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Titel
Die Krieger der Karolinger. Kriegsdienste als Prozesse gemeinschaftlicher Organisation um 800


Autor(en)
Haack, Christoph
Reihe
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 115
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 273 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Brigitte Kasten, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Die in Tübingen entstandene Dissertation ordnet sich in die derzeitige Revision der wissenschaftsgeschichtlichen Modelle über Art, Umfang und Bedeutung des Lehnswesens für das frühmittelalterliche Gemeinwesen der Karolinger ein, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen (768–840). Sie greift dabei die militärgeschichtliche Komponente der Thesenbildungen heraus, die bisher in der Tat noch nicht in die aktuelle Diskussion aufgenommen wurde, obgleich die Konstruktion des Lehnswesens ihren Ursprung in der Rekonstruktion der Militärorganisation des fränkischen Heeres hat. Insofern schließt die vorliegende Untersuchung eine Forschungslücke.

Inhalt des ersten Teils der außerordentlich stringent gegliederten Arbeit ist die in flottem Stil geschriebene, in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende Literaturübersicht zu den Themen (1) Lehnswesen, (2) Wehrpflicht der Freien (Volksheer) und (3) „warband“/Privatarmee/Gefolgschaft (Beutekrieg), drei geschichtswissenschaftliche Modelle, die – wie Christoph Haack zurecht feststellt – kaum in den gegenseitigen Diskurs eingetreten sind. Als Themenstellung für die vorliegende Studie wird daraus abgeleitet, dass die Frage einer erneuten Untersuchung bedarf, ob es sich bei den karolingischen Heeren um das Massenaufgebot einer Volksmiliz oder um eine kleine Gefolgschaft hochspezialisierter Reiterkrieger, das heißt um eine Art Berufskrieger, handelte. Darin eine Dichotomie oder einen Antagonismus zu sehen, lehnt Christoph Haack ab. Es seien vielmehr zwei unterschiedliche Perspektiven auf ein und denselben historischen Gegenstand. Dieser sei eingebettet in kontroverse Vorstellungen der Forschung über den öffentlichen oder den privaten Charakter der karolingischen Herrschaftsstrukturen. In der Einleitung formuliert Haack – meines Erachtens etwas zu pauschal – mit der gedanklich-methodischen Zusammenführung der drei genannten Modelle eine „grundlegende Neudeutung der politischen und sozialen Geschichte der Karolingerzeit“ (S. 9) vorzunehmen. Die Neudeutung kann sich jedoch gemäß dem gewählten zeitlichen Schwerpunkt primär nur auf die sogenannte hochkarolingische Zeit zwischen gerundet 800 und 830 beziehen, auch wenn gelegentliche Quellenzeugnisse aus den davor und danach liegenden Zeiten herangezogen werden. Spätere Entwicklungen in den drei Nachfolgereichen Ost- und Westfrankenreich sowie Reichsitalien werden fast gar nicht in die Darstellung einbezogen, damit auch nicht die Frage einer Hierarchisierung unter den Vasallen (Stichwort: Aftervasallen) oder einer Mehrfachvasallität, die beide zu einer sekundären bzw. mit dem Herkommen konkurrierenden Befehlsstruktur in den Heeren geführt haben könnten, oder der Praxis einer Vererblichkeit von Leihegütern.

