M. Borgolte (Hg.): Polen und Deutschland vor 1000 Jahren

Cover
Titel
Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den "Akt von Gnesen"


Herausgeber
Borgolte, Michael
Reihe
Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 5
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
334 S., 15 Abb.
Preis
€ 74,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus van Eickels Unversität Bamberg E.mail:

Der vorliegende Sammelband vereinigt in teilweise stark erweiterter Form die Vorträge deutscher und polnischer Historiker, die am 28./29. Januar 2000 auf der Berliner Tagung anlässlich des 1000. Jahrestages der Begegnung Kaiser Ottos III. und Herzog Boleslaw Chrobrys gehalten wurden. Die Wallfahrt des jungen Kaisers zu den sterblichen Überresten seines als Märtyrer von den Pruzzen erschlagenen Lehrers und Freundes Adalbert wurde in der Rückschau für die polnische Geschichtsschreibung zum Ausgangspunkt der Eigenständigkeit Polens. Otto III. begründete das Erzbistum Gnesen und verlieh der Kirche im Herrschaftsbereich Boleslaws Unabhängigkeit vom Einfluss auswärtiger Metropoliten. Den polnischen Herzog selbst behandelte der Kaiser ehrenvoll und freundschaftlich wie einen gleichberechtigten Herrscher. Sowohl deutsche als auch polnische Historiker sahen darin seit dem 19. Jahrhundert den Anfang der Eigenstaatlichkeit Polens. Otto III. habe durch den Akt von Gnesen Polen kirchlich wie weltlich aus dem Reichsverband in die Unabhängigkeit entlassen.

Angesichts dieser Einschätzung des Aktes von Gnesen in der Forschung erstaunt das geringe Interesse der mittelalterlichen Chronistik an den Vorgängen in Gnesen. Thietmar beschreibt zwar ausführlich die Wallfahrt Ottos, erwähnt aber die Gründung des Erzbistums Gnesen nur knapp. Alles weitere verschweigt er und klagt lediglich, Otto habe durch sein Handeln den polnischen Herzog vom ‚tributarius’ zum ‚dominus’ gemacht (V.10). Erst im frühen 12. Jahrhundert wandte sich ein am polnischen Herzogshof schreibender Chronist, der sog. Gallus Anonymus, ausführlicher der weltlichen Seite der Ereignisse zu. Er schilderte die Begegnung Ottos mit Boleslaw als Freundschaftsbündnis. Beeindruckt vom Reichtum Boleslaws habe der Kaiser ausgerufen, es zieme sich nicht, einen solchen Mann wie andere ‚principes’ Graf oder Herzog zu nennen, sondern er verdiene es, mit dem Diadem gekrönt auf einen königlichen Thron erhoben zu werden. Daraufhin habe er seine eigene Krone vom Haupt genommen und sie ‚in amicitiae foedus’ Boleslaw aufgesetzt. Als ‚vexillum triumphale’ habe er Boleslaw einen Nagel vom Kreuz Christi mit der Mauritiuslanze geschenkt und als Dank dafür von Boleslaw einen Arm des heiligen Adalbert als Gegengeschenk erhalten. Schließlich habe er ihn als ‚frater et cooperator imperii’ eingesetzt und ‚amicus populi Romani et socius’ genannt. Die Hildesheimer, Quedlinburger und Magdeburger Annalen erwähnen ebenso wie auf polnischer Seite die Annalen von Heiligkreuz lediglich knapp Einsetzung eines Erzbischofs. Die Ehrung Boleslaws durch Otto III. taucht erst sehr viel später wieder in der Überlieferung auf. In der um 1345 verfassten Inschrift seines Grabmals, das ihn als den ersten polnischen König ehren sollte, heißt es ‚tibi contulit Otto coronam’.

