R. Vulpius: Die Geburt des Russländischen Imperiums

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Titel
Die Geburt des Russländischen Imperiums. Herrschaftskonzepte und -praktiken im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Vulpius, Ricarda
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 53
Erschienen
Köln 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
610 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Schedewie, Historisches Insitut, Universität Jena

Noch vor Kurzem galt die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts für die russische Geschichte als untererforscht. Einen wichtigen Beitrag leistet nun die 2018 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Habilitationsschrift angenommene Studie von Ricarda Vulpius. Sie beschreibt die Epoche in großem zeitlichen Kontext als Die Geburt des Russländischen Imperiums.

Im Zentrum der Analyse steht das Zivilisierungsparadigma. Dieses fand laut Vulpius durch Peter I. und seine Rezeption frühaufklärerischer Diskurse Resonanz im Zarenreich. In der Folge einer selektiven Aufnahme von Aufklärungsnarrativen und der Ausprägung eines imperialen Überlegenheitsbewusstseins setzten er, seine Nachfolgerinnen und eine kleine russländische Elite „Zivilisierung“ in Konzepte und politische Praxis um. Nach Ricarda Vulpius ist der eng verwobene Prozess der russländischen Staats- und Imperiumsbildung mit zum Teil kolonialen Merkmalen nachhaltig durch Strategien gekennzeichnet, die in zeitgenössischer Normativität die Zivilisierung, ja die Akkulturierung bis hin zur Assimilierung nicht-christlicher ethnischer Gruppen vorsahen.

Im Fokus der Studie finden sich folglich die Regionen, in denen diese Gruppen im Zuge der Expansion anzutreffen waren: der Nordkaukasus, die Steppengebiete, Sibirien, der Ferne Osten und das Nordpazifikgebiet mit Alaska. Obwohl die Darstellung eine Fülle an unterschiedlichen Beispielen des Kontakts und Umgangs mit Kalmücken, Kasachen und anderen Bevölkerungsgruppen wiedergibt, geht es Ricarda Vulpius explizit nicht um die Begegnungen, nicht um Grenzlandkulturen. Ihr Interesse gilt den Konzepten und Praktiken der politischen, militärischen und intellektuellen Eliten des Russischen Reiches, welche ihrerseits jedoch durch transregionale Erfahrungen und eine „direkte oder indirekte indigene ‚Mitschrift‘“ (S. 41), mithin die Rezeption und Verarbeitung lokaler Reaktionen, beeinflusst waren.

Aus Vulpius’ Analyse lassen sich über das 18. Jahrhundert sowohl Kontinuitäten als auch Wandel herauslesen: Kontinuität bestand im Streben nach einem durch Expansion vergrößerten Einheitsstaat, im Ziel, „das russländische Imperium mit dem russischen proto-Nationalstaat zu fusionieren“ (S. 472). Beständig blieb auch das allem zugrunde liegende Untertanenkonzept, welches aus der Frühzeit des Moskauer Großfürstentums stammte und auf die Vorstellung herrscherlicher Gnade zugespitzt war: Durch Gnade einseitig gewährte und durch Treueeid angenommene Untertanenschaft machte alle Untertanen gegenüber dem Zaren gleich, stellte dabei keinen Vertrag mit beidseits verbrieften Rechten dar. Beides ermöglichte Vulpius zufolge praktisch eine interessengerechte Ausgestaltung und notfalls Durchsetzung, begründete fundamental die in der Forschungsliteratur bereits angeführte Flexibilität. Kontinuität bestand schließlich in der Zivilisierungsabsicht an sich und ihren Rechtfertigungen von Interventionen und Transformationen.