Der zweite Teil der Arbeit beinhaltet die Dekonstruktion der drei Modelle durch Überprüfung anhand von Quellen. Christoph Haack knüpft hierbei an die neueren Erkenntnisse zu der für seine Fragestellung äußerst wichtigen Quellengruppe der Kapitularien (Haack: Kapitellisten) an, deren in Bearbeitung befindliche Neuedition längst vor geplantem Abschluss des Langzeitprojektes zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt hat.1 Seine Forschung trägt zu diesen neuen Erkenntnissen über die Kapitularien im Bereich der Militärgeschichte bei. Seine systematische Durchsicht der Kapitularien aus der Regierungszeit Karls des Großen (768–814) und Ludwigs des Frommen (814–840) bestätigt, dass dort das Lehnswesen gemäß der Definition von Heinrich Mitteis, wonach das dingliche Element des Lehns mit dem personalen Element des Vasallenstatus untrennbar miteinander verbunden sein muss, nicht erkennbar ist. In nur sieben Kapiteln der rund 200 edierten Kapitularien werden Leihegüter (beneficia) und Vasallen zusammen erwähnt. Vasallen standen dem sozialen Rang nach unter den hohen Amtsträgern, wurden jedoch wie diese multifunktional durch den König eingesetzt. Sie waren nicht auf den Kriegsdienst beschränkt, mithin also keine Berufskrieger. Zur Dekonstruktion der Annahme einer allgemeinen Heerespflicht der Freien (liberi homines) trägt die spezifische Untersuchung der Kapitularien insofern bei, als zwar eine „öffentliche, überpersonale Verpflichtung der vollberechtigten Mitglieder des politischen Verbandes“ (S. 94) zu erkennen ist, charakterisiert durch das Nichtvorhandensein einer persönlichen Bindung und einer freiwillig erbrachten Leistung, wodurch jedoch nicht das ganze militärische Aufgebot erfasst werde. Man müsse die Heerespflicht-Theorie mit der „warlord“-/Gefolgschaft-Theorie verbinden. Auch die letztgenannte kann für sich allein genommen die Organisation der fränkischen Heere um 800 nicht erklären. Beute als Ziel von militärischen Aktionen sei, wenn überhaupt, dann lediglich dreimal in den Kapitularien nachweisbar. Weil Christoph Haack die drei Modelle der mediävistischen Forschung für überholt hält, präferiert er für den weiteren Gang seiner Untersuchung das durch die Alte Geschichte entwickelte Modell der Patron-Klient-Beziehung, die der mittellateinischen Begrifflichkeit der senior-homo-Beziehung am nächsten komme.

Der dritte Teil versteht sich als Konstruktion einer neuen Sichtweise auf das karolingische Militärwesen unter Einbeziehung der politischen Rahmenbedingungen und umfasst an Seitenzahl die Hälfte des Gesamtumfangs der Studie. In vier Schritten wird das militärhistorische Thema quellennah angegangen. Zunächst wird quellengestützt auf die Kapitularien ausgeführt, wie die Zuordnung von Personen als senior (Patron) und als homo (Klient) zwar stets in einer „persönlichen Nahbeziehung“ (S. 121), also als „face-to-face-Verhältnis“ (S. 121), doch immer in vielfältigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kirchlichen und eben auch militärischen Konkretisierungen stattfinden konnte. Es sei eine hierarchische Beziehung in großer Formenvielfalt. Diese lässt sich also nicht auf lehnsrechtliche personale Bindungen einschränken, womit die Übersetzung von senior als Lehnsherr und homo als Lehnsmann ohne nähere Prüfung des historischen Kontextes obsolet wird. Dann wird am Beispiel der Briefe Einhards, des Biographen Karls des Großen und Getreuen Ludwigs des Frommen sowie Laienabts von St. Bavo in Gent, ferner Gründers des Klosters Seligenstadt, erläutert, wie sich das Beziehungsgeflecht eines karolingischen senior zu Höhergestellten, zu Gleichrangigen und zu seinen Untergebenen (Klientel) gestaltete. Aufgrund seiner Vielschichtigkeit sei das „soziale Patronagenetz Einhards […] nicht von dem militärischen zu trennen“ (S. 135). Des Weiteren werden wirtschaftsgeschichtliche Quellen der klösterlichen Grundherrschaft herangezogen. Die Verpflichtung der Äbte und Äbtissinnen, einen Beitrag zum Kriegsdienst zu leisten, spiegelt sich nicht nur in Einhards Briefen, sondern vor allem auch in Urbaren oder Polyptycha wider. Diese Aufzeichnungen von Kirchenbesitz mit Abgabenlasten, Dienstleistungen und Personenbestand verwandten die Bezeichnung mansus als neue Grundkategorie für die Klassifizierung von Landbesitz. Mansus war gleichzeitig die landwirtschaftliche Einheit, nach der in den Kapitularien der Umfang des Kriegsdienstes definiert wurde. Haack führt beide Beobachtungen zur These zusammen, dass die Auflistung der Kirchengüter wie die Aufgebotslisten der Kapitularien zur Systematisierung von Kriegsdiensten beigetragen habe (S. 139). Er möchte die Polyptycha durchaus auch als militärhistorische Quellen verstanden wissen. Darüber hinaus widmet Haack eine detaillierte biographische Studie dem aus Spanien eingewanderten Johannes und seinen Nachkommen. Johannes siegte über Muslime bei Barcelona, floh danach aber ins Frankenreich und wurde von Ludwig dem Frommen, damals König von Aquitanien, um 795 als Aprisionär auf unbewirtschaftetem Land bei Narbonne angesiedelt. Johannes kommendierte sich Karl dem Großen und wird als Getreuer bezeichnet. Anhand dieser Fallstudie soll die politische und soziale Verflechtung eines Kriegers in der Karolingerzeit nachgezeichnet werden. Im Anschluss daran untersucht Haack die Vorbereitungen für einen Feldzug des Mitkaisers Lothars I. nach Korsika im Jahre 825 auf Basis der sogenannten Capitula de expeditione Corsicana. Den abschließenden Höhepunkt der Quellenstudien stellt die textkritische Handschriftenuntersuchung der Kriegsdienstkapitel im sogenannten Wormser Corpus von 829 dar. Damals wurden unter Leitung der beiden Kaiser Ludwigs des Frommen und Lothars I. größte Anstrengungen unternommen, einer ökonomischen, militärischen und politischen Krise Herr zu werden. Christoph Haack stellt in Bezug auf sein militärhistorisches Thema fest, dass es 829 darum gegangen sei, eine praktikable Organisation der Kriegsdienste zu erzielen, insbesondere zu klären, mit wievielen Kriegern in Bedrohungssituationen zu rechnen sei. In diesem Sinne versteht er die zunehmende Schriftlichkeit seit 800, gesammelt in den Kapitularien, als Teil der militärischen Organisation.