Weitreichende Theorien wurden auf dieser unsicheren Grundlage errichtet. Kontrovers diskutiert wird vor allem die These Frieds, Otto habe Boleslaw zum König gekrönt. Dagegen unterstreicht Jerzy Wyrozumski in seinem die Quellen zum Akt von Gnesen übersichtlich erschließenden Beitrag „Gnesen und die polnische Geschichte” (S. 281-291), dass die hier vom Kaiser angewandte Symbolik byzantinischen Ursprungs war, wie schon 1966 Wasiliewski in einem (allerdings nur in polnischer Sprache vorliegenden) Aufsatz aufgezeigt hatte. Unberücksichtigt bleibt allerdings auch bei Wyrozumski wie in der gesamten bisherigen Diskussion die politische Lage, der die Chronik des Gallus Anonymus ihre Entstehung verdankt. Die Frage der Tributpflicht des Herzogs war in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts hoch umstritten. 1135 gehörte es zu den großen Erfolgen Lothars III., dass der polnische Herzog auf einem Hoftag in Merseburg erschien, nicht nur um dort die Lehenshuldigung zu leisten und dem Kaiser als Schwertträger zu dienen, sondern auch um den über mehr als ein Jahrzehnt hinweg verweigerten Tribut nachzuzahlen (RI 4.1, Nr. 453).

Weder Wyrozumski noch die anderen Autoren des Bandes diskutieren ferner, ob die Frage nach der „Souveränität” des polnischen Herzogs den Ordnungsvorstellungen der Jahrtausendwende entsprach. Bis ins 13. Jahrhundert hinein hielt sich die Vorstellung von einer offenen Grenze des Reiches im Osten. Noch in der Goldbulle von Rimini konnte Friedrich II. in Anspruch nehmen, dass das Preußenland zur ‚monarchia imperii’ gehöre. Anders als im Westen gab es im Osten keine symbolischen Punkte, an denen nach Überzeugung aller das Reich endete; zumindest werden sie nicht in Herrscher- oder Gesandtentreffen greifbar. Die Frage, ob Polen oder Böhmen zum Reich gehörten oder nicht, klärte sich erst in den folgenden Jahrhunderten. Die böhmischen Herzöge des 12. Jahrhunderts wahrten die Einheit ihres Landes, mussten sich aber deshalb wiederholt mit konkurrierenden Erbansprüchen naher Verwandter auseinandersetzen und suchten dabei den Schutz und die Legitimation ihrer Stellung durch den Kaiser, indem sie ihm die Lehenshuldigung leisteten. Böhmen wuchs so in den Verband des Reiches hinein, keineswegs zum Schaden des Ranges seiner Herzöge, denen vom Kaiser schon am Ende des 12. Jahrhunderts die Königswürde verliehen wurde. Dagegen boten die Nachkommen der polnischen Herzöge den Kaisern kaum Anlässe einzugreifen: Zusammengehalten durch das lockere Band des Seniorats, teilten sie Polen untereinander auf. An einer Einbindung in die Lehenshierarchie des Reiches war ihnen nicht gelegen. Polen entwickelte sich aus dem Reich heraus, doch erst sehr viel später als den böhmischen Przemysliden gelang den polnischen Piasten die Einigung ihres Landes und der Griff nach der Königskrone. Die Option, diese Rangerhöhung durch kaiserliche Verleihung zu legitimieren, bot sich nun nicht mehr. Umso bereitwilliger griff man bei der Neugestaltung der königlichen Grablege auf den Bericht des Gallus Anonymus zurück, der zu belegen schien, dass bereits Boleslaw Chrobry aus der Hand eines Kaisers die Königskrone empfangen hatte.

