M. Clauss u.a. (Hrsg.): Lautsphären des Mittelalters

Cover
Titel
Lautsphären des Mittelalters. Akustische Perspektiven zwischen Lärm und Stille


Herausgeber
Clauss, Martin; Mierke, Gesine; Krüger, Antonia
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margret Scharrer, Institut für Musikwissenschaft, Universität Bern

Dass Klänge unterschiedlichste Deutungshorizonte in sich vereinen, ein historisch, philosophisch oder anthropologisch sehr komplexes Phänomen darstellen, ist nicht von der Hand zu weisen. In den letzten Jahren entdeckten die Geschichtswissenschaften mehr und mehr das große Feld der Klänge. Forschungen zu Problemen von Sound und Soundscape begannen sich dabei auch im deutschsprachigen Raum zu etablieren, Forschungsprojekte wurden initiiert.1 Zu den grundlegenden Publikationen der jüngsten Zeit gehört das von Daniel Morat und Hansjakob Ziemer herausgegebene Handbuch zum Thema „Sound“.2 In der deutschsprachigen Mediävistik war der Zugriff bis vor kurzem allerdings eher zögerlich. Dass Fragen nach der Geschichte des Klangs und seiner verschiedenen Sphären aber nun auch hier gestellt werden, zeigt u.a. die 2019 veranstaltete Frühjahrs-Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte zum Thema „Klangräume des Mittelalters“.3 Der von Martin Clauss, Gesine Mierke und Antonia Krüger herausgegebene Tagungsband „Lautsphären des Mittelalters“ trifft somit ein echtes Forschungsdesiderat.

Nach einer detaillierten Einleitung, die einen schlaglichtartigen Ein- und Überblick über den Bereich der Lautsphärenproblematik samt Forschungsstand und der Problematik von medialer Vermittlung von Klanglichkeit gibt, wird das Panorama mit einem ersten Teil zum Bereich der Funktion von Lautsphären eröffnet. Christian Jaser widmet sich dabei der speziellen Frage nach der lautlichen Landschaft in Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen am Beispiel ausgewählter Pferderennen des 15. und 16. Jahrhunderts und macht auf die bisher fast gänzlich unbeachtet gebliebene Sphäre der „sporting sounds“ (S. 31) aufmerksam. Die verschiedenen lautlichen Situationen begreift er als räumlich-akustisches Ereignis und zeigt auf, dass Klänge nicht nur Gemeinschaft konstituierten, Ereignisse strukturierten, Emotionen aufpeitschten, sondern auch Memoria konstruierten. In eine diametral entgegengesetzte akustische Situation begibt sich der differenzierte Beitrag von Julia Samp. Sie diskutiert die Wahrnehmung von Lauten aus der Perspektive humanistischer Gelehrter und deren spezifischer Empfindlichkeit gegenüber geräuschvollen Äußerungen unterschiedlichster Zeitgenossen. Klänge und die von ihnen hervorgerufenen Störungen versteht sie dabei als psychologisches und sozial distinktives Problem. Nach der Funktion von Klängen mittels historischer Akustikanalyse in religiösen Umwälzungsprozessen fragt wiederum Antonia Krüger. Ins Zentrum rückt sie dabei die Situation der Stadt Zwickau zwischen 1500 und 1550 und zeigt auf, wie akustische Codes in unterschiedlichen sozialen und religiösen Räumen funktionierten, welches semantisches Kapital ihnen innewohnte, wie dieses von den Zeitgenossen rezipiert wurde bzw. zu welchen akustischen Sanktionen es kam. Mit den lautlichen Sphären der Chronica maiora befasst sich der Beitrag von Miriam Weiss. Sie unterteilt die akustischen Vorkommnisse in folgende Kategorien: selbstverständliche, erwartete und stilistische Klänge. Deutlich wird, dass Klänge lediglich in ihren jeweiligen Kontexten und nicht als Einzelphänomene zu lesen sind und weiterführend in vergleichender bzw. intertextueller Perspektive untersucht werden sollten. Einem besonderen Phänomen widmet sich Achim Thomas Hack, er setzt sich mit Tiergeräuschen in antiken und frühmittelalterlichen Listen auseinander. Aus dem großen Überlieferungspool greift er drei Listen heraus, die von Gaius Suetonius Tranquillus, Polemius Silvius und Aldhelm von Malmesbury, stellt diese vor, ordnet sie ein und fragt danach, wie diese zu lesen und verstehen sind. Im letzten Unterpunkt werden zudem bestimmte onomatopoetische Verben sowie lautliche Äußerungen von Mensch und Tier und ihre Klanglichkeit vorgestellt. Der Bereich der Funktionen wird mit Boris Gübeles Beitrag über die Rekonstruktion historischer Redesituationen abgeschlossen. Speziell geht es um die Hörbarmachung der spezifischen Situation in der Aula regia in Ingelheim zur Zeit Ludwigs des Frommen. Während sich die Schallsituationen durch Computersimulation annähernd rekonstruieren lassen, erweisen sich die Ausführungen zur Verlesung des Urkundentexts, der durch Ludwig den Frommen erfolgt sein könnte, als eine Rechnung mit vielen Unbekannten.