Wandel hingegen zeigte sich in den Reichweiten des Ansinnens: Über Peters I. Konzept von christlicher Bekehrung und Bildung zur Zivilisation hinaus gingen im Anschluss Vorstellungen bis zur Assimilierung und Verschmelzung mit der russischen Bevölkerung und eine wiederum eher nur auf administrative Aspekte bezogene Akkulturierung unter Katharina II. Verbunden damit verwandelte sich nach Vulpius auch, und erneut angestoßen durch Peter I., „das bislang Denk- und Sagbare“ (S. 505): War es am Ende der 1730er-Jahre der Provinzkommandant Smejew, der Assimilierung vorschlug, so wurde unter Katharina II. die Bildungsmission von der religiösen abgekoppelt, als Konsequenz aber auch die Zielvorstellung des Einheitsstaats zugunsten des Imperiums hintangestellt.

Der Aufbau des Buches unterstreicht die Argumentation. Kapitel 2 und 3 behandeln Konzept und Realisierung der Untertanenschaft und die – nur auf Nicht-Christen angewandte – Geiselhaltung als grundlegende imperiale und koloniale Machtmittel. Mit letzterer zeigt Vulpius, wie westliche Aufklärungsideen etwa von der Verwirklichung des Individuums nicht übernommen, sondern vielmehr vom hiesigen Konzept der kollektiven Verantwortung (poruka) überlagert wurden. Indessen kehrten Narrative der Aufklärung ein, als die Geisel – lange als Pfand nur weggesperrt – als aktiver Zivilisationsmultiplikator entdeckt wurde. Um die phasenweise koloniale Herrschaft des Imperiums systematisch nachzuweisen, prüft Ricarda Vulpius im folgenden Kapitel 4 nach einer Eruierung des Begriffs die einschlägigen Felder von Herrschaftsausübung auf den Einsatz des Zivilisierungsdiskurses. Für das Territorium als erstes Feld sind es die seit Peter I. forciert ausgebauten Festungslinien, die nicht nur handfeste imperiale Zwecke erfüllten, sondern auch neue Raumvorstellungen nährten, während sie traditionelle Weidegründe durchschnitten. Die weiteren Felder sind die Religion, Eingriffe in die Lebenswelten und Wirtschaftsformen, Transformation indigener Herrschafts- und Rechtsinstitutionen, Maßnahmen zur Loyalitätsbildung.

Auch wenn durch die Struktur der Darstellung die Prozesse klar und aufeinander abgestimmt erscheinen mögen, sie waren es – auch gemäß der Analyse – nicht. Auch auf Seiten der russländischen Akteure war die „Geburt“ des Imperiums mit Schmerzen verbunden, die in Fehlschlägen, Kursstreitigkeiten und Enttäuschungen bestanden. Frustration führte zur Aufgabe paternalistischer Reformbestrebungen zugunsten von Zermürbungsstrategien, zu im Ansatz rassistischen Zuschreibungen. Vulpius zeigt, wie mächtig sich Zivilisierungsdiskurse auswirken konnten: wie Zivilisiertheit als Mittel eingesetzt wurde, um Grenzen zu befrieden und – im Sinn von frontier – nach vorn zu verschieben; wie koloniale, mithin auf Eigeninteressen ausgerichtete Bestrebungen in der Verkleidung aufklärerischer Narrative auftraten. Aufklärung, dies macht Vulpius einmal mehr deutlich, war nie monolithisch oder an sich „unschuldig“. Wie sie rezipiert und pro oder contra koloniale Strukturen eingebracht wurde, hing vom Akteur ab.

Vulpius’ Darstellung überzeugt durch die Beherrschung des Forschungsstands, durch die Verarbeitung einer enormen Materialmenge und durch den Einbezug zentraler Theorien und methodischer Ansätze. Besonders auf dem Gebiet der Begriffsgeschichte führt die Arbeit vorhandene Grundlagenforschung zusammen und erweitert diese durch neue eigene Belege und Akzente. Ein – von Vulpius selbst als Möglichkeit angedeuteter – Vorwurf der mangelnden Multiperspektivität, dazu der Beleuchtung nur der hegemonialen Perspektive in einem asymmetrischen Verhältnis, könnte so nicht gelten: Denn die Fragen ihrer Arbeit – nicht nur, mit welchen Konzepten und Praktiken, sondern letztlich auch welchen tradierten Denkfiguren, Ausblendungsstrategien und Selbstüberschätzungen das Imperium aufgebaut wurde – sind augenfällig relevant und für viele anschließende Forschungsbereiche wichtig.