Sehr zurecht mahnt Rudolf Schieffer in seiner Inhalt und Thesen der einzelnen Beiträge klar herausstellenden Zusammenfassung an, dass jede neue Diskussion um den Akt von Gnesen beim Leistungsvermögen des Gallus Anonymus als „der mit Abstand gesprächigsten Quelle” ansetzen muss. Während Wyrozumski die bis 1113 reichende und wohl zeitgleich oder wenig später entstandene Darstellung des Gallus Anonymus trotz ihres zeitlichen Abstandes als „glaubwürdig” versteht, da sie aus der „Hoftradition der Piasten” schöpfe, unterzieht sie Gerd Althoff in seinem Beitrag „Symbolische Kommunikation zwischen Piasten und Ottonen” einer radikalen Kritik: Seine Darstellung des Aktes von Gnesen sei eine bewusst überzeichnete und somit in weiten Teilen frei erfundene Schilderung, die die Leser durch die Komik der Situation unterhalten sollte. Althoffs These gewinnt an Plausibilität durch den Nachweis, dass auch andere Passagen des Gallus Anonymus offensichtlich als erheiternde Anekdoten in die Darstellung eingeflochten wurden. Allerdings besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der von Althoff herangezogenen Parallelstelle, in der die Gemahlin Boleslaws diesen durch eine geistreiche Frage überlistet, und der Schilderung des Aktes von Gnesen, die kein solches die gesamte Schilderung als Anekdote markierendes Element enthält. Dass der Chronist seine Darstellung unmöglich ernstgemeint haben könne, folgert Althoff daraus, dass sie allzu weitgehend mehrere der Spielregeln adliger Kommunikation verletzt, die er in seinen eigenen Forschungen der letzten Jahre herausgearbeitet hat. Allerdings sind die von Althoff zurecht hervorgehobenen Punkte in seiner Paraphrase deutlicher erkennbar als in dem von ihm zitierten lateinischen Originaltext. In der Tat wäre es z.B. verwunderlich, wenn der Kaiser die überreichen Geschenke angenommen hätte, die Boleslaw ihm zukommen ließ, zumal die Quedlinburger Annalen ausdrücklich schreiben, er habe auf seiner ganzen Pilgerfahrt durch das Land Boleslaws jede Art von Gaben ganz und gar abgelehnt. Der Gallus Anonymus sagt allerdings nicht, dass Otto die Geschenke annahm, sondern lediglich, dass Boleslaw sie in das Gemach des Kaisers bringen ließ. Es geht dem aus der polnischen Rückschau schreibenden Chronisten dabei nicht um eine ausgewogene Beschreibung der Kommunikation zwischen Kaiser und Herzog, sondern um die Betonung des königsgleichen Reichtums und der Großzügigkeit Boleslaws. Seinen Lesern dürfte klar gewesen sein, dass es sich um eine hyperbolische Stilisierung handelte; ob sie das Maß der Übertreibung als erheiternd empfanden, ist dagegen aus heutiger Sicht nur schwer zu beurteilen.

Die übrigen Beiträge des Bandes befassen sich nicht oder nur am Rande mit dem Akt von Gnesen. Henry Samsonowicz und Klaus Zernack bieten einen Überblick über die deutsch-polnischen Beziehungen in der Erforschung des Mittelalters in Polen und Deutschland, wobei sich Zernack nicht auf die Arbeiten der deutschen „Ostforschung” beschränkt, sondern stets auch die Entwicklung der polnischen „Westforschung” nach 1945 im Blick behält. Die nationalen Grenzen überschreitet auch Jerzy Strzelczyk, der in seinem Beitrag „Polen, Tschechen und Deutsche in ihren Wechselwirkungen um das Jahr 1000” nicht nur das Verhältnis der der polnischen Herzöge zum Reich behandelt, sondern auch die zentrale Rolle Böhmens deutlich herausstellt.