Haacks Fazit, dass die liberi homines, das heißt „die vollberechtigten Mitglieder des politischen Verbandes“ (S. 206), den Kern des karolingischen Heeres bilden sollten, nicht die Vasallen, nicht die Lehnsmänner, nicht die spezialisierten Reiterkrieger, nicht die Kontingente von „warlords“, ist prägnant, aber nicht gänzlich neu. Innovativ ist die Einordnung seiner militärhistorischen Analyse in die herrschaftsgeschichtlichen Strukturen der hochkarolingischen Zeit. Diese führt tatsächlich zu einer neuen, gesamtheitlichen Sicht auf ein historisches Phänomen, das bislang durch die unverbundene, oben kurz zusammengefassten Theoriebildungen nur unzureichend beschrieben wurde, womit Haack sein wesentliches Ziel überzeugend erreicht. Die karolingischen Heere kannten keine Berufskrieger. „Personale Hierarchiesysteme“ beruhten nicht auf einer militärischen Befehl-Gehorsam-Struktur, sondern waren „Netze sozial asymetrischer Patron-Klient-Beziehungen“ (S. 211). Die freien Krieger waren daher primär kein Bestandteil von Privatarmeen, denn „Kriegsdienste wurden als Teil gemeinschaftlicher Verpflichtung geleistet“ (S. 213). Eine solche öffentliche Verpflichtung kann als Wehrpflicht bezeichnet werden. Die Teilnahme von Unfreien an militärischen Unternehmungen wird als Problem angesprochen, aber mangels Quellenaussagen nicht weiter vertieft. Das Aufgebot des Heeres funktionierte über personale Bindungen, die deswegen aber keine alternativen militärischen Strukturen ausbildeten, sondern lediglich „Funktionsmechanismen der Organisation von Kriegsdiensten“ (S. 215) waren. In den Kapitularien spiegelt sich nur eine neue Form der schriftbasierten Herrschaftspraxis wider, keine Neuerung der militärischen Organisation. Dies ist ein weiteres wichtiges Ergebnis der vorliegenden Dissertation. Die Bedeutung seiner Forschung für die frühmittelalterliche Militärgeschichte formuliert Christoph Haack selbst sehr klar: „Damit fällt die militärische Organisation auch für die Markierung einer klaren Grenze zwischen Spätantike und Frühmittelalter weg, die im Übergang vom Massenheer zum adligen Reiterheer sichtbar gewesen wäre“ (S. 225). Der fränkische Panzerreiter als Prototyp des hochmittelalterlichen Ritters wird als eine Fehldeutung der Theorie vom Lehnswesen zurückgewiesen.

Anmerkung:
1 Vgl. zum von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste betreuten Langzeitprojekt "Capitularia. Edition der fränkischen Herrschererlasse" mit weiterführenden Informationen: https://capitularia.uni-koeln.de (21.12.2020).

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