D. Siegfried u.a. (Hrsg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980

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Titel
Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert


Herausgeber
Siegfried, Detlef; Templin, David
Reihe
Jugendbewegung und Jugendkulturen, Jahrbuch 15
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonathan Voges, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

1971 verspürte der zunehmend weiter links zu verortende Liedermacher Franz Josef Degenhardt das Bedürfnis, vor der „Wallfahrt zum Big Zeppelin“ zu warnen. Er begann sein Lied mit einem historischen Verweis auf die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Auch damals hätten „Teile der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Jugend“ rebelliert und sich „gegen Unterdrückung und Entfremdung“ aufgelehnt. Als „bunte Wandervögel verkleidet“ seien sie in die Wälder gezogen – „anstatt mit der proletarischen Jugend in den Klassenkampf“, so Degenhardt. Interessant ist dieses Chanson nicht nur wegen der Sorge des späteren DKP-Mitglieds vor der Entpolitisierung der wenige Jahre zuvor politisierten Jugend, der zahlreichen sexuellen Anspielungen, die in Richtung von Rainer Langhans’ berühmter Klage über seine „Orgasmusschwierigkeiten“ (die ihm wichtiger seien als der Krieg in Vietnam) zielten, oder der – im Lied notgedrungen eindimensionalen – vulgärmarxistischen Herrschaftsanalyse. Interessant ist auch, dass sich der zu Beginn der 1970er-Jahre nicht mehr ganz junge Degenhardt (1931–2011) an die damals besonders erforschte Zeitgeschichte erinnert fühlte, während er beobachtete, was um ihn herum geschah. Wandervögel, Naturlehren, Innerlichkeit, Drogenexperimente, Anleihen bei „fremden Kulturen“, langen Haaren (bei Degenhardt despektierlich „Haaren aus Vogelnestern“), selbstgemachte Gitarrenmusik usw. – all das prägte für Degenhardt nicht nur die Gegenwart 1970ff., sondern auch die Epoche 50 Jahre zuvor.1

Was dem Liedermacher mit Blick auf die Jugend seiner Zeit einen Anlass für beißenden Spott bot, ist nun auch der Ausgangspunkt, über Gemeinsamkeiten der Reformprojekte der Wende zum 20. Jahrhundert sowie der 1970er- und 1980er-Jahre geschichtswissenschaftlich nachzudenken; weniger um den klassisch historiographischen Zeigefinger zu heben und darauf zu verweisen, dass es wenig Neues in der Welt zu geben scheint, sondern um gezielt nach Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte von Lebensreform bis Alternativmilieu zu fragen. Dies geschieht im Rahmen des von Detlef Siegfried und David Templin herausgegebenen 15. Bandes des Jahrbuches „Jugendbewegung und Jugendkulturen“ (2019).

Dass die Zusammenführung beider Zeitebenen derart gut gelingt, liegt nicht allein an den allesamt anregenden Studien der insgesamt zwölf Beiträger/innen, sondern vor allem auch an der klugen Einleitung der beiden Herausgeber. Schon dort wird deutlich gemacht, dass es nicht um oberflächliche Parallelisierungen gehen kann, sondern Siegfried und Templin schlagen ein methodisches Instrumentarium vor, das so überzeugend gewesen zu sein scheint, dass man die entwickelten Begrifflichkeiten tatsächlich – angepasst an das jeweilige Thema – in den unterschiedlichen Beiträgen wiederfindet.

So nennen sie drei mögliche Formen der Beziehung zwischen Lebensreform und Alternativmilieu: erstens der schon zeitgenössisch erkennbare Vergleich oder die Bezugnahme der 1970er- und 1980er-Jahre auf die Entwicklungen seit der Jahrhundertwende; zweitens tatsächliche personelle Kontinuitäten; drittens ideen- und organisationsgeschichtliche Verbindungen beider Zeitebenen. Auf dieser Grundlage entwickeln die Herausgeber ihre Leitfragen, die noch um die eine vierte Ebene – die Verortung der beiden Reformprojekte in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – ergänzt werden.

Nach einem zupackenden Essay von Sven Reichardt, der pointiert durch gut 100 Jahre Suche nach kulturellen und gesellschaftlichen Alternativen führt, folgen die in fünf Unterkategorien aufgeteilten Einzelbeiträge. Zwar wirken die Zuordnungen hier teilweise etwas willkürlich (zum Beispiel in der Abgrenzung von „Modernitätskritik“ zu „Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgeschichte“). Zudem hätte man sich noch andere Kategorien zur Ordnung der Beiträge vorstellen können, die mindestens ebenso sinnvoll gewesen wären (Bernadett Bigalkes Beitrag zu Yoga und Elija Horns Aufsatz zu Indien-Bezügen hätten sich auch für einen Abschnitt zu „Exotismus“ oder dergleichen geeignet). Nichtsdestotrotz kann die gewählte Zusammenstellung überzeugen.