Allerdings ist eine in solcher Weise groß angelegte und zugleich auf eine These – das Zivilisierungsparadigma – ausgerichtete Analyse auch mit besonderen Herausforderungen in der Synthese verbunden, die die Geschichte manchmal zu schlüssig und auf einseitige agency im Licht eines großen Konzepts fokussiert erscheinen lassen. So treten zum einen die angesprochenen Bevölkerungsgruppen mitunter tatsächlich nur als leicht durchschaubare Objekte in einer asymmetrischen Interaktion auf. Ihre von Vulpius erwähnten Quellen (Bittschriften, Briefwechsel) werden nicht eigenständig ausgewertet, auch nicht im Sinne einer „‚Mitschrift‘“ durch die Kolonisierer. Zum anderen scheint gerade die Bezugnahme auf die Begriffsgeschichte mitunter zu rigoros die Perspektive auf eine Handlungsführerschaft „von oben“ zu lenken. Denn in den Ausführungen etwa zum Gnadenkonzept kommen die sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungsergebnisse nicht entsprechend zur Geltung, die zumal für das 17. Jahrhundert viel mehr – und durchaus auch nicht „verbriefte“ – Gegenseitigkeit in der Ordnung des Zarenreiches herausstellen.1

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Verwendung ausschließlich publizierter Quellen, vielfach in Editionen, auch für die Untersuchung der Praktiken und politischen Umsetzungen. Zum einen haben Paul Bushkovitch und andere Forscher die Unzuverlässigkeit der Editionen des 19. Jahrhunderts im Abgleich mit den Original-Archivquellen (hier Diplomatenberichten) nachgewiesen. Für Quellen höchst sensiblen Inhalts wie der Staats- und Imperienbildung, veröffentlicht in Editionen dafür höchst sensibler Epochen Russlands bzw. der Sowjetunion (19. Jahrhundert und 1930er- bis 1970er-Jahre), hätte der Wert der Editionen problematisiert werden müssen, wenn er angesichts der Menge verständlicherweise nicht überprüft werden konnte. Zum anderen konstruiert jede Auswahl in einer Edition schon ein Narrativ. Natürlich trifft dies prinzipiell auch auf Archivbestände zu, und das Problem wird durch die Materialfülle in der Arbeit in gewissem Maße ausgeglichen. Gerade aber für eine Arbeit, deren These so stark auf dem „Sagbaren“ beruht, wäre es notwendig gewesen, zumindest für einen Fall ein eigenes Bild von den Quellen in ihrem Bestandskontext zu gewinnen. Wie prominent wird zum Beispiel militärische Stärke oder Schwäche im Umfeld der Zivilisierungsdiskurse angesprochen, für die in der Arbeit durchscheint, dass letztlich sie besonders ausschlaggebend für getroffene politische Maßnahmen war?

Mit ihrem überaus kenntnisreich und umfänglich untermauerten Argument der durch Peter I. initiierten Zivilisierungsmission als „Geburtshelferin“ des russländischen Imperiums gehört diese Monographie zu den starken Interpretationen einer der Grundfragen dieser Epoche. An ihrer Lektüre, spannend durch zahlreiche Fälle, kommt man für das 18. Jahrhundert nicht vorbei.

Anmerkung:
1 Vgl. Heinz-Dietrich Löwe, Aufstände im Russischen Reich von Alt-Moskau bis zum Beginn Sowjetrußlands. Aspekte einer vergleichenden Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Volksaufstände in Rußland von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006, S. 1–26, hier S. 4–18.

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