S. Abram u.a. (Hrsg.): Electrifying Anthroplogy

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Titel
Electrifying Anthroplogy. Exploring Electrical Practices and Infrastructures


Herausgeber
Abram, Simone; Winthereik, Brit Ross; Yarrow, Thomas
Erschienen
London 2019: Routledge
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
£ 72.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Schädler, Historisches Seminar, Universität Zürich

Spätestens seit sich die Science and Technology Studies ab den 1980er-Jahren als eigenständige Forschungsrichtung etabliert haben, rücken Infrastrukturen in den Fokus soziologischer und historischer Untersuchungen.1 Jüngst haben sich vermehrt Anthropolog/innen damit auseinandergesetzt und vielseitige Studien vorgelegt, die politische und technosoziale Wechselwirkungen von Infrastrukturen erforschen.2 Mit „Electrifying Anthropology: Exploring Electrical Practices and Infrastructures“ liegt nun ein neuer, von Simone Abram, Brit Ross Winthereik und Thomas Yarrow herausgegebener Sammelband vor. Die Beiträger/innen werfen einen anthropologisch angeleiteten Blick auf Elektrizität und damit verbundene Alltagspraktiken. Sie greifen auf Methoden der Geschichts-, Medien- sowie der Tourisimuswissenschaft, Linguistik und Geografie zurück. Zentral verhandelt werden die materiellen Gegebenheiten, welche die Elektrizität umgeben, sowie die technischen Arrangements, die diese Technik stabilisieren und kommodifizieren. Mit ihrem praxeologischen Ansatz wollen die Herausgeber/innen das konzeptuelle Repertoire der Energy Studies um eine Perspektive erweitert wissen, die Elektrizität im Alltag untersucht und damit die Anwender/innen ins Zentrum rückt: „[A]fter a century of domestication, electricity is socialized and politically embedded in ways that now require sustained empirical attention, including how its histories and futures are performed.“ (S. 11) Nebst Einleitung und Nachwort vereinigt der Sammelband neun Aufsätze, welche ein heterogenes Feld einer „Electricity-in-practice“ (S. 5) abdecken. Die ersten beiden Beiträge gehen theoretisch an die Verzahnung von Elektrizität und anthropologischer Untersuchung heran. Im Anschluss folgen sieben Fallstudien, die spezifische elektrische beziehungsweise elektronische Alltagstechniken in unterschiedlichen globalen Kontexten beleuchten. Eine Auswahl der Beiträge sei hier vorgestellt.

Im ersten Kapitel verhandelt Gretchen Bakke im Anschluss an den Linguisten Benjamin Whorf die Problematik, dass Elektrizität für viele Anwender/innen sowohl sprachlich wie auch physikalisch unkonkret sei. Während andere Energieformen eine physische Materialität aufweisen und in bestimmten Aggregatszuständen quantifizierbar sind – man denke etwa an Kohle oder Erdgas –, lässt sich Elektrizität nur über einen Umweg fassen. An einer brennenden Lampe etwa wird der Stromfluss offensichtlich, und Stauseen führen eine aufgespeicherte energetische Kraft eindrucksvoll vor Augen. Um Elektrizität zu verstehen, so macht Bakke mit den Beispielen deutlich, bedienen wir uns sprachlicher Bilder, die Strom in ein Ähnlichkeitsverhältnis zum Wasser setzen. Diese Analogie – das „Fließen“ des Stroms durch Leitungen und seine „Speicherfähigkeit“ in Behältern – sei jedoch eine „misunderstanding machine“ (S. 32). Explizit wird laut Bakke die Problematik sprachlicher Bilder, wenn sie die Speicherunfähigkeit von Strom und ihre vermeintliche Unendlichkeit beleuchtet: Batterien würden fälschlich als „Behältnis“ für gespeicherte Elektrizität verstanden werden. Diese Übersetzung habe erhebliche Folgen für die Umwelt und das Konsumverhalten. Zum Missverständnis, dass Strom wie eine Sache zu behandeln sei, trage ferner bei, dass Energie wie eine gewöhnliche Handelsware angesehen werde. Bakke endet mit der durchaus politischen Forderung, dass das Reden über Elektrizität von unserer Vorstellung des Fließens losgelöst werden müsse, um letztlich auch unseren Umgang mit natürlichen Ressourcen zu ändern. Für eine alternative Energiezukunft dürfe Elektrizität nicht mehr als beliebig vorhandenes Gut verstanden werden, sondern als Energieform, die eng verzahnt mit endlichen Rohstoffen sei.

