C. Claußen: Versammlung, Gemeinde, Synagoge

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Titel
Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden


Autor(en)
Claußen, Carsten
Reihe
Studien zur Umwelt des Neuen Testaments 27
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Omerzu, Fachbereich Evangelische Theologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Carsten Claußen widmet sich in der vorliegenden Untersuchung, einer Münchener Dissertation aus dem Jahr 1999, dem Hintergrund frühchristlicher Gemeindeordnungen. Obwohl er durchaus antike Vereine, heidnische Kulte oder philosophische Schulen als mögliche weitere Einflussfaktoren im Blick hat (so z.B. S. 17; 310), ist der Ausgangspunkt der Entwicklung und Organisation urchristlicher Gemeinden seiner Ansicht nach hauptsächlich im Umfeld der hellenistisch-jüdischen Synagoge zu suchen. Diese, deutlich vom lukanischen Geschichtswerk geprägte Sichtweise (vgl. S. 18, 306) bildet die Prämisse der gesamten Arbeit, wird aber nicht näher begründet (s.u.).

Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert. "Teil I: Einleitung" umfasst die Kapitel Einführung (S. 15-20), Forschungsgeschichte (S. 21-48) und Quellen (S. 49-81). Die Einführung steckt ein zeitliches wie geographisches Maximalprogramm ab, nämlich die "umfassende Darstellung der antiken jüdischen Synagogen in Palästina und in der Diaspora (des gesamten Mittelmeerraumes - H.O.) im 1. Jahrhundert n.Chr., jedoch unter Heranziehung relevanten Vergleichs- und Quellenmaterials aus dem Zeitraum vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis zum 6. Jahrhundert n.Chr." (S. 20). Der recht allgemein gehaltene Forschungsüberblick listet in weiten Teilen lediglich einschlägige archäologische Publikationen ohne nähere Würdigung auf (S. 21-30) und vermag insgesamt das Erfordernis einer neuerlichen Bearbeitung des Themas nicht angemessen zu rechtfertigen.

Dieser Eindruck wird nicht nur durch den expliziten Hinweis bestärkt, dass (lediglich) im deutschsprachigen Raum keine neuere monographische Untersuchung der antiken Synagogen vorliegt (S. 47) - aber sehr wohl im angelsächsischen Bereich; Claußen nennt hier allein drei Arbeiten aus den Jahren 1999/2000 (vgl. S. 47, Anm. 128) 1 -, sondern auch durch den Untersuchungsgang selbst bestätigt, insofern dort im Wesentlichen bereits publizierte Ergebnisse präsentiert und die jeweiligen Forschungsmeinungen diskutiert werden. Zwar ist sich Claußen hinsichtlich der separaten Einführung in die analysierten literarischen, epigraphischen und archäologischen Quellen in Kap. 3 der Gefahr der „Überschneidungen zu den thematischen Untersuchungen im eigentlichen Hauptteil“ (S. 51) bewusst, kann diese jedoch nicht vermeiden.

Der umfangreichste Abschnitt, "Teil II: Die Antiken Synagogen", behandelt die geographische Verbreitung (Kap. 4: S. 83-112), die Terminologie (Kap. 5: S. 113-150), die Ursprünge (Kap. 6: S. 151-165), Architektur (Kap. 7: S. 166-208) und Funktionen (Kap. 8: S. 209-223) der Synagoge, ihre Rechtslage und -praxis (Kap. 9: S. 224-255) sowie ihre Ämter (Kap. 10: S. 256-293) und schließt mit einem Resümee (S. 294-304).

Von den 66 epigraphisch, papyrologisch und teilweise auch archäologisch nachgewiesenen Diasporasynagogen geht Claußen auf diejenigen in Ägypten, Syrien, Kleinasien und Rom näher ein (S. 85-94; S. 98-111). Für Palästina beschränkt er sich hier zunächst auf Jerusalem (S. 94-98), obwohl von dort (anders als etwa in Bezug auf Masada, Herodion und Gamla) keine archäologischen Überreste von Synagogengebäuden aus der Zeit des Zweiten Tempels vorliegen (S. 94); er bezieht sich daher hauptsächlich auf die (in ihrer Datierung äußerst umstrittene!) Theodotus-Inschrift (vgl. auch S. 186-191), auf die lukanischen Angaben in der Apostelgeschichte und auf rabbinische Quellen. Der heuristische Gewinn dieses Überblicks ist unklar, eine Verbindung etwa mit der Erfassung der architektonischen Merkmale in Kap. 7 hätte sicher manche Redundanz vermieden.

