E. Alloa u.a. (Hrsg.): Dynamis of the Image

Cover
Titel
Dynamis of the Image. Moving Images in a Global World


Herausgeber
Alloa, Emmanuel; Cappelletto, Chiara
Reihe
Contact Zones 5
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 388 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Schulze, Departement Kulturanalysen und Vermittlung, Zürcher Hochschule der Künste

Der Band „Dynamis of the Image“ liefert einen weiteren Beitrag zu der seit den 1990er-Jahren intensiv geführten Debatte zur sogenannten Macht der Bilder („power of images“). Das titelgebende, dem altgriechischen entnommene Wort dynamis soll dabei gemäß der Einleitung der Herausgeber/innen, Emmanuel Alloa und Chiara Cappelletto, jedoch bereits eine entscheidende Verschiebung markieren: Dynamis stehe erstens für eine Kapazität, Effekte zu zeitigen, nicht aber für die Effektivität selbst, zweitens für eine Bewegung im Sinne eines bereits initiierten, aber noch nicht realisierten Prozesses und drittens für eine Latenz, also eine Bereitschaft zur Bewegung, nicht aber die eigentliche Bewegung. Die begriffliche Verschiebung von „power“ zu „dynamis“ beinhaltet, dass der Band zwar durchaus das, was die Bilder „tun“, in den Blick nehmen soll, dass dabei jedoch zugleich die vielzitierten Konzepte der Aktivität und agency hinterfragt werden sollen. Alloa und Cappelletto verbinden diese Positionierung in der Einleitung mit einigen gegenwartsanalytischen Stichworten: In Zeiten des „liquiden Kapitalismus“ (S. 2) mit seiner „just-in-time production“ (S. 2 und 11) sowie der visuellen Hegemonien und der damit einhergehenden Vereinheitlichungen (S. 6) sei die Pluralisierung möglicher Zugänge zu Bildern und ihren Kapazitäten besonders im globalisierten 21. Jahrhundert angesagt. In einer Zeit, in der die Macht der Bilder allzu häufig mit ihrer Produktivität (Mehrwerterzeuger) und Effizienz (schnelle und billige Botschafter einer (Werbe-)Nachricht) gleichgesetzt werde, sollen die Beiträge des Bandes stattdessen die Potentialität der Bilder fokussieren und sie zur Erforschung noch ungedachter Möglichkeiten heranziehen. Hier sei eine Warnung eingeschoben: Titel, Untertitel („Moving Images“) als auch die Reihe, in der der Band erschienen ist („Contact Zones“), schüren die Erwartung, dass im Band die Mobilitäten, Zirkulationen und Trajektorien von Bildern und Filmen fokussiert werden. Einen solchen Überblick will das Buch jedoch nicht bieten, wenngleich es unter dieser Perspektive gelesen werden kann (so wie ich es getan habe). Mit „moving images“ sind hier eben nicht Bildbewegungen oder bewegte Bilder gemeint, sondern Bilder, „that have the power to move their spectators“ (S. 4).

Als Gewährsfiguren zieht die Einleitung dafür einerseits den Semiotiker Louis Marin und dessen Verständnis der dynamis als Wirkmächtigkeit („efficacy“) der Bilder heran sowie andererseits Aby Warburg und dessen Konzept des „dynamograms“. Warburg kann insgesamt als ein roter Faden des Bandes gesehen werden: 6 von 15 Beiträgen schließen prominent an Warburg an. Der Bezug auf Warburg legt bereits nahe, dass sich der Band in die Tradition der Bildwissenschaften aus dem deutschsprachigen Raum sowie der Visual Studies der englischsprachigen Wissenschaftsgemeinde stellt. Allerdings verfolgen Alloa und Cappeletto mit ihrem Band die Absicht, einige unhinterfragte Verzerrungen dieser Felder zu umgehen und entsprechende Reorientierungen vorzubringen. Sie schlagen konkret drei Weisen der „Dezentrierung“ der Visual Studies vor: Erstens soll der Fokus vermehrt auf nicht-westliche Territorien ausgeweitet werden, um die geopolitische und disziplinäre Verortung der Visual Studies (in der europäisch-nordamerikanischen Kunstgeschichte) zwar anzuerkennen, aber überschreiten zu können; zweitens sei eine Rückbesinnung auf jene westlichen Bildpraktiken nötig, die dem autonomen Kunstwerk entgehen; und drittens sei es angezeigt, sich der häufig ausgelassenen operativen, technischen sowie allgemein der nicht-künstlerischen Bilder zu widmen.

