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Titel
Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Grossbaustelle des Stalinismus (1897-1935)


Autor(en)
Neutatz, Dietmar
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 33
Erschienen
Köln 2001: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
678 S.
Preis
€ 70,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Wladislaw Hedeler

Über den Eingängen zur Metrostation Sokolniki im Nordwesten Moskaus befindet sich ein dermaßen mit schwarzer Farbe zugekleistertes Relief, daß man Mühe hat, die Einzelheiten darauf zu erkennen. Zur Hauptverkehrszeit vor der Pendeltüren stehenzubleiben und die Figuren zu betrachten, ist nicht zu empfehlen, denn man wird zum Hindernis für die Dahineilenden und dementsprechend schnell aus dem Weg gedrängt, bei Seite geschoben. Wenn der Menschenstrom der Metrobenutzer versiegt, was selten vorkommt, kann man innehalten und nach oben schauen. Auf den ersten Blick sind auf dem umlaufenden Relief Menschen auszumachen, die in einem Bergwerk zu arbeiten scheinen. Preßlufthämmer und Loren sind zu erkennen und ein Gewimmel von Arbeitenden, Männer und Frauen in unförmiger Arbeitskleidung.

Hier in Sokolniki, in der Nähe des Parks, endete die am 15. Mai 1935 eingeweihte erste Strecke der Moskauer Metro. Szenen, wie die hier abgebildeten, entdeckt man in den palastähnlich geschmückten und gestalteten Stationen nicht. Sie stehen für eine andere Welt, transportieren eine Ideologie, die Michail Ryklin in seinen Essays über die Moskauer Metro treffend analysiert hat. Touristengruppen wird das "draußen" angebrachte Band bei den Führungen durch die Metro nicht gezeigt, wie in vergangenen Zeiten bekommen sie nur die "schönen Seiten" der "besten Metro der Welt" zu sehen.

Dietmar Neutatz wendet sich mit seiner der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 1999 vorgelegten Habilschrift jenem Abschnitt aus der Geschichte der Moskauer Metro zu, der auf dem besagten Relief überliefert ist. Seine Studie bringt, bildlich gesprochen, das Relief zum Leben, rückt die Vorgeschichte, d.h. den Metrobau, in den Mittelpunkt. Die Vorgeschichte beginnt nicht mit der politischen Entscheidung aus dem Jahre 1931, mit dem Bau zu beginnen, sie reicht bis zu den ersten Projekten aus dem Jahr 1897 zurück (S. 25-69).

Das Buch endet mit der Fertigstellung der ersten Baufolge, d.h. der Übergabe der Strecke zwischen Sokolniki und Dworez Sowjetow (heute Kropotkinskaja), einschließlich des Abzweigs zum Smolensker Platz. Die in sieben Kapitel thematisch und chronologisch untergliederte Studie enthält neben einer Unmenge akribisch zusammengetragener und erklärter technischer Details ausgesprochen interessante Abhandlungen über die Herkunft, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Metrobauer (Kapitel 3), ihre Lebenswelten und Verhaltensweisen (Kapitel 4), die zur Anwendung gebrachten sozialistischen Arbeitsformen, die Erziehung und Freizeitgestaltung (Kapitel 5), die Machtausübung und die politische Kontrolle auf den unteren Ebenen (Kapitel 6) und den Metrobau als Symbol des Aufbruchs in eine bessere Zukunft (Kapitel 7). Darauf folgt die Zusammenfassung sowie ein ausführlicher Anhang der u.a. ein Personenregister, ein topographisches Register und ein Sachregister enthält.

Sowohl der technisch interessierte Leser als auch derjenige, der sich für die Sozialgeschichte der Sowjetunion interessiert, wird Neutatz' Geschichte der Moskauer Metro mit Gewinn lesen. Unter dem letztgenannten Aspekt ist es ein mit den Abhandlungen von Stephen Kotkin über die Magnitka (Magnetic Mountain) bzw. Sergej Shurawljow über das Moskauer Elektrokombinat (Elektrosawod) vergleichbares Buch.

Neutatz stimmt zu, daß Kotkins Konzept "wertvolle Anstöße" gibt, kritisiert aber, daß es "einen Schritt hinter die sozialwissenschaftliche Forschung zurückgeht, als es in der Bevölkerung -ähnlich wie früher die Totalitarismustheorie - nur reagierende Wesen sieht, die sich den vorgegebenen Regeln anpassen, aber selbst nicht aktiv werden" (S. 244). Neutatz stützt sich in seinem Buch auf Interviews (einige hundert Stenogramme), die in den Jahren 1934/35 im Rahmen des den Bau der Metro begleitenden Projekts "Geschichte der Metro" angefertigt wurden (S. 247). Sie weisen trotz der Konstrukte und Stereotypen eine "individuelle Dimension" auf und enthalten "konkrete Detailinformationen, an deren Realitätsgehalt zu zweifeln im Normalfall kein Anlaß besteht" (S. 248).

In diesem Zusammenhang sind die darauffolgenden Bemerkungen zu den Konflikten zwischen den Komsomolzen und den "alten Arbeitern" sowie die Ausführungen über "Beschwerden und Kritik im offiziellen Rahmen", zu dem die Betriebszeitung gehört, interessant. Neutatz gibt einen plausiblen Erklärungsansatz für die Radikalität und Gewaltbereitschaft des stalinistischen Systems und spricht in diesem Zusammenhang von dessen "Trägern und Mitmachern" (S. 324). Widerstand hat es nicht gegeben, aber Beispiele für Protest oder Widersetzlichkeit können benannt werden. Das Thema der "Mitmachgesellschaft" wird in der Zusammenfassung wieder aufgegriffen.

Abschließend wendet sich Neutatz den ständig präsenten "Strukturen im Hintergrund" zu. Die Losung "Genosse Kaganowitsch hat die Metro gebaut, wir haben nur geholfen", bringt den Inhalt auf den Punkt. Nach den Motiven für das Handeln der Metrobauer ist nunmehr von den äußeren Zwängen die Rede. Einerseits wird davon gesprochen, daß Kaganowitschs Führungsstil 1934 sich als äußerst effektiv (S. 477) erwies, anderseits wird konstatiert, daß Kaganowitsch sich dem Aktionismus der Baustelle anpaßte (S. 479). Beides muß sich nicht ausschließen. Die effektive und totale Kontrolle der Partei ließ keinen Spielraum für Abweichungen zu - faßt Neutatz mit Blick auf die Architektur und Gestaltung der Untergrundbahn zusammen (S.507).

Wer sich durch das Feuerwerk der interessanten Details bis zum Ende durchgearbeitet hat, wird nicht umhinkommen, zurückzublättern, nachzuschlagen. Denn der "Bruch" zwischen den Kapiteln IV: "Lebenswelten und Verhaltensweisen der Metrobauer" und VI: "Die Strukturen im Hintergrund. Machtausübung und politische Kontrolle auf den unteren Ebenen" ist spürbar. Diese Spannung sollte als produktiv verstanden und weiter diskutiert werden.

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