A. Müller: If the Walls Could Speak

Titel
If the Walls Could Speak. Inside a Women's Prison in Communist Poland


Autor(en)
Müller, Anna
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
$ 74.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, German Historical Institute Warsaw

Anna Müller analysiert in If the Walls Could Speak die Erfahrungen weiblicher politischer Häftlinge in polnischen Gefängnissen zwischen 1947 und 1953. Im Zentrum des Buches steht die Frage, wie Frauen, die zuvor gegen die nationalsozialistische Herrschaft in Polen gekämpft hatten, auf die Strafverfolgung durch kommunistische Herrscher reagierten. Die Antwort der Autorin lautet: indem sie Haltung zeigten. Müller versteht das Gefängnis als sozialen Raum, in dem die Gefangenen gezielter psychischer und physischer Gewalt vonseiten des Staates ausgesetzt waren. Sie konnten innerhalb der engen Grenzen ihrer Zelle, durch das Einnehmen geistiger und körperlicher Haltung der Gewalt aus eigenem Antrieb etwas entgegensetzen, was einem Teil von ihnen half, die Verfolgung zu überstehen.

Anna Müller legt mit dem Buch einen wichtigen Beitrag zur polnischen Nachkriegsgeschichte vor. Die Autorin analysiert die Erfahrungen ehemaliger Widerstandskämpferinnen, die nach 1945 kommunistischen Repressionen ausgesetzt waren. Ein großer Teil von ihnen hatte sich zuvor unter deutscher Besatzung im Untergrund für den Erhalt des polnischen Staats eingesetzt. Andere inhaftierte Frauen hatten während des Zweiten Weltkriegs auf der Seite der Sowjetunion oder in den Reihen der Ukrainischen Aufstandsarmee gekämpft. Im Zuge der gewaltsamen Durchsetzung des Machtmonopols der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei wurden sie zu Feinden der Volksrepublik Polen erklärt. Die Stalinisierung des polnischen Justizwesens kam in den hohen Haftstrafen gegen Frauen aus ganz unterschiedlichen politischen Milieus zum Ausdruck. Müller ergänzt die bisher männlich dominierte Geschichte politischer Gefangenschaft um die Perspektive der betroffenen Frauen. Statt ihr Überleben im Gefängnis als lineare Erzählung des Widerstands zu konzipieren, analysiert Müller die Erfahrung des Strafvollzugs als offenen, widersprüchlichen Prozess, der die Frauen selbst grundlegend veränderte und von ihnen oft erst im Rückblick als sinnhaft gedeutet wurde.

Der methodische Zugriff verbindet die Analyse des „Archivs der Repression“, welches in den Akten des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit sowie des Justizapparats abgebildet ist, mit einer vertieften Lektüre nachträglich verfasster Selbstzeugnisse der Frauen. Hinzu treten von Müller selbst durchgeführte offene lebensgeschichtliche Interviews. Die Autorin reflektiert, dass diese 2007 geführten Gespräche einen Raum darstellten, in dem die Frauen ihre Verhaftung, den Gefängnisalltag und das Leben nach der Entlassung selbst zu einer Erzählung zusammenfügten, in der sie oft zum ersten Mal Zeugnis von ihren Erfahrungen ablegten.

Nach der Einleitung folgt ein Kapitel zur Kontextualisierung der Nachkriegsverhaftungen. Die mit Abstand größte Gruppe politischer Gefangener waren Frauen, die zuvor in der Heimatarmee gekämpft hatten. Schätzungen zufolge waren 50.000 von 350.000 Mitgliedern der im Untergrund tätigen Heimatarmee Frauen. 1943 wurden Frauen formell gleichgestellt. Mit den Männern teilten viele Kämpferinnen zudem das Schicksal der Verfolgung nach Kriegsende durch den kommunistischen Justizapparat. Im Januar 1945 löste die Exilregierung in London die Heimatarmee offiziell auf. Über 15.000 Angehörige der Armia Krajowa entschieden sich, dem Befehl aus London nicht zu folgen und weiter zu kämpfen. Es war aber keine Vorraussetzung, aktiv weiter im Untergrund tätig zu sein, um in den 1940er-Jahren in den Fokus der kommunistischen Justiz zu geraten. So wurden auch entfernte Angehörige von Netzwerken der Heimatarmee verfolgt, die nicht mehr aktiv waren.

Nach einem Kapitel über das Verhör als mehrfach asymmetrisches Gespräch zeigt Müller, wie die inhaftierten Frauen in der Zelle lernten, die Kontrolle über den eigenen Körper unter den Bedingungen der Einsperrung aufrecht zu erhalten. Ein weiteres Kapitel ist dem sozialen Innenleben einer Zelle gewidmet. Einerseits zeichne sich in der Zelle ein Zerrbild der Wirklichkeit außerhalb des Gefängnisses ab, andererseits sei sie ein geschlossener Raum, der eine neue Art von Beziehung erst ermögliche. Das demonstriert Anna Müller im folgenden Kapitel über Gefängnis-Beziehungen anhand einer Zelle, in der gleichzeitig Frauen saßen, die als Kommunistinnen, Kämpferinnen der Heimatarmee sowie Angehörige der Ukrainischen Aufstandsarmee verfolgt wurden. Sie entwickelten eine Form der stillen Solidarität, die jenseits des Gefängnisses nicht denkbar gewesen wäre. Außerdem sei selbst im Hochstalinismus „Liebe durch die Wand“ zwischen weiblichen und männlichen Gefangenen möglich gewesen. Der Austausch von Klopfzeichen sei nicht nur eine Gelegenheit gewesen, sich über den Alltag in Gefangenschaft auszutauschen, sondern sich auch das eigene Leben neu zu erzählen.