Leider bleibt hier und im weiteren Verlauf des Bandes unklar, inwieweit diese Forderungen neu sind und konkret bestehende Forschungsprogramme erweitern. Dies liegt auch an der fehlenden Situierung in der Literatur, die hier nur angerissen werden kann. Die Visual Culture Studies traten von Beginn an mit dem Anspruch auf, eine „transkulturelle Praxis“ zu sein, die die ständigen Transfers von Bildern über kulturelle, politische und geographische Grenzen hinweg zu fassen versucht.1 Und es gehört zu den Gründungsideen der Bildwissenschaften, den Fokus nicht mehr (nur) auf die (Hoch-)Kunst, speziell in ihrer Ausprägung als autonomes Werk, sondern „auf alle visuell gestalteten Gebilde“2 anzuwenden. Seither sind vor allem zu den technischen, operativen und wissenschaftlichen Bildern zahlreiche Studien entstanden. Darüber hinaus ist zumindest zu erwähnen, dass sich für die Themen und methodischen Herangehensweisen der Visual Studies und Bildwissenschaften ebenso zahlreiche Vorgänger/innen ausmachen lassen – darunter einige Wegbereiter/innen, die mitunter bereits bei der Etablierung dieser neuen interdisziplinären Gebilde ungenannt blieben. So ist insbesondere den deutschsprachigen Bildwissenschaften vorgeworfen worden, dass sie die Leistungen der Gender Studies, die sich schon lange mit den Wechselbeziehungen von Bildern, Körpern und Kulturen auch jenseits der Kunst beschäftigten, ausgeschlossen haben.3

Dass die Behauptung der Innovation und Neuigkeit sich mir auch bei näherem Hinsehen nicht erschlossen hat, diskreditiert jedoch keineswegs das Anliegen. Der Band lässt sich vielmehr als Versuch lesen, die Gründungsgeneration der Bildwissenschaften und Visual Culture Studies, die im Band sehr prominent durch Hans Belting, W. J. T. Mitchell oder Georges Didi-Huberman vertreten ist, mit einer jüngeren Generation ins Gespräch zu bringen. Der wichtigste Beitrag liegt dabei meines Erachtens darin, dass viele Beiträge die erste vorgeschlagene Dezentrierung durchaus konsequent umsetzen. Gemeint ist die bildtheoretische Befragung von visuellem Material, das der eindeutigen Zuordnung „zum Westen“ oder „zum Rest“ entgeht.