Der zweite Teil des Bandes setzt sich speziell mit der Perzeption von Lautsphären auseinander. Almut Schneider fragt nach der Inszenierung von Klängen im Werk Partonopier und Meliur des Konrad von Würzburg. Sinnliche Reize und Wahrnehmung spielen in diesem Roman eine besondere Rolle, einschließlich der lautlichen Perzeption. Konrad setzt diese gezielt ein, um emotionales Erleben zu kennzeichnen, kreiert Räume, in denen bestimmte Sinne und Gefühle herrschen. Klänge kennzeichnen indessen nicht nur Seelen-, sondern auch Machträume, was Gesine Mierke eindrücklich in ihrem Beitrag „Den Herrscher hören. Zu akustischen Phänomenen im Reinfried von Braunschweig“ aufzeigt. Die Auftritte und Abenteuer Reinfrieds vollziehen sich unter bestimmten klanglichen Äußerungen. So geht Reinfrieds visuellem Auftritt sein eindrückliches und weithin hörbares akustisches Erscheinen voraus. Gefährliche, betörende und wundersame Klänge ziehen ihn auf seiner Reise in den Orient in den Bann, wobei das Sirenenabenteuer eine Schlüsselfunktion einnimmt. Eine besondere Klanglichkeit macht sich zudem auf performativer Ebene bemerkbar. Einem altbekannten Problem widmet sich der Aufsatz von Christoph Schanze: dem Minneklang. In seinem soliden Artikel gibt er einen präzisen Überblick zu Forschungsgeschichte und -aufriss bezüglich der Frage nach der klanglichen Umsetzung und Überlieferung dieser Lieddichtkunst. Er verweist dabei auf die klang-sprachlichen Besonderheiten der Dichtkunst, ihre nicht mehr hörbar zu machende musikalische Effektverstärkung, die Verzahnung von Inhalt und Klang, die Stärke und Bedeutung des Wortklangs.