Zwei Beiträge sind dem slawischen Siedlungsgebiet zwischen Elbe und Oder gewidmet. Winfried Schich nimmt die Veränderungen der ostelbischen Kulturlandschaft vom 10. bis zum 12. Jahrhundert in den Blick (Burgenbau; Bistumsorganisation, Ausbau der Bischofsstädte, Kirchenbau; Stadtentwicklung). Christian Lübke dagegen versucht in seinem Beitrag „Elbslawen und Gentilreligion”, gestützt auf Thietmar und archäologische Befunde, eine Skizze der lutizischen Gesellschaft um 1000. „Trotz aller Beschränktheit der schriftlichen Quellen” sei es „recht gut möglich das Wesen (der) Lutizen näher zu bestimmen, weil die Frage danach auch schon den Zeitzeugen Thietmar von Merseburg beschäftigte”. Dass die Elbslawen Kultstätten gestalteten, wie Thietmar behauptet, ist durch archäologische Funde eindrucksvoll belegt. Dies allein reicht jedoch sicher nicht aus, um die gebotene quellenkritische Frage nach der Darstellungsabsicht Thietmars und seinen möglichen Vorlagen mit einem einfachen Verweis auf die Authentizität seines zeitnahen Zeugnisses unerörtert zu lassen. Ohne eine solche kritische Analyse der eigenen Quellengrundlage bleibt auch die Einbeziehung moderner ethnologischer Modelle problematisch, so etwa die Zuordnung der Lutizen zum Typus der vertikal-demotischen Stammesföderation mit spezialisierter Priesterschaft und Mobilisierung der gesamten Bevölkerung als Methode der Kriegsführung (nach Anthony Smith, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 2. Aufl. 1989) und die darauf gestützte Vermutung eines „chosen people complex”, einer „kriegerischen, größenwahnsinnigen und Überlegenheit vortäuschenden Form des Ethnozentrismus”.

Auf breiter Quellengrundlage dagegen unternimmt Wolfgang Huschner in seinem Beitrag „Abt Odilo von Cluny und Kaiser Otto III. in Italien und Gnesen (998-1001)” den Versuch, die Identität des kaiserlichen Kanzleinotars Heribert D mit Abt Odilo von Cluny plausibel zu machen. Heribert D führte gravierende Änderungen (z.B. Majuskeln statt Elongata als Auszeichnungsschrift) in der graphischen Gestaltung einiger Urkunden Ottos III. ein, „die sich Innovationen erweisen sollten, die zu vielfacher Nachahmung und Verbreitung anregten”, aber auch Änderungen des Formulars (etwa die Bezugnahme auf Papsturkunden, die sonst nur in Urkunden für Cluny vorkommt). Huschner belegt ferner, dass Heribert D stets dann urkundet, wenn auch Abt Odilo am Hof Ottos III. nachweisbar ist. Die Schlussfolgerung, dass ein hochrangiger Geistlicher wie der Abt von Cluny selbst die Ausfertigung von Kaiserurkunden übernommen haben könnte, steht zwar in Widerspruch zu allen bisherigen Annahmen über den Status der Notare der kaiserlichen Kanzlei, wäre aber geeignet, die „ungewöhnliche Individualität” des Notars Heribert D zu erklären. In jedem Fall wird von einer engen Verbindung zwischen Heribert D und Abt Odilo von Cluny auszugehen sein.