Der anschließende terminologische Durchgang in Kap. 5 zeigt, dass in der (vor allem ägyptischen) Diaspora der Versammlungsort ursprünglich als proseuche benannt wurde, die Gemeinde aber als synagoge, wodurch in Palästina im Gegenteil das Gebäude bezeichnet wurde. Dieser Begriff habe mit der Zeit auch den Gebrauch in der Diaspora geprägt, worin sich der wachsende Einfluß des palästinischen Judentums auf die Juden im gesamten Reich seit der hasmonäischen Zeit widerspiegele (so im Anschluß an Hengel, 2 vgl. S. 128). Weitere Bezeichnungen wie z.B. amphitheatron, didaskaleion, hieron oder sabbateion weisen auf die spezielle Architektur und Nutzung der Synagoge, auf die besondere Würde des Ortes, aber auch auf den Termin der Versammlung.

Die Ursprünge der Synagoge (Kap. 6) als Gemeindezentrum erkennt Claußen für den Raum Palästina im Anschluß an Lee I. Levine 3 in den "Räumlichkeiten in und um das Stadttor" (S. 157). Das wesentliche Defizit von Levines These, dass für das Stadttor keine außerbiblischen Belege für die in der Synagoge so zentrale Thoralesung vorliegen, wird zwar benannt, aber nicht weiter problematisiert. In der Diaspora (implizit wird dies wohl auch für Palästina vorausgesetzt; vgl. S. 164) seien besonders die religiösen Funktionen der Synagogengemeinden demgegenüber allmählich aus dem privaten Kontext der Unterweisung und Feier in der Familie hervorgegangen.

Hinsichtlich der archäologisch im 1. Jahrhundert n.Chr. in Palästina einigermaßen sicher nachweisbaren Synagogenfunde in Masada und Herodion weist Claußen in Kap. 7 zu Recht darauf hin, dass diese nicht "den Normalfall eines jüdischen Versammlungshauses aus der Zeit des Zweiten Tempels repräsentieren. Hier handelt es sich um zelotische Einrichtungen für Menschen, denen auf Grund des römischen Belagerungszustandes der Weg zum Jerusalemer Tempel versperrt war" (S. 177). Unter einen entsprechenden Vorbehalt kann m.E. auch die Synagoge in Gamla gestellt werden. Die meisten anderen Funde in Israel sind entweder noch nicht sicher identifiziert oder nicht exakt datierbar (diskutiert werden Qumran, Kafarnaum, Chorazin, Magdala, Shuafat, Qiryat Sefer, Jericho).

Während Claußen daher bei ihrer Bewertung zu Recht Vorsicht an den Tag legt, ist die Einschätzung, die Datierung der im Jahr 1913 in Jerusalem am Berg Ophel entdeckten Theodotos-Inschrift (CIJ 1404) sei "mit großer Wahrscheinlichkeit für die Zeit vor 70 n.Chr. anzunehmen" (S. 191), angesichts der kontroversen Forschungsdiskussion (knapp skizziert S. 187, Anm. 127) äußerst optimistisch und nicht geeignet, wesentliche Teile der weiteren Argumentation (s.u. zur Funktion) darauf zu stützen. Problematisch ist z.B. allein, daß die Inschrift nicht in situ, sondern in einer Zisterne gefunden wurde (vgl. S. 187); auch die paläographische Einschätzung ist nicht so eindeutig, wie Claußen angibt.

Hinsichtlich der untersuchten Diasporasynagogen in Delos, Priene, Ostia, Stobi, Sardes und Dura-Europos ist festzuhalten, dass sie "mit Ausnahme der Synagoge von Ostia ... durch sekundäre Umwandlung ursprünglich privat oder anderweitig genutzter Räumlichkeiten entstanden" (S. 208), allerdings ist - abgesehen von Delos - erst ab dem 2./3. Jahrhundert n.Chr. eine Benutzung als Synagogengebäude nachweisbar! Ob sich deshalb aus den Umbaumaßnahmen so eindeutig der Schluss ziehen lässt, dass "Versammlungen in Privaträumen zu den Vorläufern offizieller Synagogengottesdienste gerechnet werden müssen" (S. 208), scheint mir fraglich. Wir wissen schlechterdings nicht, wo die Versammlungen zuvor stattgefunden haben.