Im letzten Kapitel fragt die Autorin, wie die Frauen mit der Eintönigkeit des Gefängnisalltags umgingen. Dazu gehörten informelle Praktiken der Strukturierung von Zeit, die den monotonen Tagesrhythmus in größere temporäre Strukturen einbetteten. Es ist überraschend, dass erst in diesem Zusammenhang und just im Kapitel zur Bekämpfung von Langeweile die Bedeutung von Religion behandelt wird, aber Müller erklärt, dass Religiosität für die Verarbeitung des Erlebten bei den meisten der von ihr Interviewten keine übergeordnete Rolle gespielt habe.

Im abschließenden Kapitel unterstreicht Anna Müller, dass die Quintessenz der Einsperrung für die Frauen nicht im Leiden lag, sondern in ihren vielfältigen Versuchen, der Verfolgung mit ihren Körpern etwas entgegenzusetzen, was sie als "Haltung wahren" verstanden. In ihrer abschließenden Analyse benennt die Autorin den Kern der Erfahrung der von ihr interviewten Frauen als Notwendigkeit patriotischer Polinnen, nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus und nach ihrer folgenden Verurteilung im Strafvollzug erneut eine aktive Haltung zur kommunistischen Herrschaft in Polen einnehmen zu müssen. Dabei zeigt sie, dass die Einstellungen der Inhaftierten eine sehr große Bandbreite aufwiesen: von der vollständigen Ablehnung des neuen Regimes bis hin zur Bereitschaft, sich nach der Entlassung am Wiederaufbau des Landes aktiv zu beteiligen und dafür die neue Ordnung anzuerkennen.

Gewöhnliche Kriminelle passen nicht in das von Müller skizzierte Schema, auch geraten relativ wenige Fälle von Frauen in ihren Fokus, die gänzlich gebrochen aus der Haft kamen. Wahrscheinlich gehörten kriminelle Eingesperrte potenziell eher zu denjenigen, die kein Zeugnis ihrer Hafterfahrung ablegten. Der enge Fokus auf Frauen in den Gefängnissen der späten 1940er-Jahren birgt darüber hinaus eine weitere Einschränkung der Aussagekraft: Erst ein Vergleich mit der Alltagspraxis des Strafvollzugs vor 1939 und nach 1956 würde es ermöglichen, die Spezifika der Erfahrung im Spätstalinismus noch genauer zu benennen. So erarbeitet Anna Müller in ihrer Studie weit mehr überzeitliche Phänomene heraus, als die Anlage des Buches vermuten ließe: die Formen der Kommunikation innerhalb des Gefängnisses, die Versuche, eine Tagesstruktur aufrecht zu erhalten, und die unterschiedlichen Funktionen der Körperlichkeit inhaftierter Frauen. Im Angesicht alltäglicher Gewalt im eng umrissenen Raum der Zelle ermöglichten gerade die Körper als physisches Medium in einem gewissen Rahmen Verhandlungen mit den Aufseherinnen. Soziale Praktiken der Selbstbehauptung wie Selbstverstümmelungen, Hungerstreik und Selbstmord sowie Praktiken der Solidarisierung unter den Gefangenen waren allesamt Phänomene, die sich auch schon unter den politischen Gefangenen in der Polnischen Republik in den 1930er-Jahre beobachten ließen. Daraus resultiert für zukünftige Überblicksdarstellungen die Frage nach der Kontinuität über die Zeit der deutschen Besatzung hinweg.

Das besondere Verdienst Müllers liegt demnach nicht so sehr in der Darstellung des Strafvollzugs selbst, sondern im fokussierten Blick auf die Binnenwelten derjenigen Polinnen, die als Frauen im heutigen geschichtspolitischen Pantheon der polnischen Regierung weitgehend ausgeblendet werden. Diese Welt ist komplex, in ihr kommen nicht nur national-konservative oder rechts-radikale Akteure vor, sondern auch verfolgte Kommunistinnen und ehemalige Angehörige der ukrainischen Aufstandsarmee, die zur selben Zeit inhaftiert waren. Diese Öffnung des Blicks und die Auslassung jeglicher nachträglichen Heroisierung ihres Leidens macht das Buch auch zu einer wichtigen Grundlage, um diejenigen Opfer kommunistischer Verfolgung besser einordnen zu können, die in den vergangenen Jahren vom polnischen Staat als „Verfehmte Soldaten“ in das nationale Pantheon gehoben wurden. Anna Müller zeigt, dass langjährige Forschung nach einem anderen Prinzip funktioniert als Geschichtspolitik auf Knopfdruck. Somit bietet das Buch vielschichtige Zugänge zu den Lebensgeschichten polnischer Frauen, die mehrfach Opfer staatlicher Verfolgung geworden sind, aber ihre Haltung bewahrt hatten. Viele der Interviews hatte Müller schon 2007 geführt. Die meisten der Zeitzeuginnen waren zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres Buches 2018 bereits verstorben.

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