Während in der Einleitung neben Marin und Warburg nur die deutschen Theoretiker Walter Benjamin sowie Martin Heidegger und die Werke der US-amerikanischen Künstler/innen Martha Rosler und Allan Sekula zitiert werden, spielt in vielen (aber keineswegs allen) Beiträgen der (etablierte) westliche Kanon und die (autonome) Kunst in der Tat bloß eine Nebenrolle. Ticio Escobar stellt seinem Beitrag die Forderung voran: „we musst identify different images“ und bespricht Bilder oder besser ethisch-materiell-mythisch-rituelle Praktiken zweier indigener Gruppen aus Paraguay. Dabei liefert er zudem eine mögliche Verbindung der beiden Themenkomplexe Bildzirkulation und Wirkmächtigkeit von Bildern. Denn Escobar ist auf der Suche nach Praktiken, die der hegemonialen Visualität andere Bilder entgegensetzen können, nach Bildern, die es vermögen, eine Art Gegenrichtung im Strom der Bilder einzuschlagen. Auch Hans Belting adressiert „Bildwanderungen“. Der Methodik einer braided history nach Natalie Zemon Davis folgend spürt Belting dem Wiederauftauchen chinesischer oder westlicher Sujets aus dem 15. bis 16. Jahrhundert in dem persischen Bahram Mizra Album und darüber hinaus bis zum Hof des indischen Mogulreich im 17. Jahrhundert nach. Mit dieser Fallstudie weist er letztlich Warburgs Konzept des Nach- oder Überlebens bestimmter Bilder zurück und setzt ein unvorhersehbares Auftauchen an dessen Stelle. In der Ankunftskultur ging dies mit der Überprüfung der eigenen Bildkultur einher – in der persischen Kultur etwa stand der Umgang mit figurativen Darstellungen in Frage. Linda Báez Rubí widmet sich wiederum in konsequenter Weiterführung der Warburg’schen Methoden den Wanderungen mexikanischer Jungfrau-Darstellungen im hispanischen Barock. Im letzten Teil liefert Morad Montazami ein starkes Plädoyer für die Dekolonialisierung der Kunstgeschichte der Moderne. Er zeichnet nach, wie der ägyptische Künstler Hamed Abdalla über eine Beschäftigung mit dem Orientalismus in Paul Klees Werk sich seine Herkunft gewissermaßen zurück aneignen („re-appropriate“) kann.

Anders als die zahlreichen Fallbeispiele, die den Westen provinzialisieren (vor allem aus dem islamischen und lateinamerikanischen Raum), kommen die technischen oder operativen Bilder, sei es des Gebrauchs, der Industrie oder der Wissenschaft etc., zumindest verglichen mit dem Anspruch des Bandes zu kurz. Einzig A. S. Aurora Hoel widmet sich explizit wissenschaftlichen Bildern mit ihrer Interpretation der Magnetresonanztomographie. Sie nähert sich diesem bildgebenden Verfahren in den Begriffen des französischen Philosophen Gilbert Simondon, wobei ihre Schlussfolgerungen sehr an ein Rheinberger’sches Konzept der Sichtbarmachung in Experimentalsystemen erinnern.4

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Band vieles bietet. Nicht nur prominente Namen mit originären Aufsätzen, sondern auch Beiträge, die zahlreiche Themenfelder thesenstark behandeln: von anregenden einzelnen Werkanalysen (etwa von Angela Mengoni zu Gerhard Richters „War Cut“) bis zu Bildtheorien politischer Souveränität mit globalem Erklärungsanspruch (wie von Susan Buck-Morss oder Sunil Manghani). Damit gibt er einen Einblick in einen bestimmten Ausschnitt der internationalen Visual Studies und Bildwissenschaften. Jedoch opfert er einen klar zu umreißenden Beitrag für die Forschungsgemeinde (wie es eben bei Sammelbänden immer wieder vorkommt) der (möglicherweise intendierten) thematischen Diversität und personellen Prominenz.

Anmerkungen:
1 Nicholas Mirzoeff, Wenn das Bild global wird. Ein Email-Interview von Tom Holert, in: Tom Holert (Hrsg.), Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000, S. 34–38, hier S. 35.
2 Horst Bredekamp, Art. „Bildwissenschaft“, in: Ulrich Pfisterer (Hrsg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, Stuttgart 2019, S.72–75, hier S. 72.
3 Sigrid Schade, What Do Bildwissenschaften Want? In the Vicious Circle of Pictorial and Iconic Turns, in: Kornelia Imesch u.a. (Hrsg.), Inscriptions/Transgressions. Kunstgeschichte und Gender Studies, Bern 2008, S. 31–51.
4 Hans-Jörg Rheinberger, Objekt und Repräsentation, in: Bettina Heintz / Jörg Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, S. 55–61.