M. Polli-Schönborn: Kooperation, Konfrontation, Disruption

Cover
Titel
Kooperation, Konfrontation, Disruption. Frühneuzeitliche Herrschaft in der alten Eidgenossenschaft vor und während des Leventiner Protestes von 1754/55


Autor(en)
Polli-Schönborn, Marco
Erschienen
Basel 2019: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
CHF 58
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Würgler, Département d'histoire générale Unité d'histoire suisse, Universität Genf

Wer über den Gotthardpass nach Süden fährt, erreicht das Tal des Flusses Tessin im Abschnitt, der Leventina genannt wird. Diese italienischsprachige Landschaft ist Gegenstand der Studie des Historikers Marco Polli-Schönborn, die, ausgehend von der Revolte in der Mitte des 18. Jahrhunderts, das Herrschaftsverhältnis zwischen dem deutschsprachigen Kanton Uri als Landesherrn und dieser Talschaft während der Frühen Neuzeit behandelt.

Die Leventina gelangte nach der Schlacht von Giornico 1478 vom Herzogtum Mailand in Urner Besitz, nicht zuletzt dank der tatkräftigen Mithilfe der Leventiner Milizen. Die Talschaft erhielt für ihr militärisches Engagement zwar nicht die Freiheit oder Gleichstellung mit den Eroberern, wohl aber einen relativ autonomen Status, der die strategische und ökonomische Bedeutung ihrer Lage an der Passroute spiegelte. Die auf das Jahr 1656 datierte älteste erhaltene Aufzeichnung des wohl aus dem 15. Jahrhundert stammenden Landrechts garantierte dem Tal eine eigene Landsgemeinde („parlamento generale“), die allerdings vom Urner Landvogt einberufen wurde. Der Landvogt wiederum musste der Landsgemeinde versprechen, das lokale Recht zu respektieren. Die Landsgemeinde wählte nicht nur die lokalen Niedergerichte, sondern auch den Talrat („Consiglio di Leventina“) und die Landesämter (Hauptmann, Pannerherr, Weibel, Schreiber, Geschworene, Prokuratoren). Als der Kanton Uri 1712 zusammen mit den katholischen Kantonen den konfessionell aufgeladenen „Bruderkrieg“ gegen die reformierten Kantone bei Villmergen verlor, nutzte die Talschaft die Gunst der Stunde und erzwang mit der Beschlagnahmung der Zolleinnahmen an der Gotthardroute eine Verbesserung ihrer Stellung. Das daraufhin erneuerte Landrecht garantierte nun den Einsitz des Leventiner Landeshauptmanns in den Urner Kriegsrat sowie die Mitwirkung des Talrats bei Urteilen und Appellationen in Straf- und Zivilsachen. Zudem wurde nach 1713 die „Lifener Pension“ umgenutzt. Wohl seit dem frühen 16. Jahrhundert erhielt die Talschaft nämlich einen Anteil der von Frankreich und Spanien an Uri bezahlten Gelder (Pensionen) – einer Art Lizenz zur Aushebung von Söldnern –, der einerseits die militärische Leistung honorierte und anderseits zur Finanzierung der Bewaffnung und Ausrüstung der Milizen diente. Die abnehmende Bedeutung des Soldgeschäftes ermöglichte es der Talschaft, ihren Anteil an der Pension für zivile Zwecke einzusetzen, weil sie nicht mehr für militärische gebraucht wurden (S. 219–231) – eine laut Polli-Schönborn einzigartige Konstellation selbst innerhalb der Eidgenossenschaft.

Doch diese starke Position der Talschaft nahm mit der Niederschlagung der Revolte von 1754/55 gegen eine neue Mündelverordnung ein Ende. Die bisherige Forschung taxierte den Aufstand als antimodernistisch, weil sich die lokalen Eliten des Tals vor mehr Transparenz und Bürokratie im Vormundschaftswesen fürchteten. Der Verfasser weist dagegen darauf hin, dass Urner Herren bei ihrem Reformvorhaben nicht nur paternalistisch an die armen Unmündigen dachten, sondern auch egoistisch an einen verbesserten Gläubigerschutz für ihre Investitionen im Tal. Insbesondere aber stellt Polli-Schönborn den konkreten Auslöser des Konflikts in eine längere Herrschaftstradition und einen größeren Kontext. Denn die neue Verordnung versprach nicht nur mehr Protektion für Schutzbedürftige, sondern schaltete gleichzeitig auch die Partizipation des Talrates in Vormundschaftssachen aus. Zudem wurden die Talleute neu als „Untertanen“ („sudditi“) bezeichnet, obwohl sie seit 1713 das Recht hatten, als „Mitlandleute“ („compaesani“) angesprochen zu werden. Da Vermittlungsversuche scheiterten, beendete eine militärische Intervention der mit eidgenössischen Kontingenten verstärkten Urner Truppen den Widerstand ohne Kampfhandlungen. Das Strafgericht war hart: Bußen, Ehrenstrafen und Hinrichtung von drei „Rädelsführern“, welcher die versammelten Talleute, umzingelt von den Invasionstruppen, kniend und barhäuptig beiwohnen mussten. Dazu verlor die Talschaft auch ihre 1713 errungenen Privilegien. Der von der Landsgemeinde gewählte Talrat wurde ersetzt durch den Urner Landvogt und zwei von ihm bestimmte Geschworene, die Talleute waren nun offiziell wieder als Untertanen anzusprechen und die „Lifener Pension“ wurde von Uri als Reparationszahlung für den Militäreinsatz einbehalten – bis ans Ende des Ancien Régime 1798.