Die Ausführungen zur Funktion der Synagoge in Kap. 8 sind in doppelter Hinsicht problematisch: Zum einen basieren sie maßgeblich auf der oben genannten Theodotos-Inschrift als differenziertester Quelle über die Nutzung antiker Synagogengebäude, "zur Illustration" (S. 209) ergänzt durch vornehmlich rabbinische Zeugnisse; zum anderen unterliegen sie der Gefahr des Zirkelschlusses hinsichtlich der Annahmen über die Ursprünge in Kap. 6, insofern die dort diskutierten Ableitungsmöglichkeiten ihrerseits die Kenntnis über die (spätere) Bedeutung der Synagogen voraussetzen, etwa der "große(n) Vielfalt von Funktionen [...] Synagogengebäude dienten neben den im neuzeitlichen Sinne religiösen Zwecken auch als Gericht, Schule oder Gasthaus und erfüllten allerlei soziale und ‚gemeinnützige' Bedürfnisse." (S. 222)

In Kap. 9 zu Rechtslage und -praxis wird vielfach eher die allgemeine Situation der Juden im Imperium Romanum als speziell die Frage der Synagogenorganisation in den Blick genommen. Gut arbeitet Claußen in diesem Zusammenhang jedoch heraus, daß trotz der den Juden vor allem durch Caesar und Augustus gewährten Privilegien die konkrete Situation vor Ort oft konfliktreich war und die Rechte häufig gegen den Widerstand der lokalen Behörden eingeklagt werden mussten. Jüdische Gemeinden besaßen nur im Ausnahmefall den Rechtsstatus eines politeuma, genossen zwar meist uneingeschränkte Versammlungsfreiheit, besaßen aber kaum die generelle Erlaubnis zum Bau eigener Synagogengebäude.

Hinsichtlich der Untersuchung der synagogalen Ämter in Kap. 10 urteilt Claußen im Laufe der Darstellung sehr viel vorsichtiger als in der Zusammenfassung. So wird z.B. zu den archisynagogoi festgehalten, dass diese "in den Inschriften vor allem als Stifter synagogaler Gebäude(-strukturen) und Honoratioren nach Art eines Patrons bezeugt sind. Dabei scheint eine gewisse Tendenz zum titular-ehrenhaften dieser Bezeichnungen durchzuschimmern, wenngleich damit funktionale Aspekte nicht ausgeschlossen sind" (S. 260), wie vor allem der neutestamentliche Gebrauch zeige, während der Titel bei Philo und Josephus ganz fehle. Im Resümee wird der archisynagogos dann jedoch zum "Leiter einer Synagogengemeinde schlechthin" (S. 303) erhoben. Hinsichtlich des presbyteros betont Claußen den allgemeinen Charakter des Titels, der ihn offen für christliche Rezeption gemacht habe, aber - so muss noch deutlicher betont werden - nicht notwendigerweise über das Institut der Synagoge vermittelt sein musste. Richtig ist als Gesamteindruck festgehalten, dass im 1. Jahrhundert n.Chr. "Titel und Gemeindeordnung ... noch nicht sonderlich verfestigt und ausdifferenziert waren" (S. 292). "Mit ausdifferenzierten Synagogalordnungen ist in großer Zahl und an vielen Orten erst im 3.-4. Jahrhundert n.Chr. zu rechnen." (S. 303)

Das Resümee benennt als wesentliche Ergebnisse der Untersuchung: "1. Die jüdischen Synagogen des 1. Jahrhunderts n.Chr. sind in ihrer weit überwiegenden Zahl als kleine Haussynagogen zu denken. Die jüdischen Versammlungen dieser Zeit wurden in Privathäusern abgehalten. 2. Größere Synagogengebäude sind zwar auch vor 70 n.Chr. sowohl für die Diaspora als auch für Israel eindeutig belegbar. Sie stellten jedoch quantitativ die Ausnahme dar. 3. Das frühe Christentum formierte sich ebenso wie das Judentum in kleinen Hausgemeinden im privaten Rahmen. Insofern erscheint es uns sehr wahrscheinlich, die jüdische Haussynagoge, wenn auch ohne ganz scharfe formale Abgrenzungsmöglichkeit zu Hausversammlungen der heidnischen Kulte, als konkretes Modell für christliche Hausgemeinden von Jerusalem bis Rom anzusehen." (S. 304)

Als Teil III schließt sich ein knapper "Ausblick auf die frühchristlichen Gemeinden" (S. 305-310) an, der am thematischen Aufbau von Teil II orientiert ist.