So finden sich unter dem Rubrum „Modernitätskritik“ die Beiträge von Joachim Häberlen, Bernadette Bigalke und Nadine Zberg. Während Häberlen eine sehr überzeugende Diskursgeschichte der beiden modernitätskritischen Bewegungen vorlegt und dabei vor allem auch auf die Einführung neuer Körperpraktiken abhebt, die der Herrschaft der Vernunft etwas entgegensetzen sollten, verfolgt Bigalke die Betonung des Körperlichen weiter. Dabei macht sie vor allem deutlich, dass es gerade „östliche“, religiös konnotierte Körperpraktiken waren, die dem westlichen Vernunftglauben entgegengehalten wurden. Bigalke weist hier auf beiden Zeitebenen einen „affirmativen Orientalismus“ nach (S. 74). Vom Körper weg, hin ins städtische Wohnumfeld führt uns Zberg. Ihr gelingt es, interessante Unterschiede zwischen Lebensreform und Alternativbewegung auszumachen – besonders in der Bewertung urbaner Altbauquartiere, die um 1900 als ablehnenswert galten. In den 1970er-Jahren dagegen waren es gerade die Vorortsiedlungen mit eigenem Garten, die vom Alternativmilieu als Ausgeburt an Spießigkeit verdammt wurden, wohingegen man sich die Großstadt als wildes Ökosystem der Alternativen imaginierte und aneignete.

Auch im Abschnitt zu „Wissenschaftskritik und Wissenschaftsgeschichte“ finden sich einerseits interessante Ähnlichkeiten, andererseits signifikante Unterschiede zwischen Lebensreform und Alternativmilieu. So bietet Rosa Eidelpes eine spannende wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf die Wahrnehmung und Funktion der „Primitiven“ in ethnologischen Diskursen beider Zeiträume. Dies war vor allem ein Vehikel zur Vernunftkritik, als Projektionsfläche für die Sehnsucht nach dem vermeintlich Unverfälschten, dem sowohl um 1900 wie auch um 1980 ein besonderer Wert beigemessen wurde. Ein wenig quer zu den anderen Beiträgen des Bandes steht der autobiographisch gehaltene Beitrag Ulrich Linses, der dem/der Leser/in seine eigenen Forschungen zur Lebensreform präsentiert und dabei vor allem auch – erfreulich selbstreflexiv – auf die Zeitgebundenheit des persönlichen Interesses an seinem Untersuchungsgegenstand verweist.

„Alternative Ernährung und Reformwirtschaft“ stehen im nächsten Teil des Bandes im Fokus; die beiden Autor/innen können anschaulich machen, dass sich beide Bewegungen in ihren Ernährungspraktiken durchaus ähnelten und dass es auch personelle Kontinuitäten zwischen der Jahrhundertwende sowie den 1970er- und 1980er-Jahren gab. Eva Locher und Jörg Albrecht verdeutlichen in ihren Beiträgen aber ebenso, dass sich die organisatorischen Grundlagen wandelten – kurz gesagt: Reformhäuser auf der einen, Naturkostläden auf der anderen Seite. Während die Reformhäuser seit den 1950er-Jahren nur mehr ein bürgerlicheres, moderat auf Reformen von Lebensstil und Ernährung abzielendes Publikum ansprachen, verstanden sich die Naturkostläden als ganzheitlichere Alternative im Sinne eines anderen Konsums. Dass diese Unterschiedlichkeit beider Einkaufsorte nicht so groß war, wie zeitgenössisch gern behauptet, dass es vielmehr Überschneidungen gab – sowohl bei den einkaufenden Personen wie auch den nachgefragten Produkten –, machen Locher und Albrecht beide deutlich.

Im vorletzten Abschnitt geht es um die Frage der Sexualität. Wie schon angedeutet, wird zunächst gefragt, wie (vermeintlich) indische Sexualpraktiken in die Diskurse und zum Teil auch in den Alltag der jeweiligen Bewegungen eingingen. Elija Horn kann dabei ein stark verklärtes und romantisiertes Indienbild nachzeichnen. Ebenfalls mit einer – diesmal aber sicher problematischen – Verklärung haben wir es im Beitrag von Lutz Sauerteig zu tun, der sich den Diskursen um die kindliche Sexualität zur Jahrhundertwende und zur Zeit des alternativen Milieus annimmt.