Der Band erzählt diese Geschichte nicht chronologisch, sondern setzt nach der Einleitung und einem Abriss der verfassungsrechtlichen Situation mit der „Narration“ der Revolte von 1754/55 ein, um anschließend lang- und kurzfristige Ursachen detailliert zu analysieren und die Kohäsionskräfte zwischen deutschsprachigen Herren und italienischsprachigen Untertanen herauszuarbeiten. Dieser Aufbau führt zu vielen Wiederholungen und teilweise etwas umständlichen Anknüpfungen an schon Gesagtes. Unter den langfristigen Ursachen betont der Verfasser insbesondere den vielerorts feststellbaren Konflikt zwischen traditionellem Landrecht und den (modernisierenden und zentralisierenden) Verordnungen des werdenden Staates. Das „alte“ Landrecht zu verteidigen beweise aber in dieser Situation nicht Rückwärtsgewandtheit, sondern ein Interesse der Akteure, ihre lokalen Partizipationsrechte zu verteidigen. Dagegen dürfte die Sicherung des Söldnerpotentials angesichts der abnehmenden Rekrutierungen keine wichtige Rolle mehr gespielt haben für das harte Eingreifen der Urner Obrigkeit. Dieses leite sich vielmehr aus dem vitalen Interesse am Schutz der Investitionen her. Denn über das Vormundschaftswesen ließe sich das lokale Kreditwesen kontrollieren und die Urner Kapitalien vor dem Missbrauch durch lokale Eliten schützen. Dass ein Teil der Leventiner Talelite sich vom Aufstand fernhielt, erklärt der Verfasser mit ihren familiären, finanziellen und herrschaftlichen Verflechtungen mit den Urner Herren. So waren ehemalige Familien aus der Leventina in den Kreis der Urner Magistratenfamilien aufgestiegen (Giudici/Tschudi; Scolar), während umgekehrt Urner Familien sich als Schreiberdynastien oder durch Konnubium oder Patenschaften mit dem Tal verbanden. Diese „vertikale Integration“ (nach Andreas Suter, S. 227–231) der lokalen Eliten ist für Polli-Schönborn auch ein Haupterklärungsgrund für die erstaunliche Tatsache, dass sich die Leventina trotz gelegentlicher Konflikte dreihundert Jahre lang mit geringstem Personalaufwand (ein Landvogt, keine Truppen) meist problemlos hatte regieren lassen. Er bevorzugt als Erklärungskonzept für diese vertikale Integration den Begriff „normative Zentrierung“ (Bernd Hamm, S. 26) gegenüber anderen Vorschlägen wie „akzeptanzorientierte Herrschaft“ (Stefan Brakensiek), „Aushandeln von Herrschaft“ (Alf Lüdtke) oder „empowering interactions“ (André Holenstein) (S. 31–34).

Die mit 14 Abbildungen und 10 Tabellen illustrierte und mit Registern gut erschlossene Studie bietet ein interessantes Bild der Herrschaftsbeziehungen und ihrer Krisen, indem sie die vorhandene Literatur und die bekannten Quellen (unter anderem aus dem Urner Kantonsarchiv, das allerdings durch den Brand von 1799 erheblich dezimiert wurde) durch die Nutzung lokaler (italienischsprachiger) Archive in der Leventina ergänzt, was insbesondere für das Vormundschaftswesen und die familiären Verflechtungen sehr aufschlussreich ist. Die Interpretation des Geschehens mit alten herrschafts- und konflikttheoretischen Konzepten von Max Weber – Charisma, Legalität, Tradition – oder aus den frühen 1970er-Jahren – „Statusdiskrepanz“ (Maurice D. East) oder „relative Deprivation“ (Ted Gurr) (S. 34) – ist nicht so neu und selten, wie der Verfasser glaubt, passt jedoch gut auf den Fall und liefert plausible Erklärungen. Bei den Ausführungen zum Antagonismus altes Recht – neue Verordnungen folgt Polli-Schönborn dem Tessiner Rechtshistoriker Pio Caroni und übersieht dabei die weitläufigen Diskussionen der Revoltenliteratur der 1980er- und 1990er-Jahre.1 Damit ist die Studie zwar weniger international eingebettet als der Leventiner Aufstand, über den schon 1755 in deutschen, holländischen und französischsprachigen Zeitungen berichtet wurde, aber sie liefert mit ihrer sowohl diachron als mikrohistorisch vertieften Analysen einen bleibenden Beitrag nicht nur zur regionalen Herrschaftsgeschichte, sondern auch zur frühneuzeitlichen Konfliktforschung.

Anmerkung:
1 Yves-Marie Bercé, Révoltes et révolutions dans l’Europe moderne, Paris 2013 [1980]; Peter Bierbrauer, Bäuerliche Revolten im Alten Reich. Ein Forschungsbericht, in: Peter Blickle u.a. (Hrsg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, S. 1–68; Werner Trossbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806, Weingarten 1987; Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, 3., aktual. und erw. Aufl., München 2012 [1988]; Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension