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Titel
Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit


Autor(en)
Leßau, Hanne
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
526 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Rauch, Institute of Advanced Studies, University College London

Die frühe Nachkriegszeit ab 1945 rückt seit einigen Jahren wieder vermehrt ins Blickfeld. In dieser historischen Phase füllten mindestens 16 Millionen Deutsche im Rahmen der Entnazifizierung einen Fragebogen aus, davon 13 Millionen in den amerikanisch besetzten Gebieten (S. 78f.). Hanne Leßaus an der Ruhr-Universität Bochum entstandene Dissertation analysiert die Entnazifizierung als Auseinandersetzung von Deutschen nicht nur mit den Behörden, sondern auch mit der eigenen Vergangenheit. Die Autorin leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Nachkriegsgeschichte und des Umgangs mit dem Nationalsozialismus.

Die Deutungen ihrer Vergangenheit, die Deutsche in dieser Zeit entwarfen, hätten sowohl im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges als auch darüber hinaus „das Sprechen über das eigene Leben während des Nationalsozialismus“ (S. 13) in der Öffentlichkeit und ebenso im Privaten geprägt. Mit einem erfahrungsgeschichtlichen Zugang fragt Leßau danach, wie sich Deutsche auf ihre Entnazifizierung vorbereiteten, welche Gespräche und auch Auseinandersetzungen sie mit Bekannten oder Verwandten führten und welche Auswirkungen das Verfahren und das jeweilige Ergebnis auf sie hatten. Anhand des Beispiels Nordrhein-Westfalen konzentriert sich Leßau auf die bislang untererforschte britische Besatzungszone. Dazu dient ihr eine Zufallsstichprobe von 800 Fällen aus unterschiedlichen Berufsgruppen und sozioökonomischen Schichten. Anhand von Fallakten, Tagebüchern, Notizzetteln, Briefen und Zeitungsartikeln wird erörtert, wie sich Deutsche durch die Praxis der Entnazifizierung vom Nationalsozialismus distanzierten.

Nach dem einführenden Überblick umreißt das zweite Kapitel die Entwicklung des Fragebogens und bietet eine nützliche Synthese der Forschung auf diesem Gebiet. Leßau legt eindrücklich dar, wie sich die Erwartungshorizonte der Befragten unterschieden. Das Ausfüllen des Fragebogens war dabei keineswegs nur eine lästige Pflichtübung. Das Verfahren war aufwendig, und die Befragten mussten sich bei ihren Recherchen aktiv mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen. So erfolgte auch eine Deutung der eigenen Rolle im Nationalsozialismus (S. 94). Der Autorin geht es explizit nicht um den „Nachweis objektiver Falschaussagen“, sondern um die „subjektive Wahrhaftigkeit der Entnazifizierungsgeschichten“ (S. 34). Sie stellt aber heraus, dass gezielte Falschauskünfte kein Massenphänomen gewesen seien. Nicht zuletzt wussten Befragte nicht, inwieweit ihre Angaben automatisch überprüft würden, und Zeitungsberichte über die Ahndung von Falschaussagen hatten vermutlich eine abschreckende Wirkung (S. 106–108). Viele der Befragten gaben sich Mühe, belastende Angaben zu erklären. Aber sie mussten auch selbst an ihre Ausführungen glauben können (S. 118f.). Leßau stuft den „subjektiven“ Wahrheitsgehalt daher als hoch ein.

Das dritte Kapitel zielt auf eine „Neubewertung“ (S. 123) insbesondere der Entlastungsbescheinigungen ab. Die meisten Leumundszeugnisse wurden von Personen im Bekannten- und Freundeskreis ausgestellt, oder von KollegInnen; nur ein kleiner Teil dagegen von Institutionen, ehemaligen Verfolgten oder gar seriellen EntlastungsschreiberInnen. Leßau zeigt, dass die historische Bewertung der sogenannten „Persilscheine“ oft auf Spekulation und dem Generalisieren von Einzelbeispielen basiert (S. 140). Die Bitte um ein Entlastungsschreiben war vielen zu überprüfenden Personen unangenehm und führte nicht in allen Fällen zum Ziel. Die zu Überprüfenden konnten die AdressatInnen nicht immer von ihrer Sicht auf die eigene NS-Vergangenheit überzeugen. Leßau betont, dass die Zeugnisse gemeinsam ausgehandelte Verfertigungen waren, deren „Erzählprinzipien“ (S. 180) vor allem auf der Darstellung einzelner Ereignisse beruhten. Die Episoden galten entweder als exemplarisch – als Ausdruck von Charaktereigenschaften –, oder sie standen im Zusammenhang einer breiteren Darstellung, wie sich der oder die zu Überprüfende zum Nationalsozialismus verhalten habe.

Im vierten Kapitel arbeitet Leßau die Bedeutung des biografischen Erzählens für die Distanzierung vom Nationalsozialismus heraus. Ein besonderes Merkmal war die Unterscheidung zwischen äußeren Beweggründen und innerer Haltung. Gestützt auf Moritz Föllmers Forschungen zu Individualität und Moderne argumentiert Leßau, dass die von den Alliierten und von deutschen Widerstandszirkeln vertretene Deutung des Nationalsozialismus als kollektivistisch und antiindividualistisch auch durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft aufgegriffen wurde. So lasse sich die Betonung individueller, innerer Integrität in den Entnazifizierungsgeschichten erklären. Indessen zeige das Themenspektrum „eine spezifische historische Erfahrung“ in den Jahren 1933–1945 (S. 234). Die Hauptthemenbereiche waren Äußerungen von Kritik, Konflikte mit der Partei oder deren Funktionären und die Weigerung, das eigene Leben an den Nationalsozialismus anzupassen (S. 235). Leßau nimmt an, dass es sich mitunter um Schutzbehauptungen handelte, die aber auf tatsächlich gemachten Erfahrungen in den 1930er-Jahren beruhten und einen „starken Wirklichkeitsbezug“ besaßen (S. 251). In der Nachkriegszeit wurden jene „Uneindeutigkeiten“, die die eigene Zuordnung zum NS-Regime erst ermöglicht hatten, zu grundsätzlicher Distanz uminterpretiert (S. 252). Abgesehen von den Novemberpogromen 1938 oder dem Boykott jüdischer Geschäfte fanden die NS-Verbrechen und auch die Kriegsjahre dagegen kaum Erwähnung. Neben den strategischen Gründen lag dies laut Leßau unter anderem daran, dass die Gewalt in den 1940er-Jahren keine direkte Positionierung der Deutschen zum Nationalsozialismus gefordert habe. Dem könnte man durchaus widersprechen. Millionen wurden Zeugen von Gewalt oder waren selbst daran beteiligt, nahmen sie aber nicht immer als Unrecht wahr. Es liegt nahe, dass sich zu Überprüfende nach 1945 vor allem nicht selbst belasten wollten. Die Entpolitisierung der Kriegsjahre in den Nachkriegsgeschichten würde ebenso eine genauere Untersuchung verdienen.

Leßau zeigt im fünften Kapitel, wie das Verfahren in der britischen Zone, das nicht auf einem zentralen Rechtstext basierte, der Logik von Verwaltungsvorgängen folgte und bis Ende 1947 nicht öffentlich einsehbar war, sich auf die zu Überprüfenden auswirkte. Zwar sei das Verfahren weitaus ambitionierter gewesen als gemeinhin anerkannt wird, aber es mangelte an einheitlichen Richtlinien, an Effizienz und Gleichbehandlung. Die zu Überprüfenden versuchten daher, sich auf informellen Wegen Informationen zu beschaffen, die aber fragmentarisch und unverbindlich blieben. Für die insgesamt milde Entscheidungspraxis sei ausschlaggebend gewesen, dass auch die Ausschussmitglieder in ihrer Bewertung zwischen formalen, äußeren Kriterien und innerer Haltung trennten. In den Berufungsverfahren kamen erstmals juristische Prinzipien zum Einsatz, oftmals zu Gunsten der zu Überprüfenden, die nun auch wussten, was ihnen vorgeworfen wurde, und einen Rechtsbeistand hinzuziehen konnten. Die Überprüfung und Entnazifizierung aufgrund formaler Belastung trat so in den Hintergrund. Die Selbstdarstellungen der zu Überprüfenden änderten sich dadurch auch. Sie ähnelten nun den Schreiben in der amerikanischen Zone, wo das Verfahren von Anfang an juristisch geprägt war. Aber auch in den Berufungsverfahren betonten die zu Überprüfenden Individualität und Distanz zum „kollektivistischen Zwangssystem“ des Nationalsozialismus (S. 391). Bei den Darstellungen handelte es sich um „zugleich rechtliche als auch biografische Deutungen“ (S. 397).

Im sechsten Kapitel argumentiert die Autorin, dass die „Entnazifizierungsgeschichten“ nach dem offiziellen Ende der Entnazifizierung eine fortdauernde Wirkung hatten. Anhand der Berichte einer Feldstudie des Instituts für Sozialforschung aus den 1950er-Jahren konstatiert sie eine nachhaltige Prägung der Überprüften durch die Entnazifizierungsgeschichten, insbesondere die Distanzierung vom Nationalsozialismus. Leßau zufolge handelte es sich weder um eine rein verbale Abgrenzung vom Nationalsozialismus, noch änderten sich die Einstellungen der Überprüften. Vielmehr habe eine Umdeutung der eigenen Vergangenheit stattgefunden, die Kontinuität ermöglichte (S. 457). Allerdings werden hier im Vergleich zu den Interpretationen der vorangehenden Kapitel weder die Studie und ihre ProtagonistInnen noch die 1950er-Jahre hinreichend kontextualisiert. So bleiben die Fragehorizonte und die gemeinsame Verfertigung von Interviews weitgehend außen vor. Dieser Teil des Buches ist insofern weniger systematisch und fundiert. Leßaus zentrales Argument, dass die Entnazifizierungsgeschichten „langfristig zur Distanzierung zahlreicher Deutscher vom Nationalsozialismus“ beitrugen (S. 457), klingt zwar schlüssig, bedarf aber weiterer Studien, die sich speziell diesem Thema widmen und sich auf eine breitere Quellenbasis stützen.

Die anschauliche Diskussion einer Erinnerungsschrift aus den 1960er-Jahren, verfasst von einem Mann, dessen Entnazifizierungsgeschichte Leßau zuvor behandelt hat, lässt offen, warum nicht zumindest punktuell auch Akten aus der NS-Zeit einbezogen wurden. Leßau plädiert dafür, Entnazifizierungsgeschichten als Ego-Dokumente ernstzunehmen und sie nicht nur auf historischen Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Allerdings wäre der Rückbezug zur NS-Geschichte zumindest hier von Interesse: Die Abkehr vom Nationalsozialismus und der Übergang zur Demokratie lassen sich besser einordnen, wenn man auch das Verhalten einer Person während der NS-Zeit betrachtet. Gerade im Gebiet des neuen Landes Nordrhein-Westfalen waren die Entnazifizierungsverfahren außerdem nicht der erste Kontakt mit der alliierten Besatzung, die bereits ab Herbst 1944 ins Rheinland eingerückt war und Tausende von Deutschen noch vor Kriegsende verhört hatte. Eine Einordnung der Entnazifizierung in diesen breiteren Kontext steht noch aus. Des Weiteren wäre es interessant gewesen, herauszuarbeiten, inwieweit sich öffentliche Diskussionen, etwa im Zuge der Nürnberger Prozesse oder der Berichterstattungen zur Entnazifizierung in der amerikanischen Besatzungszone, in der Kommunikation und den Eingaben widerspiegeln.

Leßaus These, dass der Entnazifizierungsprozess zur Distanzierung vom Nationalsozialismus beigetragen habe, ist überzeugend und gibt der Forschung wichtige Impulse, lässt sie doch die Nachkriegszeit und die „Umerziehung“ der Deutschen in einem neuen Licht erscheinen, jenseits der bloßen Frage nach „Scheitern“ oder „Erfolg“. Die Rahmung der Entnazifizierungsvorgänge als Kommunikationsprozesse gibt Einblicke in ein Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte, das vielen schon als ausgeforscht galt. Leßau zeigt, wie sich das gegenwärtige Interesse an Erfahrungswelten, Handlungsspielräumen und Erzählmustern auch produktiv auf die frühe Nachkriegszeit anwenden lässt. Künftige Studien zu den anderen Besatzungszonen, zu regionalen Unterschieden und zu Österreich werden diese Impulse hoffentlich aufgreifen.

Als Mittel zur Personalsäuberung, die verhindern sollte, dass ehemalige Parteimitglieder und FunktionärInnen den Aufbau der deutschen Nachkriegsgesellschaft mitgestalten konnten, ist die Entnazifizierung gewiss gescheitert – dabei bleibt es. Aber Hanne Leßau zeigt in ihrer gründlichen Studie, dass die Entnazifizierung de facto als Mittel der Auseinandersetzung und „Umerziehung“ wirkte, die es Millionen von Deutschen ermöglichte, ihr Leben vor 1945 nach dem Ende des Krieges an die Demokratie anzuschließen. Bis heute prägt „die diskursive Umwertung der Beziehung zwischen Einzelnem und NS-Regime, die am Ende des Krieges eingesetzt hatte“ (S. 480), die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.