W. Süß: Der „Volkskörper“ im Krieg

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Titel
Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945


Autor(en)
Süß, Winfried
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 65
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Vossen, Institut für Geschichte der Medizin im Zentrum für Human- und Gesundheitswissenschaften, Charité, Berlin

Die Forschungen zur NS-Gesundheitspolitik während des Zweiten Weltkriegs waren bisher auf einige spezielle Themenbereiche konzentriert, wobei die Untersuchung der nationalsozialistischen Krankenmorde einen zentralen Platz einnahm. Es ist das große Verdienst von Winfried Süß, im Rahmen seiner Münchener geschichtswissenschaftlichen Dissertation erstmals einen Gesamtüberblick über die Gesundheitspolitik dieser Jahre vorgelegt zu haben. Zwar kann auch er nicht die Gesamtthematik abhandeln, es gelingt ihm aber als erstem auf breiter Quellenbasis, zentrale Aspekte bislang verstreuter Einzelforschungen zu bündeln und die Ergebnisse zu einem konzisen Gesamtbild der Gesundheitspolitik dieser Zeitphase zusammenzuführen. Dabei hat Winfried Süß zahlreiche neu- bzw. wieder entdeckte Quellen auswerten und der Forschung zur Verfügung stellen können. Das Quellenverzeichnis weist nicht weniger als 32 besuchte Archive nach. Besondere Bedeutung auch im Rahmen einer Anregungsfunktion hat dabei sicher die breite Auswertung der Akten der Nürnberger Prozesse und der ihnen vorangegangenen Zeugenvernehmungen für die Gesundheitspolitik der Kriegsjahre.

1. Institutionen, Personen und Entscheidungsprozesse: Das „gesundheitspolitische Machtgefüge“ der NS-Gesundheitspolitik

Die Arbeit ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste Hauptteil analysiert das „gesundheitspolitische Machtgefüge“ (S. 41-178). Zunächst geht Süß auf die Apparate der staatlichen Gesundheitsbürokratie ein, wobei er das Reichsinnenministerium und seinen öffentlichen Gesundheitsdienst und das Reichsarbeitsministerium mit seinem Versorgungswesen und den medizinischen Diensten der Sozialversicherung heraushebt (S. 44-52). Anschließend wird auch das vielstimmige Gesundheitswesen der NSDAP von Süß beschrieben, dabei finden der NS-Ärztebund bzw. das Hauptamt für Volksgesundheit, das Gesundheitswesen der Deutschen Arbeitsfront und das Gesundheitswesen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt besondere Beachtung. Zusätzlich wird die für das NS-Gesundheitswesen der Kriegsjahre charakteristische und zunehmend bestimmende Position von Karl Brandt als Hitlers Bevollmächtigter, General- und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen umrissen (S. 76-94). Während die Vorkriegsjahre von einem permanenten Machtkampf zwischen dem staatlichen und dem parteiamtlichen Gesundheitswesen geprägt waren, paralysierte sich das Gesundheitssystem im Rahmen neuer polykratischer Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Conti und Ley, im Zweiten Weltkrieg schließlich selbst, so dass Hitler als ‚Moderator‘ für kriegswichtige Erfordernisse seinen bislang auf der nationalen Bühne völlig unbekannten Begleitarzt und Vertrauten Karl Brandt zum Sonderbevollmächtigten berief und ihn mit immer weiter reichenden Vollmachten ausstattete. Süß führt hier erstmals das Polykratie-Modell ein, das an vielen Stellen seiner Arbeit als Erklärungsrahmen für Entscheidungsabläufe in der Gesundheitspolitik dient. So hilfreich das Modell auch ist, es hat bei exzessiver Anwendung wie in der vorliegenden Arbeit den Nachteil, dass Auseinandersetzungen zwischen gesundheitspolitisch relevanten Akteuren oftmals übermäßig stark personalisiert erscheinen.

Der Analyse der für das von Süß behandelte Politikfeld relevanten Institutionen, ihrer Programmatik, ihrer Funktionen und Kompetenzen folgt eine Beschreibung der gesundheitspolitisch relevanten Funktionseliten sowohl des Reichsinnenministeriums (S. 95-126) wie des Parteiapparats der NSDAP (S. 111-126). Dazu hat Süß im Rahmen prosopografischer Untersuchungen Gruppenbiografien über die Medizinalbeamten der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums bzw. die Medizinaldezernenten der preußischen Regierungspräsidien sowie über die Gauamtsleiter des Hauptamtes für Volksgesundheit erarbeitet. Die biografischen Daten sind in einem nützlichen Anhang verfügbar (S. 459-480). Während sich bei den von Herkunft und Ausbildungsgang recht homogenen staatlichen Fachbeamten „fachliche Qualifikation, politische Selbstanpassung und auch aktive Kollaboration“ (S. 110) zu einem heterogenen und ambivalenten Bild vermischten, zeigt sich doch insgesamt bei Ihnen nach Süß „die Beharrungskraft akademisch geschulter bürokratischer Funktionseliten gegenüber politischen Umbrüchen auch in einem hochpolitisierten Bereich wie dem Gesundheitswesen“ (S. 110). Ihre Antipoden, die Gauamtsleiter des Hauptamtes für Volksgesundheit, waren dagegen eher kleinbürgerlicher Herkunft und wurden durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges politisiert, was sich meist auch in einer Mitwirkung bei Freikorps äußerte. Sie traten in aller Regel deutlich vor 1933 der NSDAP bei, konnten sich ab 1933 als Multifunktionäre im Rahmen von Personalunionen mit Staatsämtern teilweise bereits als regionale Funktionselite profilieren, erreichten ihre maximale politische Bedeutung aber erst im Zweiten Weltkrieg, in dem nach Süß – als wichtiges Ergebnis seiner Forschungen – besonders ab 1942/43 eine zunehmende Regionalisierung gesundheitspolitischer Entscheidungsprozesse stattgefunden hat, bei deren Steuerung die Gauamtsleiter als „Gaugesundheitsführer“ eine entscheidende Rolle spielten.

Neben der Vorstellung der relevanten Institutionen und Personen zeichnet Süß in seinem ersten Hauptteil an drei Beispielen zentrale gesundheitspolitische Entscheidungsabläufe nach. Bei seiner Fallstudie über den „Stopp der ‚Aktion T 4‘ im Kontext kirchlicher Proteste“ (S. 127-150) führt er den Nachweis, dass die Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen gegen die „Verlegungen“ von Psychiatriepatientinnen und -patienten der Auslöser für den Befehl Hitlers zum Abbruch der zentralen Krankenmordaktion waren, wobei aber natürlich die Rahmenbedingungen des beginnenden Krieges gegen die Sowjetunion, in dem an der „Heimatfront“ keine Beunruhigung erwünscht war, eine mitentscheidende Rolle spielten. Diese Fallstudie beeindruckt durch souveräne Quellenkenntnis und eine präzise Rekonstruktion der Entscheidungsabläufe der handelnden Akteure und stellt zweifellos einen der Höhepunkte des Buches dar. Während die „Auseinandersetzungen über das Gesundheitswerk des Deutschen Volkes“ den zentralen polykratischen Konflikt der frühen Kriegsjahre umreißen (S. 151-160), erläutert das nächste Kapitel die Entstehung der „Führererlasse“ vom 28.7.1942, 5.9.1943 und 25.8.1944, mit deren Hilfe Karl Brandt zur bestimmenden Figur des deutschen Gesundheitswesens in der Kriegsphase aufstieg (S. 160-168).

2. Gesundheitspolitische Probleme der Kriegsgesellschaft

Süß‘ zweiter Hauptteil über „gesundheitspolitische Probleme der Kriegsgesellschaft“ (S. 179-404) stellt zweifellos den eigentlichen Schwerpunkt des Buches dar. Nach dem Vorspann über die gesundheitspolitisch relevanten Institutionen und Personen sowie über typische Entscheidungsabläufe werden in ihm zentrale gesundheitspolitische Handlungsfelder der Kriegszeit behandelt. Dabei wird beansprucht, „nicht bei einer Programmgeschichte stehenzubleiben“ (S. 13). Süß‘ Untersuchung will darüber hinaus auch „der Implementation und den sozialgeschichtlichen Wirkungen gesundheitspolitischer Maßnahmen“ (S. 13) nachgehen. Dazu werden regional- und lokalhistorische Detailuntersuchungen angekündigt.

Süß beschäftigt sich zunächst mit der Organisation und mit Ressourcenfragen im Gesundheitswesen (S. 181-212). Dabei wird deutlich, dass die deutsche Gesundheitspolitik auf einen langen Krieg erstaunlich schlecht vorbereitet war. Die Kriegsvorbereitungen konzentrierten sich auf die Sicherstellung des medizinischen Bedarfs der Streitkräfte, die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung wurden hintangestellt. Durch die Anforderungen der Wehrmacht sank der Anteil der für das zivile Gesundheitswesen verfügbaren Ärzte, Arzneimittel und Krankenhausbetten drastisch, die Zahl der im zivilen Sektor noch tätigen Mediziner verringerte sich beispielsweise auf ca. 60% des Vorkriegsstandes (S. 192). Vor allem fehlte es an einer zentralen Steuerungsinstanz für das Gesundheitswesen, da sich der Reichsgesundheitsführer Conti und die ihm unterstehende zivile Medizinalverwaltung gegenüber den Anforderungen der Wehrmacht nicht durchsetzen konnte. Dies änderte sich zumindest partiell mit der Ernennung Brandts, durch die, wie Süß hervorhebt, zumindest im Bereich der Produktion pharmazeutischer Produkte „deutliche Effizienzgewinne“ (S. 186) zu verbuchen waren.

Die Frage nach der Organisation und Verteilung medizinischer Ressourcen unter den Bedingungen des selbst ausgelösten Krieges ist zweifellos eine der Schlüsselfragen des gesamten Buches, die in mehreren Kapiteln immer wieder berührt wird. Süß zeigt in detaillierten Fallstudien, wie der strategische Luftkrieg ab 1943 die medizinische Infrastruktur in den Städten zunehmend zerstörte (S. 269-291). Er macht in beklemmender Weise deutlich, wie das gesamte Gesundheitssystem zunehmend auf die Erfordernisse der Kriegführung orientiert wurde. Die Einbeziehung möglichst breiter Bevölkerungsgruppen in den Arbeitseinsatz und der „Kampf gegen die Flucht in die Krankheit“ durch Ausbau des vertrauensärztlichen Dienstes und eine die Bevölkerung kontrollierende „Gesundheitsführung“ im Betrieb wurde ein zentrales Aktionsfeld von Gesundheitspolitik im Krieg (S. 242-268). Am Beispiel der Maßnahmen gegen die „Kriegsseuche“ Fleckfieber in den besetzten polnischen und russischen Gebieten (S. 223-241) arbeitet Süß heraus, dass der unterschiedlichen Behandlung der Erkrankten im Rahmen der Fleckfieber-Bekämpfung „eine rassistisch strukturierte, scharf differenzierte Wert- bzw. Unwerthierarchie zugrunde lag.“ (S. 230) Aber die Werthierarchien betrafen je länger der Krieg dauerte nicht nur die Bevölkerung in den besetzten Gebieten, sie sind vielmehr nach Süß als sozialgeschichtlicher Basisprozess der Kriegsjahre generell anzusehen. Unter den Bedingungen des immer länger dauernden Krieges und den damit verbundenen Ressourcenproblemen wurde schließlich ein „Verdrängungswettbewerb“ (S. 409) in Gang gesetzt, „bei dem – idealtypisch gesprochen – Wehrfähige die Zivilkranken, potentiell Produktive die in der Kriegswirtschaft ‚Unverwertbaren’, und Sieche und Alterskranke die Psychiatriepatienten beiseite schoben“ (S. 409-410). Süß kann zeigen, dass diese Verdrängungsmechanismen die zweite regionalisierte Phase der Krankenmordaktion wesentlich geprägt haben, wobei er sich auf drei regionale Fallstudien aus dem Rheinland, aus Sachsen und Bayern stützt, die unterschiedliche Varianten der Mordpolitik repräsentieren (S. 311-369). Selten zuvor ist die utilitaristisch verbrämte Rationalität, mit der die Alten, Schwachen und Kranken im II. Weltkrieg einem imaginierten „Endsieg“ geopfert wurden, so eindringlich dargestellt worden wie in diesem Buch.

Insgesamt ist Winfried Süß eine wichtige und weiterführende Darstellung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik im Zweiten Weltkrieg gelungen, wobei neben der enormen Quellenkenntnis vor allem die Syntheseleistung herausragt. Sein ebenso materialreiches wie analytisch dichtes Buch gibt eine Fülle von Anregungen für künftige Forschungen zur NS-Gesundheitspolitik im Zweiten Weltkrieg.

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