In seinem Beitrag „Die Renovatio Imperii Romani und die ‘Außenpolitik’ Ottos III. und seiner Berater” bekennt sich Heinrich Dormeier entschieden zu der Sicht Percy Ernst Schramms, Otto III. und seine Berater hätten „hochfliegende Pläne” zur „Erneuerung der Römischen Kirche und des Römischen Reiches” verfolgt. Dormeiers erklärtes Ziel ist es, die „alte Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit” wiederherzustellen, mit der deutsche Mediaevisten seit Schramm „von der Herrschaftskonzeption der Renovatio Imperii Romanorum” gesprochen hatten, und „das nur scheinbar brüchige Fundament” dieser Auffassung zu festigen und zu verstärken. Er wendet sich damit gegen die in der Forschung weitgehend positiv aufgenommenen Thesen von Knut Görich, der 1993 aufzeigte, dass die üblicherweise für den römischen Erneuerungsgedanken herangezogenen Belege und Indizien auch als „panegyrische Übertreibungen” oder „kurzzeitige Reaktionen auf aktuelle kirchliche und politische Situationen” gelesen werden können. Dabei gelangt Dormeier zwar quantitativ, nicht aber qualitativ über Schramm hinaus: Die lediglich in einer kanonistischen Sammelhandschrift (SB Bamberg Cod. Can. 1) überlieferten Verse Leos von Vercelli deutet er mit Schramm als politisches Grundsatzprogramm. Diese Auffassung versucht er zusätzlich zu stützen, indem er darauf verweist, dass die Verse Leos von Vercelli als Autograph anzusehen sind. Außerdem stellt er zahlreiche über Schramm hinausgehende Belege für die Rezeption der Antike im Umfeld Ottos III. zusammen, um so die „geistige Atmosphäre” am Hof des Kaisers „konkret vor Augen zu führen”. Dormeiers Ausführungen zu den Einzelstellen werden in Zukunft zu den Überlegungen Görichs zu vergleichen sein. Ob und inwieweit der ‚renovatio’-Gedanke die „unkonventionellen Unternehmungen” Ottos III. „im näheren Umfeld, in der Innenpolitik und nicht zuletzt in den Außenbeziehungen” leiteten, bleibt jedoch eine Frage der abwägenden Interpretation. Die Feststellung Dormeiers, Gerbert und Leo von Vercelli hätten 998 bereits ein „festumrissenes stringentes Programm” formuliert und Otto III. habe in der Folge das „Ziel eines erneuerten und gefestigten christlichen Imperium, eines kirchlich-politischen Einflußgebietes, das möglichst weit über die Grenzen des alten Imperium Romanum ausgedehnt werden sollte, ... nicht mehr aus den Augen verloren”, ist eine mögliche, aber keineswegs zwingende Deutung des von ihm ausgebreiteten Materials.

Slawomir Gawlas lenkt in seinem Beitrag „Der heilige Adalbert als Landespatron und die frühe Nationenbildung bei den Polen” den Blick auf die Verschränkung von Heiligenverehrung und Herrschaftsbildung im Polen des 11. und 12. Jahrhunderts. Ausführlich behandelt Gawlas das quellenarme 11. Jahrhundert, für das er einen detaillierten, auch und vor allem die polnische Literatur erschließenden Forschungsbericht bietet, nur knapp dagegen das 12. Jahrhundert. Dass die Gebeine Adalberts bereits seit 1038/39 in Prag lagen, als im späten 11. Jahrhundert die Christianisierung und Kirchenorganisation Großpolens vorangetrieben wurde, beeinträchtigte die von Gnesen ausgehende Adalbertsverehrung nicht. Erst als sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Krakau gegen Gnesen als herrschaftlicher Mittelpunkt der polnischen Teilherzogtümer durchsetzte, verdrängte der dort verehrte Stanislaus als Landespatron Adalbert auf den zweiten Platz.