Hilfreich ist die Beigabe von 4 Tafeln mit Grundrissen der in Kap. 7 archäologisch untersuchten Synagogen (S. 310-314). Hieran schließt sich das Literaturverzeichnis (S. 315-351), ein Stellenregister (S. 352-364) sowie ein Sach- und Ortsregister (S. 365-368) an.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die These, (Privat-)Haussynagogen seien das Vorbild frühchristlicher Gemeinden, stärker e silentio erschlossen wird, als sich notwendig aus den Quellen ergibt. Vgl. z.B.: "Die sozial überwiegend ärmere jüdische Bevölkerung, z.B. in Rom und auf dem Lande in Kleinasien konnte sich sicherlich keinen großen Synagogenkomplex leisten. Ihre Treffen sind viel eher in Privaträumen oder -häusern einzelner Gemeindemitglieder denkbar." (S. 301) Trotz generellen Problembewusstseins im Umgang mit rabbinischen Quellen zieht Claußen doch häufig weitreichende (Analogie-)Schlüsse aus ihnen (vgl. z.B. S. 191, Anm. 155). Schließlich hätte m.E. die Fragestellung der Untersuchung präziser formuliert werden müssen, was auch eine Straffung der Darstellung ermöglicht hätte: Claußen ist entgegen wiederholter Auskunft weniger an der Erhellung des Vorbilds frühchristlicher Gemeindeordnungen (so. z.B. S. 17 u.ö.), als vielmehr an einem möglichst umfassenden Bild antiker Synagogen und deren möglicher Einflüsse auf Bildung, Funktion und Organisation urchristlicher Gemeinden interessiert. Gerade deshalb müsste jedoch die nichtjüdische Umwelt des antiken Judentums und des frühen Christentums stärker mitbedacht werden, zumal Claußen durchaus die vielfältigen und komplexen wechselseitigen Einflüsse paganer Organisationsformen auf das Judentum bewusst sind: "So gelangten Elemente des Vereinswesens möglicherweise schon über die Synagoge in die christliche Gemeindeordnung." (S. 310) Diese Einsicht stellt m.E. gerade den Ansatz, nicht den Schlusspunkt einer Untersuchung zur frühchristlichen Gemeindeordnung und -bildung dar.

In formaler Hinsicht ist abschließend anzumerken, dass die Darstellung zahlreiche Redundanzen enthält, die nicht nur durch den thematisch gefächerten Aufbau bedingt sind. So werden manche Quellentexte drei- und mehrmal eingeleitet und abgedruckt, teilweise mit abweichenden Angaben oder Belegstellen (vgl. z.B. zu Agarthachides von Knidos, bei Josephus, Contra Apionem 1,209: S. 120, 136, 211; zu der Stifterinschrift der Julia Severa aus Acmonia, MAMA VI 264; S. 102f., 140f., 257). Ärgerlich ist jedoch vor allem die große Zahl an Schreibfehlern, welche die gesamte Darstellung durchziehen und die Lektüre erheblich beeinträchtigen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fine, St. (Hg.), Jews, Christians and Polytheists in the Ancient Synagogue. Cultural Interaction During the Greco-Roman Period, London 1999; Binder, D. D., Into the Temple Courts. The Place of the Synagogues in the Second Temple Period (SBL.DS 169), Atlanta 1999; Levine, L. I., The Ancient Synagogue. The First Thousand Years, New Haven 2000.
2 Hengel, M., Proseuche und Synagoge. Jüdische Gemeinde, Gotteshaus und Gottesdienst in der Diaspora und in Palästina, in: ders., Judaica I, Tübingen 1996, S. 171-195.
3 Vgl. Levine, L. I., The Nature and Origin of the Palestinian Synagogue reconsidered, in: JBL 115/3 (1996), S. 425-448; vgl. auch Hoenig, S. B., The Ancient City-Square. The Forerunner of the Synagogue, in: ANRW II 19,1, Berlin 1979, S. 448-476.

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