Der dritte und letzte Teil des Tagungsbandes rückt die Soundscape der spätmittelalterlichen Stadt in den Fokus. Problematisch erscheint hier der Artikel zum Thema „Campanile und Minarett. Konflikte in städtischen Lautsphären seit dem Mittelalter“ von Gerhard Dohrn-van Rossum, der in einem Rundumschlag nicht nur zu große zeitliche und geographische Räume in den Blick nimmt, sondern auch die kulturell unterschiedlichen Zugangsweisen zu Klangphänomenen zu wenig differenziert. Gerald Schwedler widmet sich der „Sprache der Glocken“4 speziell in Braunsberg und Chemnitz. Die günstige Quellenlage und die bisher kaum erforschte Klanggeschichte deutscher Städte außerhalb Süddeutschlands begründen die Auswahl der Fallbeispiele. Im Zentrum stehen vor allem städtische Aufstände und die Vermittlung akustischer Codes, ihre komplexe Semantik sowie die damit verbundenen klanglichen Identifikationsprozesse. Arnd Reitemeier nimmt anschließend das "Soundzentrum“ Pfarrkirche in den Blick und zeigt die Vielschichtigkeit der akustischen Laute zwischen Glockenläuten, Orgelspiel und Gesang in kirchlichen Räumen und ihre Ausstrahlung in den städtischen Raum auf. In ihrem soliden Beitrag, der religiöse Umgänge vor allem in Osnabrück und Biberach in den Fokus rückt, verbindet Sabine Reichert Forschungen aus Musikwissenschaft und Theologie. Sie entwirft dabei ein vielschichtiges Panorama, geht auf Topographie, Teilnehmer, Repertoire und Ausstattung ein, gibt einen Einblick in die klangliche und performative Dimension von Prozessionen. Wie auch Reitemeier thematisiert sie abschließend das Pendant der Stille. Der Band wird mit einem kurzen wie erfrischendem Artikel von Stefan Bürger „Vom Anschlagen und Ansagen. Baustellenlärm im späten Mittelalter?“ abgerundet, in dem der Autor Erkenntnisse aus Quellestudium und Reenactment präsentiert.

Der Tagungsband ist in seinem disziplinenübergreifenden Zugriff wie seiner Themenauswahl sehr zu begrüßen. In einer ausgewogenen Mischung bringt er unterschiedlichste Annäherungsweisen und Ideen zur Thematik der Lautsphären, die methodisch wie auch quellentechnisch unterschiedliche Erkenntnisse bieten und Ausgangspunkte für künftige Forschungsfelder aufzeigen. Wünschenswert wäre es gewesen, dem Band etwas mehr Internationalität zu verleihen5 und auch die musikwissenschaftlichen Forschungen stärker mit einzubeziehen. Keiner der Beiträge stammt von einem Musikwissenschaftler. Auf letzteres Manko verweisen die HerausgeberInnen allerdings selbst in der Einleitung. In dem von Martin Clauss und Gesine Mierke initiierten und jüngst von der DFG bewilligten Netzwerk „Lautsphären des Mittelalters“ ist die Musikwissenschaft nun beteiligt.6

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. das von Jan-Friedrich Missfelder an der Universität Basel initiierte Forschungsprojekt „Macht der Stimme – Vocal Power“ (https://dg.philhist.unibas.ch/de/bereiche/fruehe-neuzeit/snf-professur-macht-der-stimme/; 03.01.2021) oder das bis August 2020 an der Universität Bern von Christian Gerlach geleitete Forschungsprojekt „Sounds of anti-Jewish Persecution“ (https://www.hist.unibe.ch/forschung/forschungsprojekte/sounds_of_anti_jewish_persecution/index_ger.html; 03.01.2021).
2 Daniel Morat / Hansjakob Ziemer (Hrsg.), Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze, Stuttgart 2018.
3 Zum Tagungsprogramm und -bericht siehe: https://konstanzer-arbeitskreis.de/tagungen/tagungen/ (03.01.2021). Siehe auch die im Herbst 2019 vom Brackweder Arbeitskreis für Mittelalterforschung veranstaltete Tagung „Klang der Macht – Macht des Klangs“ (https://brackwederarbeitskreis.wordpress.com/2019/12/27/bericht-zur-tagung-klang-der-macht-macht-des-klangs-jena-22-23-11-2019/; 03.01.2021).
4 So der Titel des Buchs von Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach, Frankfurt am Main 1995.
5 Verwiesen sei u.a. auf Forschungen von Jean-Marie Fritz, Martine Clouzot, Reinhard Strohm, Tim Carter, Dinko Fabris und Iain Fenlon.
6 Siehe: https://www.tu-chemnitz.de/phil/iesg/professuren/gdma/dfg-netzwerk.php (03.01.2021).

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