Der thematische Teil des Jahrbuches schließt mit der Rubrik „Kulturelle Ausdrucksformen“. Hier sind wir ganz nah bei den eingangs zitierten Beobachtungen Degenhardts. Denn Gunter Mahlerwein widmet sich der in beiden Zeiträumen auffindbaren Popularisierung des deutschen Volksliedes – zum einen durch die Wandervögel, zum anderen durch die „Deutschfolkbewegung“ seit den 1970er-Jahren. Dabei weist er überzeugend nach, dass sich beide Zeiträume vielleicht aus einem ähnlichen Repertoire bedient haben mögen, dass aber seit 1968ff. vor allem das politische Volkslied im Vordergrund stand; zum anderen zeigt er, dass dieses Volksmusik-Revival in den 1970er-Jahren viel stärker als um die Jahrhundertwende in transnationale Zusammenhänge eingeordnet war – so etwa ins Folk-Revival auch in den USA. Bodo Mrozek hingegen fragt genau nach den „Haaren aus Vogelnestern“, also nach der Signifikanz von Langhaarigkeit in beiden Zeiträumen. Über die Haarmode kommt Mrozek so zu interessanten Thesen – die wiederum an Elemente anknüpfen, die auch in anderen Beiträgen diskutiert wurden; hier werden sie allerdings nochmals auf theoretisch hohem Niveau körpergeschichtlich gewendet präsentiert. Das lange Haar griff den immer wieder angesprochenen Konflikt zwischen Natürlichkeit und (kritisch gesehener) Zivilisierung auf, verwies auf neue Geschlechterverhältnisse und brachte unterschiedlichste Deutungskontexte hervor (von der „Dichterfrisur“ (S. 279) über das „Christusmotiv“ (S. 281) bis zur Frage nach einem „rassialisierten Haar“ (S. 287) durch Rasta-Zöpfe).

Detlef Siegfried und David Templin versammeln so ein buntes Potpourri unterschiedlicher Beiträge, die den Kontinuitäten, Wiederaufnahmen und Unterschieden bei vermeintlichen Ähnlichkeiten nachgehen und diese differenziert diskutieren. Es kommt dem Band zugute, dass sich alle Beiträger/innen bereitfanden, beiden Zeiträume gleichgewichtig Raum in ihren Argumentationen zu geben. Das inzwischen schon hell ausgeleuchtete alternative Milieu2 bekommt damit eine unbedingt zu begrüßende historische Tiefendimension. Dem Band gelingt es, durch zahlreiche minutiöse diskurs- und körpergeschichtliche Vergleiche die Unterschiede hinter zunächst ähnlich aussehenden Phänomenen zu beleuchten. Gleichzeitig wird aber auch genau nachgezeichnet, wie es zu den trotz allem frappanten Ähnlichkeiten kam – wer etwa dafür sorgte, dass bestimmte Veröffentlichungen, die auch schon um die Jahrhundertwende populär waren, plötzlich erneut enthusiastisch gelesen wurden. Besonders interessant ist schließlich, dass das, was gern als Jugendbewegung bezeichnet wird und sich auch ein betont jugendliches Selbstverständnis gab, häufig den Kontakt zu – in den meisten Fällen – alten Männern suchte und von den gut 50 Jahre zuvor gemachten Erfahrungen zu profitieren suchte. Die fortdauernde Verbundenheit der in den 1970er-Jahren wieder gefragten Lebensreformer der ersten Generation mit ihren Idealen der Jugend gibt somit auch spannende Einblicke in das Altern einer Jugendbewegung. Dies ist ein Thema, über das sich auch für das Alternativmilieu stärker nachdenken ließe – als spannende Frage für eine sozial- und kulturgeschichtliche Analyse der allerjüngsten Zeitgeschichte. Einige „Werkstatt“-Beiträge und Rezensionen zur Jugendbewegungsforschung, die mit dem Hauptteil stellenweise direkt korrespondieren (etwa eine Rezension zu Elija Horns Buch „Indien als Erzieher“), runden das Jahrbuch ab.

Anmerkungen:
1 Nachzuhören unter https://www.youtube.com/watch?v=ooHtqhj42CE (10.06.2020).
2 Vgl. z.B. Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, 1968–1983, Göttingen 2010; Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.