Im zweiten, wissenschaftstheoretisch orientierten Beitrag stehen das elektrotechnische Denken sowie die soziologisch interessierte Anthropologie der Wende zum 20. Jahrhundert im Zentrum. Den damals neuen Wissenschaften, der Elektrotechnik und der Anthropologie, attestiert der Autor Leo Coleman eine begriffliche Nähe, wenn es um die Beschreibung von natürlichen und kulturellen Phänomenen gehe. Insbesondere im Spätwerk des Soziologen Émile Durkheim, in dem sich dieser intensiv mit der gesellschaftlichen Funktion von Religionen auseinandergesetzt hat, findet Coleman Bezüge zwischen der Erklärung religiöser Riten und der Verwendung elektrotechnischen Vokabulars. Coleman schließt mit der Erkenntnis, dass die zeitgenössische Untersuchung von Infrastrukturen von einer Historisierung der Anthropologie profitieren könne, um ein Rapprochement der Natur- und Geisteswissenschaften zu ermöglichen.

Von Jamie Cross stammt ein Kapitel zur fehlenden Stromversorgung im indischen Gaudaguda-Tal. Cross untersucht, wie die Einwohner/innen der Gegend über Strom sprechen, und stellt anhand der Verwendung des englischen Begriffs current fest, dass damit eine inhärent politische Bedeutung einhergeht, weil sich darin politische Aushandelsprozesse mit staatlichen Institutionen manifestieren. Auch Haushalte mit fehlendem Anschluss an ein Versorgungsnetz verfügen nicht selten über autonome Elektrizitätssysteme, die jedoch nie als current bezeichnet würden. Gerade mit Blick auf die Strominfrastruktur zeigen sich soziale Grenzen entlang verschiedener Sprachen, Klassen und Kasten, denen Cross in seinem Beitrag Beachtung schenkt.

Die Ethnologin Nathalie Ortar nimmt sich in ihrem Aufsatz das E-Bike als anthropologischen Gegenstand vor und setzt sich unter Zuhilfenahme der Methode des „dichten Beschreibens“ nach Clifford Geertz mit diesem Fortbewegungsmittel auseinander. Indem sie ihren täglichen Arbeitsweg zur Universität in Lyon analysiert, stellt sie dar, inwiefern sich im Gegensatz zum „normalen“ Fahrrad die Art der Mobilität, die eigene Wahrnehmung sowie die sozialen Interpretationen davon verändert haben. Dem Vorwurf der Trivialität begegnet sie, indem sie ihre Untersuchung in einen Kontext von technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Energiewende einbettet; auch anhand eines Alltagsartefakts wie des Fahrrads ließen sich Verhalten, Beziehungen und Tagesroutinen und deren praktische, ökologische und finanzielle Auswirkungen studieren.

Der Historiker Hiroki Shin untersucht in seinem Beitrag die Elektrifizierung der Haushalte in Japan zwischen 1910 und 1960. Weil Elektrizität anfangs überwiegend zu festgelegten Pauschalpreisen verkauft wurde und teuer war, kam es häufig vor, dass Konsument/innen unerlaubterweise Strom bezogen, den sie nicht bezahlten. Dazu diente ein spezieller Adapter, der, in eine Lampenfassung eingeschraubt, zwei elektrischen Geräten einen Steckplatz bot. So konnten Strombezüger/innen Geräte betreiben und dafür nur den Lichttarif bezahlen. Diese Praktik des illegalen Strombezugs kam bis in die 1950er-Jahre häufig vor und wurde schließlich mit der flächendeckenden Einführung von Stromzählern unterbunden, die sich kaum mehr manipulieren ließen. Indem Shin zeigt, dass die Verwendung von Elektrizität im Haushalt nicht immer gemäß den Vorstellungen der Stromwirtschaft stattfand, verschiebt er den Blick auf die Anwender/innen: „Although policy makers, utilities and network engineers have tended to focus on the core and main arteries of electricity distribution, for energy users, the centre stage of modern electrical life has been firmly located at the edge of the power network.“ (S. 116)