Ganz der Quellenkritik dagegen widmet sich der Beitrag von Johannes Fried „Gnesen-Aachen-Rom. Otto III. und der Kult des heiligen Adalbert. Beobachtungen zum älteren Adalbertleben”. Gegen die im Bann von Georg Heinrich Pertz stehende ältere Forschung weist Fried nach, dass die ältere Vita des heiligen Adalbert wahrscheinlich nicht in Rom entstand, sondern in Lüttich, wo zur Entstehungszeit 997-1002 Notker von St. Gallen Bischof war und vielleicht sogar selbst den Text verfasste. Damit gewinnt die These an Plausibilität, der als „Gallus Anonymus” bekannte Chronist des 12. Jahrhunderts sei aus Lüttich an den polnischen Herzogshof gekommen. Dann aber wäre der von ihm nach Polen mitgebrachte und ausgewertete „Liber de passione martiris” gleichfalls in Lüttich entstanden, so dass sich das Bild eines „Lütticher Nachrichtenpools zum heiligen Adalbert” ergibt. Die Hypothesen Frieds fügen sich zu einem Gedankengebäude von eindrucksvoller Geschlossenheit. Sie hätten jedoch an Überzeugungskraft eher gewonnen als verloren, wenn Fried seine Auseinandersetzung mit der älteren Forschung in weniger polemischem Ton gehalten hätte. Zwar entwirft er auf den ersten Seiten ein plastisches Bild der Forschungsgeschichte, die im langen Schatten des „großen Gelehrten und autokratischen Herrschers über die Monumenta Germaniae Historica” Georg Heinrich Pertz verharrte und sich auf „dem sumpfigen Boden seiner Vorurteile” abarbeitete. Die schwierige Abwägung von Indizien im Dschungel verlorener Werke und mühsam zu rekonstuierender Redaktionen der erhaltenen Texte zwingen ihn dann aber rasch, den festen Pfad sicher rekonstruierbarer Abläufe zu verlassen: Ebensowenig wie die „phantasiereiche Autorin der Jahrbücher Ottos III.” (S. 256, Anm. 79) kommt Fried selbst ohne die kontrollierte Phantasie des Historikers aus, wenn er auf derselben Seite seine eigene Sicht durch die Aussage stützt, dass „dem Kaiser selbst eine spirituelle Einung des Reichs unter dem Schutz des neuen Märtyrers vor Augen schwebte”, und aus dem Verschwinden des Mainzer Erzbischofs Willigis als Intervenient auf eine „tiefe und folgenreiche Entfremdung zwischen Kaiser und Erzbischof” schließt.

Von eigenständiger Bedeutung ist der als Anhang beigefügte Exkurs über die Älteren Hildesheimer Annalen (Annales Hildesheimenses Maiores) und die Gründung des Erzbistums Gnesen. Eine Überprüfung muss allerdings den Spezialisten vorbehalten bleiben, da Fried seine Argumente unter Verweis auf die „etablierten Ergebnisse der ‘Maiores’-Forschung” nur andeutet, die Beweisführung der von ihm zitierten Autoren aber nicht referiert. Fried geht davon aus, dass der Inhalt und teilweise sogar der Wortlaut der verlorenen Annales Hildesheimenses Maiores „aufgrund verschiedener Ableitungen sicher zu erschließen” ist, diese Ableitungen, „wie der jeweilige Textvergleich ergibt”, alle voneinander unabhängig sind und die Hand der Einträge für die Jahre 1000 bis 1040 in den Annales Hildesheimenses Minores „in die Zeit um 1040 oder bald danach gesetzt werden kann” (eine Datierung, die Fried von Schuffels übernimmt, ohne sich dessen weitergehenden Vermutungen anzuschließen). Wenn diese drei Annahmen zutreffen, ergeben sich tatsächlich Schwierigkeiten, an der manche Schwierigkeit lösenden Hypothese festzuhalten, die Knut Görich 1991 formulierte: Spätere Verfasser hätten die von ihnen in den ‚Maiores’ vorgefundene Angabe, Gaudentius sei zum Erzbischof „ad sanctum Adalbertum” geweiht worden, irrtümlich auf den Ort bezogen, an dem zu ihrer Zeit die Reliquien Adalberts lagerten, und Gaudentius deshalb zum in Prag geweihten Erzbischof gemacht. Eine abschließende Beurteilung wird erst dann möglich sein, wenn die erstmals 1993 summarisch publizierten Forschungen Schuffels zur Handschrift der Annales Hildesheimenses Minores (BN Paris ms. lat. 6114) in ausführlicher Form vorliegen.

Insgesamt bietet der von Benjamin Scheller umsichtig und sorgfältig redigierte Tagungsband eine Sammlung von Forschungsüberblicken und Spezialstudien, die teils wesentliche Aspekte der Beziehungen zwischen Polen und dem Reich im 11. und 12. Jahrhundert erschließen, teils grundlegende Fragen der hochmittelalterlichen Historiographie und Diplomatik um innovative Thesen bereichern. Es bleibt zu hoffen, dass auch diese Beiträge angemessene Verbreitung erlangen werden, obwohl sie über das im Titel genannte Thema der Tagung und des Bandes weit hinausgreifen.

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