Memoiren, als auch die differenzierte Anwendung von Methoden wie der Netzwerkanalyse. Dadurch gelingt es Ito, vor allem die Binnenstrukturen, die ideologischen Annahmen und die politischen Handlungsmuster der beiden Denkfabriken auszuleuchten und ihre Rolle in der politischen Geschichte der 1930er-Jahre genauer als bisher zu bestimmen. Dabei erklärt er das Geschehen vor allem aus der Perspektive der handelnden Personen und ihrer institutionellen Interessen heraus.

Bedauerlich ist jedoch, dass die Studie ihr (vor allem konzeptionelles) Potential nicht voll ausschöpft. Da ist zum einen die Frage, wie die politische Ordnung Japans zur Zeit des Asiatisch-Pazifischen Krieges (1931–1945) zu charakterisieren ist, die bereits zeitgenössisch, aber auch bis heute kontrovers diskutiert wird. In der frühen Nachkriegszeit kam dabei auch der Militarismusbegriff zu Anwendung. Er verfügte u.a. über eine exkulpatorische Funktion, da er primär den Streitkräften die Schuld für den Krieg und die Niederlage zuschrieb und damit die Verantwortung der zivilen Eliten relativierte. Seit den 1950er-Jahren trat der Militarismusbegriff jedoch eher in den Hintergrund, wie Ito selbst betont. Stattdessen dominierten verschiedene Spielarten des Faschismusbegriffs (v.a. der sog. „Tennō-System-Faschismus“) und in den letzten Jahrzehnten das Konzept des totalen Krieges als analytische Kategorien die geschichtswissenschaftliche Diskussion. Einer der Vorteile dieser Entwicklung ist, dass damit eine Verengung der politischen Verantwortlichkeit auf das Militär vermieden und stattdessen gerade das Zusammenwirken unterschiedlicher, auch ziviler Akteure in den Blick genommen werden konnte. Vor diesem Hintergrund würde aber die von Ito postulierte „Wiederbelebung“ des Militarismusbegriffs als Analyseinstrument (S. 10) an Überzeugungskraft gewinnen, wenn er die Tragfähigkeit und das heuristische Potential des Militarismusbegriffs gerade in Anlehnung und Abgrenzung zu den in den letzten Jahrzehnten im Fach vorherrschenden Deutungen explizit diskutieren würde. Eine solche Diskussion müsste nota bene auch die Frage nach militaristischen Strukturen im Japan der Meiji-Zeit (1868–1912) und der Taishō-Zeit (1912–1926) problematisieren, mithin Fragen nach dem Grad und der Bedeutung der Transformationsprozesse der 1930er- und 1940er-Jahre. Auch die überraschende Anlehnung Itos an Hannah Arendts (durchaus umstrittene) These von der „Banalität des Bösen“ bei der Mitverantwortung Adolf Eichmanns für den Holocaust und die von Ito postulierte Analogie, dass es sich bei den beiden Denkfabriken nicht um Triebkräfte, sondern Katalysatoren des „Bösen“ gehandelt habe, können an dieser Stelle nicht überzeugen.

Zum anderen ist die Anwendung der historischen Netzwerkanalyse auf die Strukturen der beiden Studiengruppen fraglos innovativ und ermöglicht es dem Autor, das Innenleben der Denkfabriken plastisch herauszuarbeiten. Für die Beantwortung der Leitfrage nach ihrer Rolle für die Etablierung militaristischer Strukturen wäre aber eine systematische Untersuchung der Vernetzungen mit anderen Organisationen, etwa den Streitkräften und der Ministerialbürokratie, oder auch mit einzelnen politisch einflussreichen Individuen wie Konoe Fumimaro usw. von enormer Bedeutung. Hier betont Ito zwar völlig zu Recht die Tatsache, dass zahlreiche Mitglieder beider Studiengruppen selbst der Ministerialbürokratie entstammten, andere zum Teil als Berater bei Ministerien angestellt waren, dass sich Offiziere, die eigentlich einem politischen Betätigungsverbot unterlagen, ad hoc an der Arbeit beider Studiengruppen beteiligten oder die Ministerien in geregelter Weise die Tätigkeiten der Studiengruppen durch finanzielle Zuschüsse förderten. Er verzichtet aber, wie gesagt, auf eine systematische Untersuchung, wofür gerade die Netzwerkanalyse ein brauchbares Werkzeug hätte sein können. Ebenso verzichtet Ito weitgehend auf eine Einordnung der von ihm untersuchten Entwicklungen in die Geschichte der politischen Strukturen Japans in jener Epoche. Entsprechende Analyseschritte und Ergebnisse hätten die Argumentation der Studie stärker stützen und überzeugender gestalten können.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen bleibt zu konstatieren, dass die Befunde Itos differenziert sind und stellenweise den bisherigen Forschungsstand bereichern. Ito kann in Militarismus des Zivilen in Japan 1937–1940 zeigen, wie sich beide Denkfabriken in ihren Binnenstrukturen und Beziehungen zueinander entwickelten und an den Fallbeispielen herausarbeiten, wie ihre Ideen und Konzepte bei der Formulierung von Gesetzen und den Planungen für die Neugestaltung der politischen Ordnung punktuell berücksichtigt wurden. Zwar wurden die eigentlichen Beschlüsse auf der Ebene des Kabinetts, der hohen Ministerialbürokratie und des Parlamentes getroffen, doch belegt Itos Studie, dass zivile Akteure Diskussions- und Entscheidungsfindungsprozesse in den Kriegsjahren beeinflussen und mitgestalten konnten.