Das Kapitel „Big Grid“ von Canay Özden-Schilling befasst sich mit dem Zusammenhang von Überlandnetzwerken und dem Sammeln von Konsumdaten. Bereits im Aufbau großer überregionaler Stromnetze der 1930er-Jahre beobachtet die Ökonomieanthropologin die Anfänge von Big Data. Für das reibungslose Funktionieren dieser Großkraftwerke und deren Netz- und Versorgungsstabilität war und ist die Verfügbarkeit von Daten enorm wichtig, weil damit beispielsweise Versorgungsengpässe erkannt und durch die Inbetriebnahme zusätzlicher Turbinen jederzeit ausgeglichen werden können. Özden-Schilling betont, dass in Zukunft ein Zusammenspiel zwischen Infrastrukturen, Stromversorgung und Digitalisierung immer mehr Platz einnehmen werde und es deshalb auch für die anthropologische Forschung relevant sei. Insbesondere müsse die Anthropologie den Blick vermehrt auf Big Data legen, weil sich dadurch auch Fragen beantworten ließen, die Regierungsformen im digitalen Zeitalter betreffen.3

Im Nachwort fasst die Sozialanthropologin Sarah Pink die Erkenntnisse der Beiträge zusammen und macht damit auf die Stärken aufmerksam, welche die Anthropologie bei der Erforschung elektrischer Alltagspraktiken und -objekte auszeichnen. Es handle sich dabei um Handlungsweisen und Gegenstände, die gemeinhin als nahezu unsichtbar gelten. Pink verweist auf die große Auswahl von Instrumenten und Methoden und sieht in der Zusammenschau der Fallstudien vor allem die Interdisziplinarität als Gewinn. Pinks Schlusswort muss entgegengehalten werden, dass Infrastrukturen eben nicht per se unsichtbar sind, sondern es viel eher an der fehlenden Aufmerksamkeit liegt, dass es noch immer an einer Auseinandersetzung mit ihnen mangelt. Die positiven Beispiele, welche der Sammelband „Electrifying Anthropology“ bietet, weisen auf abwechslungsreiche Art auf die Relevanz der (anthropologischen) Erforschung von Elektrizität im Alltag und der dazugehörigen Infrastrukturen hin.

Die neun Texte sind sowohl thematisch als auch methodisch sehr verschieden, was eine kurzweilige und belebende Lektüre verspricht, auch wenn die Bewertung der einzelnen Kapitel dadurch erschwert wird und es nicht leicht fällt, sie in einem gemeinsamen Kontext zu verorten. Während einige Beiträge aufgrund einer mangelnden empirischen Grundlage oder einer fehlenden geschichtlichen Dimension Historiker/innen eher weniger substantiell vorkommen mögen (etwa das Kapitel von Ortar), dürften sie aus einem anthropologischen Blickwinkel wertvoll sein. Vor allem überzeugen die Beiträge von Bakke, Shin und Canay-Özden, welche historisch fundiert und angereichert mit vielseitigem Material zentrale Aspekte der „Electricity-in-practice“ darstellen. Den Herausgeber/innen ist insgesamt eine vielseitige und anschauliche Textsammlung gelungen, die auch dank eines Registers durchsucht werden kann. Elektrische Praktiken und Infrastrukturen – das dokumentiert der Sammelband anschaulich – bieten ein breites Spektrum an Untersuchungsfragen und lohnen allemal einer vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Anmerkungen:
1 Richtungsweisend, wenn auch nicht unwidersprochen, bleibt Susan Leigh Stars Beobachtung, dass Infrastrukturen erst sichtbar würden, wenn sie ausfallen. Von dieser Prämisse ausgehend ruft Star dazu auf, insbesondere Infrastrukturen und ihre Verortung in sozialen Zusammenhängen zu untersuchen. Susan Leigh Star, The Ethnography of Infrastructure, in: American Behavioral Scientist 43 (1999), S. 377–391. Für einen gelungenen Überblick der Geschichte von Infrastrukturen siehe Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft. Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt am Main 2019.
2 Vgl. Brian Larkin, The Politics and Poetics of Infrastructure, in: Annual Review of Anthropology 42 (2013), S. 327–343; Casper Bruun Jensen / Penny Harvey / Atsuro Morita (Hrsg.), Infrastructures and Social Complexity. A Companion, New York 2017.
3 Aus historischer Perspektive wurde ein solches Forschungsprojekt jüngst mit Fokus auf die Schweiz durchgeführt. Siehe Monika Dommann / Hannes Rickli / Max Stadler (Hrsg.), Data Centers. Edges of a Wired Nation, Zürich 2020.